elfter Brief I Freundschaft

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"Liebste Elisabeth,

ich wurde aus diesem seltsamen kleinen Gefängnis an der Straßenecke endlich entlassen. Es heißt Krankenhaus, eine seltsame Erfindung und diese weiße Farbe kann einen wirklich in den Wahnsinn treiben! Gestern Nachmittag hatte ich auch eine kleine Unterredung mit Mister Edevan. Es war kurz bevor ich entlassen wurde, und als ich das erste Mal wieder draußen spazieren durfte. Es war schon der zweite Schnee im Jahr und in der komischen Kleidung, welche ich bekommen hatte, fror ich entsetzlich.

"Wie geht es Ihnen?", fragte mich Edevan. Seine Stimme klang genauso kalt wie die Umgebung, und es waren sicherlich Minusgrade draußen.

"Gut", antwortete ich. So wie immer. Ich hatte mir nur zufällig den Arm gebrochen und war beinahe gestorben, ansonsten ging es mir schließlich gut. Mir ging es immer gut.

"Was machen Sie denn in London, Mister Edevan?" Das interessierte mich wirklich, denn wenn ich gewusst hätte, dass er kommt, wäre ich schon früher oder vielleicht überhaupt nicht gesprungen. Besser als mir den Arm zu brechen, was höllisch wehtat.

"Meinen Cousin besuchen. Und Sie sollten Brücken in nächster Zeit lieber meiden." Er klang sehr ernst, vielleicht sogar besorgt, auch wenn ich nicht verstehen konnte, wieso. 

"Wieso? Ich gehe gerne auf Brücken spazieren"

Ich wusste nicht, wieso ich es auf einen Streit anlegte, aber ich tat es einfach. Ich liebte es seltsamerweise, mich mit ihm zu zanken. Streiten war immer die beste Art, die Menschen kennenzulernen.

"Sie wollten sich umbringen."

"Das ist auch meine Sache."

Mir war einfach nach einer Streiterei zumute, und Mister Edevan war der einzige Mensch, mit dem man ordentlich zanken konnte. Aber er war nicht sonderlich zu einer Diskussion aufgelegt und blickte nur nachdenklich in die Ferne, bis er wieder anfing zu sprechen.

"Sie erinnern mich sehr an meinen Bruder, Mister Relish. Er hieß auch James und war Ihnen furchtbar ähnlich."

Das verwunderte mich anfänglich etwas. Ich hatte zuvor nie etwas von einem Bruder gehört und es wunderte mich, dass er von seinem Bruder in der Vergangenheitsform sprach. Aber ich unterbrach ihn nicht. Es war wirklich interessant, etwas über ihn zu erfahren, wo er doch meist so kalt und unnahbar wirkte. 

"James war ein Jahr älter als ich, wenn auch nicht so großwüchsig. Er war der wohl klügste Junge der ganzen Schule und der beste Erbe, welchen sich Vater nur wünschen konnte. Er begriff alles und war trotzdem nicht abgehoben. Er kam mit den Leuten aus, auch wenn er so manchen mit vorlauten Worten vor den Kopf stieß. Er liebte es zu lernen und gleichzeitig liebte er es, Zeit mit anderen zu verbringen. Er war der wohl mutigste Junge weit und breit und auf sein Wort konnte man zählen. Und auch wenn er so perfekt war und alle sich um seine Freundschaft rissen, war er immer für mich da, das Gespenst, welches nichts perfekt auf die Reihe bekam. Nicht einmal der große Reichtum, welcher nur auf ihn wartete, verdarb ihn. Immer war er perfekt, nie ließ er sich Schwäche anmerken."

Mister Edevan schluckte. Seine grauen Augen blickten nachdenklich in die Ferne. Ein paar Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war seltsam, dass er so emotional war. 

"Er war Ihnen wirklich wie einem Spiegelbild gleich, nur dass er ein zukünftiger Millionär war. Mit einundzwanzig verliebte er sich und stand kurz vor der Hochzeit, als seine Verlobte zu ihren kranken Eltern fahren musste und das Flugzeug abstürzte. Ich nahm die Lage nicht so ernst, wie ich sie nehmen sollte. Man muss darüber hinwegkommen, so gut man nur kann. Aber er kam nicht darüber hinweg. Nie wieder, auch wenn es nach einiger Zeit so wirkte."

Wieder stockte Mister Edevan. Beinahe hätte ich einen Kommentar dazwischen geschleudert, doch so taktlos wollte ich noch nicht sein. Es schien ihm wirklich viel zu bedeuten, auch wenn ich nicht so viel wert darauf legte, mit einem eigebildeten Millionärssöhnchen verglichen zu werden. 

"Ich dachte, es sei alles in Ordnung, er versicherte es mir auch immer wieder. Alles schien perfekt, bis zu jenem Tag ... Egal. Auf jeden Fall ist mein Bruder tot und es gefällt mir nicht, wenn Sie dasselbe Schicksal trifft."

Ich fragte mich, was wohl dann geschah, aber wahrscheinlich erzählt er es mir irgendwann. Oder eben ich musste es selbst herausfinden. 

Es ist verwunderlich, dass er nicht will, dass ich sterbe, aber wenn ich seinem Bruder ähnlich bin. Ich frage mich bloß, wie er es mit solch einer nervigen Person aushalten konnte, ich meine, einer Person wie mir. Schließlich braucht man dafür Nerven wie aus Stahl. Aber das war seine Sache. 

„Sie können jeden Weg wählen, welchen Sie möchten. Geld steht Ihnen zu Verfügung wie Sie wünschen, nur wählen Sie nicht den Tod. Tod führt immer an denselben Punkt zurück, denken Sie daran, James."

Mister Edevans Worte hallen noch immer in meinem Kopf und ich bin immer noch am nachdenken. Wieso soll jemand wie Edevan jemanden wie mich als Bruder mögen, wo ich doch immer so unhöflich gewesen bin? Ich verstehe es immer noch nicht. Ich bin doch nur eine wahnsinnige Person, welche nichts bedeutet. Auf welche Weise auch immer, wird er mir langsam unheimlich.

Auf Wiedersehen und die nächsten Briefe bleiben dir nun auch erhalten. 

Dein 

James" 

James legte den Brief nieder und legte sich in seinem neuen Bett in einem Hotel in London hin. Er war müde und immer noch verwundert. James Edevan? Eigentlich keine schlechte Idee, dachte er sich. Und mit diesem Gedanken schlief er ein. 

 

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