vierundzwanzigster Brief I James Edevan

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"Liebe Elisabeth, 

nachdem ich in Darcys Augen unfreiwillig den Platz von James Edevan eingenommen habe, wäre es für dich vielleicht recht interessant, dessen Geschichte zu erfahren. 

Alles in allem erklärt der Tagebucheintrag darüber so Einiges, obwohl ich nicht gedacht hätte, dass ich noch viel über ihn erfahren würde. Beinahe hätte ich die Seite damit zum dutzendsten Male übersehen, als ich bemerkte, wie zwei Seitenzahlen fehlten. Darcy dachte wohl, ein wenig Kleister an den Ecken würde seine Geheimnisse ein wenig mehr verstecken, doch so leicht lasse ich mich nicht täuschen. 

Würde man diese überaus tragische Geschichte von mir lesen, so würde es wohl jeder nur mit einem Nicken zur Kenntnis nehmen, doch aus Darcys Feder kommen einem beinahe die Tränen, egal, ob vor lachen oder vor weinen. 

"Ich kann nicht begreifen, wie solch etwas nur passieren konnte!  Es ist, als wäre alles zusammengebrochen. James ... er schien sich doch beruhigt zu haben! Er schien endlich einen Weg gefunden zu haben, sein Leben zu führen. Nach all dem, was ihn in den Abgrund der Verzweiflung geführt hatte, schien er endlich wieder zurück ins Leben gefunden haben. Und nun? Ich weiß nicht einmal, welche Worte es treffen würden. Es war vorbei. James war fort. Für immer und ewig. Und ich war nicht da gewesen, obwohl ich ihn hätte beschützen müssen. Ich hatte zum tausendsten Mal seinen Lügen glauben geschenkt, auch wenn sie niemals ein Fünkchen der Wahrheit in sich trugen. Dabei hätte er doch nun ein normales Leben führen können! Nach all den verschwendeten Jahren hätte er wieder zurückfinden können, zurückfinden müssen. Es hätte perfekt werden müssen ... Hätte er nur niemals Miranda kennengelernt. Wieso sie? Wieso nur? Wieso hatte sie ihn mit in den Abgrund gerissen? 

Wer war bloß Miranda? Es war wohl die erste Frage, welche mir während dem Lesen eingefallen war. Niemals hatte Darcy diesen Namen auch nur erwähnt. 

Miranda ... Ich würde ihr so gerne die Schuld für alles geben. Sie für alle Ewigkeiten verfluchen, dass sie mir James genommen hatte. Doch es kann niemals die Wahrheit sein, wenn man jemandem die Schuld dafür gibt, dass er starb und zerbrochene Menschen hinter sich ließ. Nein. So gerne ich ihr auch die Schuld an einem Tod anlasten würde, nur um endlich Antworten zu haben, so konnte ich es dennoch nicht tun. Ich wünschte es mir, aber es war mir nicht möglich. Das Wieso verschwand jedoch nicht und sicher würde es das auch niemals. 

Tagein, tagaus war sie der Sonnenschein in seinem Leben. Sie war die Sonne, um welche er sich drehte, so wie er der Mond war, welcher nicht von sich aus leuchten wollte. Und nach ihrem Tod gab es nur noch ihn und die Dunkelheit. Nichts, das man hätte tun können. Denn auch Freundschaft kann Liebe nicht ersetzen. Nicht einmal Familie kann das, obwohl ich mir immer noch sicher bin, ich hätte mehr für ihn tun können. Viel mehr. Doch wie immer hatte ich kläglich versagt. 

Wieso aber konnte nicht alles bleiben, wie es war? Es ist töricht, etwas im Nachhinein ändern zu wollen, ich weiß. Dennoch wünschte wie auch wünsche ich mir nichts sehnlicher als das. Denn das Ende, welches er sich selbst gefunden hatte, war durchaus nicht ... selbst dafür fehlen mir die Worte. Das Ende, welches hätte verhindert werden müssen. Doch nun wird er nie mehr zurückkehren, so sehr ich es mir auch wünschen mag. Niemals werde ich ihn wiederfinden. 

Er hatte doch jemanden wie seinen höchst sympathischen Bruder gefunden. Mich. Und um ehrlich zu sein, frage ich mich nicht mehr, was mit seinem Bruder geschehen ist. Wenn man mit Darcy verwandt ist, bleibt nichts als der Wahnsinn übrig. Oder eben der Tod. Wirklich ein Wunder, dass Darcy ihm nicht vorher alle Knochen gebrochen hat. Eine unaushaltbarere Person als ihn scheint es auf Erden schließlich nicht zu geben. 

Manchmal lächeln Menschen anscheinend, um die Fassade nicht bröckeln zu lassen. Er jedoch lächelte nie wieder. Und dennoch hatte er gelernt, seine Fassade zu wahren. Jeder Tag schien wie der letzte zu sein, doch damit begann für ihn nur einer mit der ewigen Qual des Lebens. Trotz allem ließ er sich niemals etwas anmerken. Leider kann ich es besser verstehen, als ich es jemals gewollt habe. 

Wenn er es nicht will, dann soll er es eben nicht verstehen! Also wirklich, dieser Mensch scheint sich dauernd selbst zu widersprechen. Auch wenn ich anfangs glaubte, hier auf den spannendsten Teil des Tagebuches zu stoßen, ist das hier einer der Langweiligsten. Du wärst oder eben bist sicherlich schon den Tränen nahe, jedoch kann dieses sinnlose Geschwätz mich nicht im Geringsten beeindrucken. Nicht einmal wie er gestorben ist, erfahren wir in diesen hunderten Sätzen. 

Die einzige Erfüllung, welche es für ihn noch gab, war Rache. Die Rache an alldem, was er für Mirandas Tod verantwortlich machte. Rache, welche den Menschen, welche ihm alles genommen hatten, alles nahm, sogar ihr Leben. Und dazwischen zählte nichts. Nicht der Tod, nicht die Verzweiflung. Solange, bis nur noch das übrig war. Bis nur noch der Tod die Welt erfüllte. 

Nur noch der Tod ...  

Es war nicht meine Absicht, derart tragisch zu sein und das durchnässte Papier macht wohl alles nicht besser. Jedoch scheinst du, liebes Tagebuch, nun als einziger übrig geblieben zu sein, von denen, mit welchen ich reden kann. Nur du, sonst niemand. 

Lieber Darcy, du kannst nicht mit deinem Tagebuch reden! Natürlich kannst du es, aber erstens tust du es nicht, sondern schreibst ihm nur und zweitens kann es dir nicht antworten, also ist es sinnlos. 

Wirklich, manchmal scheint er nicht ganz bei Sinnen zu sein. Insbesondere, wenn er in sein Tagebuch schreibt, welches, um ehrlich zu sein, schlechter als die grauenhafteste Idee ist. Ein Blick in dieses Buch und schont kennt man all seine seltsamen Geschichten und Gedanken. Ein Glück, dass nur ich es gefunden habe. 

Vielleicht war es falsch, seinen Tod zu verschleiern, denn dies scheint auch mich immer näher an den Abgrund der Verzweiflung zu treiben. Doch solch ein Skandal würde nur die Familie beschmutzen und somit das einzige, welches ich in meinem Leben zu wahren gelernt hatte. Man sollte die Schmach nicht mit Absicht auf sich ziehen. Auch so würden Gerüchte ihre Arbeit tun, ohne dass man diese unterstützen musste. Ein Verschwinden würde einfacher zu erklären zu sein als ein Tod. Vor allem einer, welcher nicht leicht zu erklären wäre. Die Menschen würden Fragen stellen, Tatsachen bezweifeln und vielleicht die Wahrheit erfahren. Nein, es reicht schon, dass ich weiß, zu was er zu Lebzeiten fähig gewesen war. Niemand würde sich damit abfinden, dass vieles nur ein Unfall war. Aus dem perfekten Erben der Familie Edevan würde durch all die Gerüchte nur noch jemand übrigbleiben, weshalb mehr einen Monster als ihm selbst glich. Selbst wenn ich bis zu meinem Tod lügen muss, wird niemand die Wahrheit erfahren. So kann ich ihn in meinem Herzen behalten, wie ich als Kind zu ihm aufgesehen habe. Ich wünsche mir, ich würde jemals solch einen Bruder, solch einen Freund wiederfinden. Ich wünsche mir, James käme zurück.

Dramatik gibt es wirklich reichlich in Darcys Leben. Doch dass der spannendste Teil seines Lebens, welchem zudem noch jegliche Spannung entzogen wurde, nur ein Hundertstels des gesamtes Buches einnimmt, ist enttäuschend. Ich meine, seine ellenlangen Beschreibungen normaler Situationen sind nicht einmal der Rede wert! Doch wenn er zu wirklich tragischen Dingen kommt, kann er nichts wirklich ausformulieren. Typisch. 

Ich muss los! 

In Liebe, 

Dein 

James" 

Tausende Gedanken drängelten sich in seinen Sinn, doch er ignorierte sie. Er tat, als würde er kein Wort von diesem Tagebuch verstehen, auch wenn er es längst tat. James Edevan hatte sich selbst umgebracht, dessen war er sich bewusst. Und all die Jahre lang hatte Darcy gelogen, was das anging. Er hatte gelogen, in der Hoffnung, ihn zu behalten, wie er einmal war. Aber nun war es, als wäre James zurückgekehrt. Endlich schien die Chance gekommen zu sein, das Schicksal noch einmal zu drehen. Dabei hatte Darcy vergessen, dass es nicht sein Leben war, welches hier hier ändern wollte. Er wünschte sich, dass seine Versuche, anderen zu helfen, ein einziges Mal Erfolg haben würden. Doch würde sich James auf ihn verlassen, oder würde sich das Ganze nur wiederholen? 

 Doch würde sich James auf ihn verlassen, oder würde sich das Ganze nur wiederholen? 

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