achter Brief I London

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"Liebe Elisabeth,

ich bin angekommen in London. Ich kenne sehr viele Meinungen über die Stadt, von zuhause fast nur schlechte. Ich persönlich hasse es hier. Ich wundere mich, dass es Menschen gibt, welche hier nicht ersticken. Außerdem ist hier alles von Menschen, Kutschen, Fabriken und streunenden Tieren überfüllt. Die Menschen hier sind fast alle eisig kalt. Wer nicht auf sich selbst aufpasst, landet einfach direkt vor einer Kutsche, weil jemand anderes zur Arbeit wollte. Immer geschieht etwas; diese Stadt scheint niemals stillzustehen. Es ist mir viel zu viel von allem. 

Heute war auch schon bei Edevans Cousin. Sie sind zwei völlig verschiedene Menschen, auch wenn sie, wenn auch nur durch einen Urgroßvater, Cousins sein sollen, was mir unmöglich scheint. Darcy Edevan und Henry Rymer sind so gegensätzlich, dass ich mir nicht einmal vorstellen kann, dass sie ohne sich ewig zu streiten miteinander auskommen könnten. 

Mister Rymer war bissig, eiskalt, berechnend, höhnisch und einfach nur böse. Diese Art von Mensch in London, welche andere auf die Straße schubst, weil sie etwas zu tun haben, wie eigentlich leider fast alle hier. Außerdem ist er furchtbar hässlich. Graues, ungewaschenes Haar, ein einfacher zerrupfter Anzug in schwarz, zerrupfte Stiefel und ein Beutel aus Leinen, wie ihn sonst nur Kinder nutzen. Die Art von Mensch, sowohl innerlich als auch äußerlich, welche ihre Unbeliebtheit nicht umsonst erhalten haben. Jetzt trägt er jedenfalls einen hübschen, teuren Anzug. Meinen Anzug. Dafür laufe ich jetzt in seinem zerfledderten, wofür ich viele mitfühlende Blicke von den Mitarbeitern erhalte, welche immer nur nach den Launen ihres Chefs rennen. Edevan hätte sich das sicherlich nicht gefallen lassen, aber er war nicht hier. Und das einzige, was die Menschenmenge meiner Kollegen gemeinsam hatten, war Angst. Wie man eine so große Angst vor einer so lächerlichen Person haben konnte, begriff und begreife ich nicht. 

Dank des Empfehlungsbriefes von Edevan habe ich eine Stelle bekommen. Natürlich ohne Geld, aber dafür mit einem Zimmer und einem Essen am Tag. Das Zimmer ist, wie ich es gewohnt bin. Eine Kammer mit einem Regal über dem Bett. Nur dass ich immer, wenn ich aus dem Zimmer komme, an zwanzig anderen kleinen Kammern vorbeimuss, welche nur durch Vorhänge voneinander getrennt sind. Beizeiten raubt mir das Schnarchen mancher Leute fast den Verstand. Auch das Geschrei ein Stockwerk über uns von Mister Rymer kann einen in den Wahnsinn treiben. Von den Straßen bekomme ich bei meinen Arbeitszeiten auch nicht viel zu sehen. Es scheint eine der ärmsten Städte überhaupt zu sein, auch wenn hier so viele reiche Menschen wohnen. Sonst würde niemand freiwillig in dieser Fabrik arbeiten. Die Arbeiter sind hier sehr nett, doch alle sind vollkommen von Rymer abhängig. Wenn einer nur einmal während der Arbeit zur Seite oder nach hinten schaut, wird er gefeuert. Wenn ich nicht in einer so katastrophalen Lage wäre, hätte ich einen Aufstand gemacht, aber so ... 

Erinnerst du dich noch an den Streik an der Universität in Waringtown? Welch ein Spaß war das, noch dazu mit Erfolg! Direktor Haddock hätte mich am liebsten als sein neustes Biologieexperiment vorgestellt, wenn er nicht so wenige Lehrer gehabt hätte. Er kam mit solch einer unglaublichen Wut aus der Universität gerannt. Doch ich hatte alle Lehrer überzeugt gehabt, niemand hatte an mir gezweifelt. Selbst du warst mitgekommen, auch wenn du es damals gehasst hast hinauszugehen. Nur Fenlin hatte zu ihm gehalten, der alte Schleimer. Doch zwei gegen die gesamte Schule, wie gerne hatten doch meine Studenten mitgemacht, war unmöglich. Er hatte schließlich unter Toben und Schreien nachgeben müssen. Das war so amüsant gewesen, Elisabeth, dass es wohl eine meiner liebsten Erinnerungen bleiben wird. Und dass, obwohl ich danach seine gesamte Gemeinheit zu spüren bekommen hatte, und zwar bei tausenden Gelegenheiten. 

Ein James Relish lässt sich niemals sagen, was er tun und lassen soll. Wie gerne würde ich das hier machen, aber erstens kann ich es nicht, und zweitens würde es ohne dich nicht halb so viel Spaß machen. Bei solchen Erinnerungen wird mir manchmal wehmütig und ich vermisse dich dann sehr. Nun, daran kann man wohl nichts mehr ändern ... 

Was vergangen ist, ist vergangen.  Wegen 'gewisser Arbeitskenntnis im Bereich von Chemie und jahrelanger guter Erfahrung damit' bin ich nun leitender Chemiker, wofür mich Edevan vorgeschlagen hatte. Ich weiß nicht, wieso er dachte, dass ich das könne, aber es war der einzige freie Platz, welcher eine Unterkunft inklusive Verpflegung versprach, jedenfalls für einen Bekannten von Edevan. 

Ich weiß nicht, wieso Rymer so wenig Wert auf die Meinung seines Cousins legt. Auch solch eine schlechte Entlohnung habe ich noch nie gesehen wie hier, aber ich muss mich wohl damit abfinden. Nicht einmal Technik, welche die Arbeit hätte erleichtern können, stellt er uns parat. 'Arbeiter verdienen keine komplexen Rechenmaschinen', wenn ich mich noch an seine Wortwahl erinnere. Dass er selbst in einem der äußerst seltenen Automobile fährt, welches viele Arbeiter schon beeindruckt, lässt schon von seinem Reichtum zeugen. Doch so sind Millionäre, immer nur ihre eigenen Ziele im Kopf. Ich hasse sie. 

Also bin ich jetzt in London, in einem kleinen Kämmerchen. Und ich schreibe dir, liebe Elisabeth, ohne die Hand vor den Augen zu sehen.

Ich hoffe, die Zeit hier geht schnell vorbei.

Bis bald, 

Dein 

James" 

James faltete, so gut er konnte, den Brief zusammen und steckte ihn in seine Tasche. Es gefiel ihm kein bisschen in dieser Firma und er wollte einfach nur weg. Es würde ihn bald an einen Punkt bringen, welchen er im Nachhinein bereuen wird. An einen Punkt, welcher nur durch Glück gerettet werden konnte ...

 An einen Punkt, welcher nur durch Glück gerettet werden konnte 

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