neunundvierzigster Brief I Die Hinrichtung

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"Liebste Elisabeth, 

ich weiß, ich sollte eigentlich tot sein. Dennoch schreibe ich dir, was mich immer noch sehr verwirrt. Ich kann das alles selbst nicht begreifen. 

Es ist jetzt kein Brief mehr, um dir etwas zu erzählen. Vielmehr denke ich, ich schreibe das alles, um es selbst zu verstehen. 

Die letzten Nächte in der Kammer waren, um es schlicht zu sagen, nicht sonderlich gemütlich. Haddock schien sich einen Scherz daraus zu machen, mich zu demütigen. Sein treuer Assistent Fenlin konnte es natürlich auch nicht lassen. Vor seinem Chef darf man schließlich niemals schlecht dastehen. Doch auch einige der netteren Kollegen wollten sich offensichtlich einschleimen. 

Vielleicht war es nicht nur eine "Heldentat", wie sie es nannten, um das "Monster" loszuwerden. Vielleicht auch eine kleine, private Rache für unseren Aufstand damals. Ich habe einfach nie in das System gepasst. 

Heute früh, noch vor Sonnenaufgang, schloss jemand meine Zelle auf. Im Dunkeln konnte ich nicht erkennen, wer es war, doch die Schlüssel klirrten wie Schüsse durch die Stille.

Ich zog meine Beine näher an den Körper und streckte meinen Rücken. Bequem war diese Haltung nicht gerade, aber es machte einen Stoß so gut wie unmöglich. In diesem Dreck würde sich auch niemand auf voller Länge hinlegen wollen. 

"Aufstehen!", schrie Haddock, wie ich die Stimme erkennte. Offenbar hatten ihm die letzten Tage nicht so viel Spaß bereitet, wie er gehofft hatte. 

"Wieso sollte ich mich von Ihnen kommandieren lassen?", konterte ich mit einer Frage. Ich hatte schon all die Jahre unter ihm nachgegeben, jedenfalls wenn ich es unbedingt musste. 

Quietschend schwang die Tür zurück und er zog mich in die Höhe. Seine dreckigen Fingernägel bohrten sich in meinen Unterarm und auch wenn ich mich mit meinem gesamten Gewicht daran hängte, so ließ er dennoch nicht los. 

"Nichts gelernt, James Relish? Sie mussten ihr Leben lang das Gegenteil von allem machen, Idiot. Und nun? Tja, wenn Ihr Kopf rollt, beginnt ein schöner Tag", fauchte er. Ich musste ihn wirklich in den Wahnsinn getrieben haben, wenn dieser faule Klotz sich die Mühe machte, mich charakterlich zu brechen. 

"Gelernt? Mehr als Sie, Haddock. Und wenn mit Holzköpfe die ihren Hintern nicht vom Stuhl erheben können, sagen, was ich tun soll, dann mache ich natürlich was ich will", entgegnete ich ihm. 

Voller Wut stieß er mich wieder von sich und ich fiel auf den Boden. Allein aus der Erinnerung an damals konnte ich sehen, wie sein Kopf rot anlief und er verzweifelt nach Worten suchte. Ich währenddessen suchte nach meiner Schachtel, welche ich fest an mich drückte. 

"Sie bereuen alles noch, James. Sie bereuen es!" 

"Werden wir hier ungehalten? Ich für meinen Teil bereue nur, Ihnen damals nicht meine Faust ins Gesicht geschmettert zu haben!", merkte ich an. 

Mit seiner ganzen Kraft zog er mich hoch, um mich noch einmal fallen zu lassen. Mein Kopf schlug an der Wand an und ich nahm alles nur noch etwas vernebelt war. Meine Finger um die Schatulle zu schlingen war schon kompliziert genug, weshalb ich mich nicht mehr auf ihn konzentrierte. 

Irgendwie musste ich zur großen Eingangshalle gekommen sein, denn dort wachte ich wieder auf. Haddock und sämtliche Professoren hatten sich an den Seiten versammelt. Blendendes Tageslicht schien durchs Fenster, sodass ich meine Augen erst Stück für Stück öffnen konnte. 

Es war wie auf der Abschlusszeremonie eines der Lehrkräfte. Nur dass ich nicht als Professor aufhörte, sondern mein Leben hier abgeschlossen werden sollte. Damit die Welt wieder ihren Frieden finden kann, wie sie es hier aufdrücken. 

Remember and forgetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt