zehnter Brief I Der Sprung

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"Liebe Elisabeth,

es ist unaushaltbar hier in London. Ich vermisse dich sehr. Da ich dir nun schreibe, kannst du davon ausgehen, dass es mir gut geht. Ich weiß nicht, ob ich dich gesehen hätte, wenn ich gestorben wäre, aber immerhin wäre es besser als hier. 

Es war vorgestern, ein kalter Wintermorgen, der erste verschneite Tag im Jahr, was du immer so sehr geliebt hast. Der Schnee begann vor den Fenstern zu fallen, es war etwa sieben oder acht Uhr, ich wollte nicht auf die Uhr sehen. Mister Rymer schickte mich die Post holen. Ich weiß nicht wieso, aber ich tat es. Ich sah kurz aus dem Gebäude und leise fiel die weiße Pracht auf den dunklen Boden und verdeckte die dunkle Seite Londons. London, eine Stadt, welche ich mittlerweile aus vollem Herzen hassen gelernt habe. 

Zwei Briefe kamen an, doch meine Augen waren so übermüdet, dass ich die Schrift nicht richtig lesen konnte. Kaum abgegeben, ging ich wieder in mein Büro zurück, um meiner Arbeit nachzugehen. Der Schnee fiel immer und immer mehr. 

Es ist exakt zwei Monate her, seit du nicht mehr bei mir bist. Ich weiß nicht annähernd, wieso mir das gerade einfällt, aber damals hat noch die Sonne geschienen und die Welt war perfekt gewesen, und jetzt geht diese dunkle Welt in dem alles versteckenden weißen Schnee unter. Doch nicht einmal er kann diese Dunkelheit in dieser oberflächlichen Stadt verschwinden lassen. 

Um Punkt neun Uhr, die Glückschläge der Kirchturmuhr gegenüber waren zu hören, verließ ich das Gebäude. Ich hielt es einfach nicht mehr aus. Ich war am Ende. Hilflos verloren in Formeln und Zahlen und der Vergangenheit, welche ich nicht hinter mir lassen konnte. Es war, als würde ich jetzt schon in ein tiefes Loch fallen, das nie zu enden schien. Es war hoffnungslos. 

Ich ging die Treppe zum Hof hinunter und lief die Straßen Londons entlang. Es war ein guter Tag, dachte ich mir. Ein guter Tag, um zu sterben. Ohne dich ergab nichts im Leben mehr einen Sinn. Allein der Gedanke daran, dich wiederzusehen, ließ mich immer weiterlaufen. 

Wer brauchte mich schon in dieser Welt? Und ich wiederum brauchte auch niemanden. In einer herzlosen Welt lernt man schnell, sich anzupassen. Oder man verlässt sie, was ich auch vorhatte. Ich wollte nur noch von diesem Schmach davonlaufen, welchen ich hier tagein, tagaus ertragen musste. Niemals habe ich jegliche Unterstützung von jemandem gebraucht und hatte dennoch immer mein Ziel erreicht. Ich ertrug es einfach nicht mehr. 

Diese Welt ist einfach grausam. Wir, die Armen, und somit für alle die Nichtsnutze, arbeiten meist unser ganzes Leben lang. Seltene haben jemals die Chance durch besondere Ideen oder eine gute Heirat in ein besseres Leben zu gelangen. Und der Rest? Zwanzig, vielleicht dreißig Jahre voller Arbeit und Kinder, welche denselben Weg einschlagen müssen. Und die Reichen sitzen dort, genießen den Luxus des Lebens. Sie nutzen Technik, welche uns niemals auch nur in die Hand gereicht wird und lassen andere für sich arbeiten. Automobile, moderne Rechenmaschinen, Flugzeuge - alles, was sich ein normaler Mensch nicht leisten kann. Wenn einer von ihnen stirbt, ist es ein Trauerfall. Wenn ein Dorf in Schutt und Asche zusammenfällt, ist es ein Glücksfall für die Menschheit, da man dadurch nur Gesindel loswird. 

Und ich, ich werde weder auf der einen, noch auf der anderen Seite anerkannt. Eine Lady Ferchjon heiraten - ein Traum. Doch als Kind eines Bauern und einer Fabrikarbeiterin geboren zu werden - ein Frevel. Auch dich habe ich traurigerweise in dieses Schlamassel hineingezogen. Dein Untergang. Wo du jetzt hättest leben können und mit einem ausgewählten Ehemann an deiner Seite die ganze Welt mit deinem Vermögen bereisen könntest. Ich habe dich ruiniert, und damit muss ich leben. Dabei habe ich immer nur das Beste für dich gewollt, doch ich konnte es dir nicht geben. Meinetwegen bist du nun im Himmel, nur meinetwegen. Und dabei hätte ich alles getan, um dich zu beschützen. Ich habe dich geliebt, liebe dich, und werde dich immer lieben. 

Remember and forgetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt