fünfter Brief I Kennenlernen

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"Liebe Elisabeth,

ich schreibe doch noch am Abend, weil mein letzter Brief so kurz war und ich das Dramatische sowieso erst morgen schildern wollte. Also fange ich lieber mit den sozusagen normalen Dingen an. Ich habe vergessen, dir die Personen hier zu beschreiben. Über Mister Edevan hast du wahrscheinlich schon genug gehört, aber nichts von den anderen auf unserer Etage, seltsame Leute, wenn ich ehrlich bin. 

Heute gegen Mittag hatte ich einen kleinen Plausch, das macht man hier anscheinend so unter vornehmen Menschen, mit Miss Dalory gehalten, Mister Edevans Sekretärin. Und als Belohnung, dass ihr endlich jemand in diesem Büro zuhört, nahm sie mir die Hälfte meiner Arbeit ab und zeigte mir, wie man auf dieser seltsamen Schreibmaschine tippt. Ich werde nie richtig Schreibmaschine lernen, aber das interessierte sie nicht sonderlich. Es sei angeblich eine Erfindung gegen unlesbare Schrift, auch wenn ich der Meinung bin, meine Schrift sei besser als die der Schreibmaschine. Miss Dalory ist im Grunde genommen eine nette alte Klatschtante, aber damit habe ich kein Problem. Sie scheint zudem die einzige hier zu sein, die noch ihre fünf Sinne beisammen hat. 

Miss Dalory ist etwa fünf Fuß groß, wiegt etwa zweihundertzehn Pfund, trägt ein rosarotes Kleid mit tausenden Rüschen überall und hat ihre weißen Haare zu einer sehr kunstvollen Hochsteckfrisur gesteckt. Außerdem tratscht sie gerne mit anderen Leuten über alles Mögliche, am liebsten über sich selbst. Ein wenig die Art alter, dementer Schreckschraube, aber auch liebeswert trotz ihres fortwährenden Geredes. Im Großen in Ganzen damit akzeptabel. Sie hebt sich wenigstens nicht ab und ein stolzes Alter, wie sie vorzuweisen hat, sollte man immer würdigen. Es haben immerhin nicht viele geschafft, die Seuche zu überleben. 

Das erste Mal traf ich sie heute auf dem Weg von der Toilette zu meinem Arbeitszimmer.

"Oh, guten Tag mein Herr. Wer sind Sie überhaupt?" 

"Mister ... Mister Ray. Edevans persönlicher Berater. Und Sie?"

„Mister Edevans Berater also. Welch eine Überraschung! Man hört schon so viel über Sie, aber außer Mister Edevan soll Sie hier noch niemand zu Gesicht bekommen haben. Wie abgemagert sind Sie denn? Wie schrecklich! Sie müssen mich unbedingt einmal bei einer meiner berühmt berüchtigten Teatimes besuchen! Das Jackett hängt ja richtig an Ihren Knochen! Sie müssen dringend vierzig Pfund zunehmen." Überzeugt von ihrer ersten Einschätzung von mir nickte sie sehr heftig mit dem Kopf. 

Sie scheint wirklich sehr oft mit dem Kopf zu nicken, jedenfalls in der Zeit, in der ich sie kenne, habe ich andere Menschen in ihrem ganzen Leben nicht so oft nicken sehen. Am Anfang irritierten mich auch die ständigen Bewegungen ihrer Hände, man kann sich allerdings daran gewöhnen. In dieser tristen Welt gibt es wirklich wenige so lebensfrohe Menschen, welche sich an allem und jedem erfreuen, da sind sie schon eine willkommene Abwechslung. 

"Oh nein! Ich habe völlig vergessen mich vorzustellen! Ich bin Dorothy Dalory. Lustiger Name, nicht? Den Namen gaben mir meine Eltern, weil sie die Kurzbezeichnung Doda einfach so lustig fanden! Ich finde es auch lustig, Sie? Selbstverständlich finden Sie es lustig, jeder findet es lustig!" Sie kicherte einmal, ließ mir aber keine Zeit zum Antworten.

"Also Sie können mich Dorothy oder Doda nennen, das finde ich einfacher. Findest du nicht auch? Ich rede einfach immer gerne, vermutlich, weil Mister Edevan kein Wort mehr mit mir wechseln will, weil ich jeden, mit dem ich anfange zu reden, einfach stundenlang vollquatsche! Ach, so bin ich einfach! Ich liebe es zu reden, aber mit einem Stapel Arbeit bin ich schneller fertig als zehn der schnellsten Arbeiter zusammen. Und Schreibmaschine tippen kann ich besser als jeder andere. Ich arbeite hier schon seit sechzig Jahren und einen Ersatz für mich gibt es nirgendwo! Und dadurch wird mich niemals jemand hier ersetzen können."

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