zweiter Brief I Begegnungen

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"Liebe Elisabeth, 

gestern hatte ich einen Plan gefasst. Das Letzte, was ich tun wollte, bevor ich diese Stadt nun für immer verlasse, auch wenn es schmerzlich ist.  

Ich weiß, dass du niemals mit mir über diesen Plan einig geworden wärst, aber das ist jetzt nun auch egal. Seit Fernsby dich mir genommen hat, zählt sowieso nichts. Heute war ich zum zweiten Mal auf dem Schloss, diesmal nicht, um irgendwelche Papiere zu holen. Eigentlich war ich dort, um mit Lord Fernsby zu reden, jedenfalls, bis alles eskalierte ... 

Ich ging zum zweiten Mal in das Schloss und lief schnurstracks in das obere Geschoss. Die Spuren meines letzten Besuches waren im gleichen Zustand vorzufinden. Die Scherben der zerschmetterten Vasen lagen unberührt auf dem Boden. All jenes, was von mir verschont blieb, wurde hingegen in Sicherheit gebracht. Die einzige Wache, welche sich dort befand, war trotz des enormen Lärmes immer noch nicht aufgewacht. Mir schien es überhaupt der einzige Diener im Haus zu sein, bei der Arbeit, welche er am vorigen Tag zu erledigen hatte, war es kein Wunder, wieso er nicht aufwachte. Es kam mir außerdem nur zugute. 

Die meisten Türen standen offen, nur zwei waren geschlossen. Da unser liebster Lord niemals so viel Geld für ein Türschloss nur für sich ausgeben würde, sondern nur für sein Geld, musste er sich wohl oder übel in den etwa dreißig anderen Räumen befinden. Ich stieß eine Tür nach der anderen, wenn sie sich überhaupt aufstießen ließen, so verrostet wie sie waren, mit beiden Händen auf, bis eine einzige Tür knarrend, aber auffallend leicht zurückschwang. 

"Lord Fernsby, nehme ich an", meinte ich mit einem bitterbösen Unterton beim Anblick der Person, welche ich auf dem alten zerfransten Sessel sah, welcher wohl vor zweihundert Jahren im Königsaal gestanden haben könnte, der aber jetzt, genauso wie sein Besitzer, nur noch ein altes, mit Gold verziertes Wrack war.  

"Wache!", brüllte der überhebliche Lord in seinem alten zerfledderten Mantel mit dem halb heruntergefallenen Pelzkragen. 

Es rührte sich nichts. Kein Wunder, wenn bei dem Krach gestern niemand etwas bemerkt hatte, dann bemerkte es auch jetzt niemand, erst recht nicht der übermüdete Diener. Diese Überheblichkeit widerte mich einfach an. Fernsby wusste, was er getan hatte, aber dennoch ärgerte er sich nur über mich. 

"Mir scheint, als würde niemand kommen." Ich lachte kurz und schlenderte dann durch den Raum. Meine Wut konnte ich nur mit dieser vorgetäuschten Fröhlichkeit überspielen, welche etwas Diabolisches an sich hatte. Doch mit jeder Minute würde der Hass in mir größer und größer und ich musste mich zwingen, nicht irgendetwas nach ihm zu werfen. 

"Was haben Sie hier zu suchen? Das ist mein Schloss, mein Geld und Sie haben hier nichts zu tun, Sie Widerling. Wer sind Sie, dass Sie sich erlauben, so mit mir zu reden? Sie sind ein Nichts, ein Niemand, so viel wert der Dreck unter meinen Füßen. Verschwinden Sie und nehmen Sie ihre abscheuliche Drecksvisage mit." 

Es war mir, als würde er langsam nervös, oder sogar ängstlich werden. Was für ein erbärmlicher  Mensch. Wie es scheint, gab ihm Geld wohl keine Sicherheit, auch wenn er damit Leben bezahlte. Nur unter Beschimpfungen konnte er sich verstecken. 

"Ich heiße Relish. James Relish. Der letzte Überlebende ihres hübschen kleinen Dorfes, an dessen Untergang Sie allein Schuld sind."

Etwas überheblich lief ich zu seinem Thron und stützte meine Hände auf seinen goldenen Armlehnen ab und sah dem Lord mit Hohn und Wut in die Augen, welcher nur noch ängstlich seinen Kopf einzog und sich bemühte seine Fassade zu wahren. Ich konnte ihm ansehen, wie sehr er sich seines Fehlers bewusst war, doch es war keine Reue. Es gab nicht, dass er wirklich bereute. 

"Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen ...", meinte er zögernd. In seinen Augen spiegelte sich pure Angst um sein Leben wieder, doch ich wollte, dass er sich fürchtete. Ich wünschte mir, dass ihn die Angst beinahe in den Wahnsinn trieb, so wie mich. Ich wollte, dass er litt. Doch nicht, dass ... 

Remember and forgetWo Geschichten leben. Entdecke jetzt