"Liebe Elisabeth,
hiermit schreibe ich dir schon den vierten Brief. Es sind schon wieder fünf Tage vergangen, seit ich das letzte Mal geschrieben habe, aber erst ist nichts, dann zu viel geschehen, um dir zu schreiben. Ich möchte dich wirklich nicht aufregen, Elisabeth, mir geht es gut. Und ich will dich keinesfalls mit meinen Problemen belasten. Erstmal erzähle ich dir lieber, wie mein erster Arbeitstag verlaufen ist bei Edevan Industries.
Ich bin um einiges früher zur Arbeit erschienen, weil ich dachte, ich müsse erst einmal den ellenlangen Weg nach oben laufen, aber Mister Edevan hatte mich schon am Eingang erwartet. Erst wollte ich einen geschmacklosen Scherz loslassen, um meine große Nervosität in dieser Gruppe von feinen Menschen mit teuren Anzügen zu überspielen, aber ich habe es mir doch verkniffen. Ist wahrscheinlich auch besser gewesen, da ich mir sonst einiges verscherzt hätte. Mein Humor entspricht leider in vielerlei Hinsicht nicht dem Geschmack der Mehrheit, auch wenn sie ihn sicherlich gut genug verstehen.
Mir schien, als würden nur sehr wenige von seinen dreitausend Angestellten in dem großen Gebäude arbeiten, denn nicht mehr als fünfhundert Menschen liefen durch das Tor, von denen mich einer mehr als der andere von oben herab anstarrte. Aber kaum dass Mister Edevan neben mich getreten war, huschten seltsamerweise alle nur noch kleinlaut zur Seite.
Danach quälte ich mich mal wieder, diesmal neben Mister Edevan, welcher es jedoch offenbar gewohnt war, gefühlt tausende Treppen und Flure auf und ab, bis wir an Mister Edevans Büro vorbeikamen. An der Tür daneben hing ein kleines Schild mit der Aufschrift.
"Persönlicher Berater von Mr D. Edevan"
Und darunter:
"Mr James Ray"
Es ist mein voller Ernst, Elisabeth, persönlicher Berater! Solch einen Beruf hatte ich noch nie. In diesem Moment konnte ich einfach nur fassungslos auf das kleine Schildchen starren. Beinahe glücklich war ich darüber, auch wenn mein Misstrauen immer noch nicht verschwunden war. Kein Mensch, der knapp einhundert Milliarden Pfund Sterling besitzt, würde jemandem, welchen er erst seit wenigen Stunden kennt, den zweitbesten Beruf in dessen Firma geben. Erst recht nicht umsonst. Irgendetwas steckte bestimmt dahinter, und das werde ich auch herausfinden.
Also führte mich Mister Edevan über die Gänge der dritten Etage. Es schien nur fünf Menschen zu geben, welche hier arbeiten, laut Mister Edevan. Er selbst, seine Sekretärin, sein Buchhalter, seine Frau und ich. Dafür, dass hier so wenige Menschen waren, gab es überraschend viele Zimmer. Fünfzehn, wenn ich mich recht erinnere. Und noch dazu war alles so schrecklich groß.
"Und hier sind Ihre Räumlichkeiten", meinte Mister Edevan.
Ein riesiger Raum mit braunem Schreibtisch, welcher nur mir gehörte, einem die ganze rechte Wand ausfüllenden Regal, hohem Sessel und komischen, geblümten Gardinen vor dem Fenster. Ich denke, meine Bewunderung für so große Sachen konnte ich wirklich schlecht zurückhalten, denn Mister Edevan begann über meinen Gesichtsausdruck zu schmunzeln. Es war schon absurd, dass ich solches Glück hatte. Früher hätte ich mich wahnsinnig darüber gefreut, doch nun ...
Ich weiß nicht, was für ihn als ein Arbeitszimmer gilt, aber für mich ist es, wie du weißt, ein kleiner dunkler Raum mit einem Tisch und einem Hocker und Massen von Papieren. Wozu braucht man auch mehr? Vielleicht ist es die Erziehung, welche mich immer wieder davon überredet, aber ich kann nicht anders.
Mister Edevan öffnete noch einen Raum daneben. "Ihr Schlafzimmer." Seine Stimme war ruhig, während meine hysterisch wurde.
"Wie bitte? Soll ich hier etwa noch in der Nacht arbeiten?" Ich wusste, dass es sehr unhöflich war, aber immerhin hatte ich ein hübsches Wäldchen am Stadtrand gefunden, wo man in Ruhe Briefe schreiben konnte und nicht bis in die Nacht arbeiten musste. Und ich hatte nie vorgehabt, vierundzwanzig Stunden lang meinen Dienst hier zu verrichten. Edevan war jedoch nur amüsiert.
"Sie müssen selbstverständlich nicht bis in die Nacht arbeiten, Relish. Geregelte Arbeitszeiten gehören dazu. Aber ich denke nicht, dass es einen guten Eindruck schindet, wenn ein Angestellter auf der Straße übernachtet, in solch einer Firma."
Da hatte er wahrscheinlich recht, so wenig es mir auch behagte, ihm zuzustimmen. Ich sah mich ein wenig im Zimmer um. So riesig wie das Arbeitszimmer war es nicht, aber in diesem komischen und noch dazu weichen Bett könnte ich nie im Leben einschlafen. Der Kleiderschrank war auch viel zu groß, für meine Verhältnisse, ich hatte nicht einmal etwas zum Hineinhängen.
"Ihre Arbeitsuniform hängt im Schrank", äußerte Mister Edevan, nachdem ich alles wie ein kleines Kind angesehen hatte. Ich öffnete den Schrank und fand einen der komischen, teuren Anzüge mit passender Seidenkrawatte. Angewidert verzog ich das Gesicht. So etwas würde doch kein vernünftiger Mensch tragen!
"Ich möchte Sie wirklich nicht kränken, aber das hier ziehe ich nie im Leben an." Ich war einfach nur ehrlich und Mister Edevan mir unheimlich.
"Sie ziehen es an. Oder wollen Sie etwa nicht mehr hier arbeiten?" Ich wollte hier arbeiten, also wechselte ich das Thema. Meine neue Arbeit sollte schließlich nicht an einem dieser seltsamen Kleidungsstücke scheitern. Vielleicht würde ich ihn noch überreden können.
"Und was habe ich zu erledigen?" Mein Tonfall war so gelangweilt wie immer, wenn ich arbeiten musste. Professor zu sein war schon anstrengend, aber ein persönlicher Berater hatte sicher mehr zu tun. Und sonderlich viel Interesse daran hatte ich nicht. Wieso auch? Es gab nichts, wofür ich noch kämpfen musste. In meiner Welt gab und gibt es nur noch mich und dafür muss man sich keine Mühe geben.
"Büroarbeit. Nicht sonderlich viel. Der erste Stapel liegt schon in Ihrem neuen Büro." Er lächelte wieder, was absolut nicht zu seinem strengen Auftreten passte. Allgemein wirkte er unheimlich nett, dafür, dass er mich nicht kannte und ich beizeiten etwas ruppig sein konnte.
"Dann auf Wiedersehen, Mister Edevan, wenn Sie gestatten, dass ich mich umziehe und mich an die Arbeit mache, Sir?"
Er verabschiedete sich ebenfalls und ließ mich den Rest des Tages allein. So fing also mein erster Arbeitstag an, liebe Elisabeth. Ziemlich langweilig eigentlich, so wie die darauffolgenden drei Tage, Arbeit über Arbeit, sonst meist nichts anderes. Ich war immer zu Arbeitsschluss mit meinen Stapeln auf dem Tisch fertig, morgens immer sehr müde. Wie eigentlich immer in meinem Leben, nur ohne dich, Elisabeth. Und ohne dich bedeutet mir nichts etwas.
Ich vermisse dich sehr. Deine wundervolle Stimme nicht mehr hören zu können, wie auch dein heiteres Lachen, wenn ich dir etwas erzähle, ist schmerzhaft. Ich hoffe, dass mir wenigstens eines Tages wieder zueinander finden. Denn du bleibst in meinem Herzen, egal, was auch passieren mag. Niemand wird deine Stelle jemals einnehmen und nichts wird mir die Erinnerung an dich zerstören können, meine Liebe.
Es ist schon spät, fast acht Uhr. Ich erzähle dir lieber morgen, was gestern geschah, damit du dich nicht zu sehr aufregst.
Auf Wiedersehen.
In Liebe
Dein
James"
James legte seinen Stift nieder und ließ sich auf dem großen Sessel zurücksinken. Es war besser als sein voriges Leben, wenn man von den Lebensumständen ausging, und dennoch war ihm dauernd, als würde etwas fehlen. Als würde etwas Wichtiges fehlen, was er jedoch nicht benennen konnte. Er war an einem fremden Ort gelandet, wie nie zuvor in seinem Leben.
Mit einem Seufzer erhob er sich, strich das Papier glatt und faltete es dann. Wie die Briefe zuvor tat er ihn nun unter in sein Kästchen im Kleiderschrank. Niemand sollte seine Briefe lesen, niemand. Und dabei würde es auch bleiben.
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Remember and forget
Mister / ThrillerAlles hat einen Anfang, sogar das Ende--- Als Elisabeth, James' Frau, durch einen Vulkanausbruch stirbt, ist er am Boden zerstört. Doch schon kurz danach erfährt er, dass Lord Fernsby von der drohenden Gefahr Bescheid wusste. Es kommt zum Streit und...