"Liebste Elisabeth,
Viele Grüße aus der Welt der noch Lebenden. Ich weiß, eine seltsame Ansprache, aber ich bin mir nicht sicher, wie lange ich sie hier noch vorbringen kann.
Ich vergaß, Frohe Weihnachten!
Ich bin immer noch in Pembroke, auch wenn es eine wirklich schlechte Idee ist hierzubleiben. Du fragst dich bestimmt schon wieder, was ich hier alles meine. Aber ich kann nur sagen, dass ich nun offiziell wieder James Relish bin und inoffiziell nicht mehr weiter weiß.
Alles fing an, als ich morgens aufwachte und mit dem Brief vor meinem Gesicht hochschreckte. Gegen Mitternacht musste ich wohl eingeschlafen sein und Weihnachten war schon überall zu erkennen, nur nicht in meinem Hotelzimmer mit den braunen Wänden und der schiefen Tür. Nein, Weihnachten war hier nicht. Und doch sollte man besonders zu dieser Festzeit besser sein als sonst im Jahr, was mir leider vermutlich mein Leben kostet.
Nichts hat sich geändert und doch alles, vielleicht noch viel mehr. Ich würde so gerne nach Newcastle zurückgehen, doch dafür ist es zu spät. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen.
Also ging ich heute um etwa sieben Uhr, oder jedenfalls beim ersten Morgengrauen, hinaus und klopfte dann an Darcys Tür ein Stockwerk weiter unten, doch er öffnete nicht. Mir war nicht klar, ob Absicht oder einfach ob er nur verschlafen hatte, aber ich entschloss mich, hinauszugehen und mein Glück alleine zu versuchen. Ich habe wirklich Talent für schlechte Ideen und diese war eine.
Also lief ich alle Etagen bis zum Erdgeschoss hinunter und durch die Halle auf den Hof. Dort blieb ich erst einige Zeit stehen und überlegte, was ich wohl tuen könnte. Doch noch bevor ich auf ein Ergebnis kam, lief ich einfach geradeaus, auf Zufall und Glück hoffend, so wie immer.
Irgendwann kam ich endlich bei Edevan Industries an. Das Gebäude, in welchem ich die letzten Tage verbracht habe und in dem erst noch alles wieder anfangen würde. Weshalb ich mich nicht sofort umgedreht habe, ist auch mir ein Rätsel.
Wie ich schon ahnen könnte, drang Lärm die Straße entlang. Mister Drehlan ließ seine Arbeiter also auch heute arbeiten. Und doch wurde er von halb Wales verehrt als der reichste Geschäftsmann hier. Und als der Erschaffer der niedrigsten Preise dieses Jahrhunderts.
Selbst an Weihnachten umstellten Journalisten den selbstgefälligen Mann. Viele Ideen schossen durch meinen Kopf. Doch keine von ihnen war brauchbar; sie waren zu brutal, nicht umsetzbar und so weiter. Dann spürte ich den kleinen Zettel in meiner Umhängetasche, der mir neue Selbstsicherheit gab. Ich konnte etwas tun - und doch war es das Riskanteste von allem.
Mit festen Schritten stampfte ich durch den Schnee die Fabrikstraße entlang. Kurz blieb ich am Tor stehen, wo eigentlich Wachen sein sollten, doch kein Mensch in Sichtweite. Drehlan hatte hier wirklich alles verändert. Ich schloss die Augen und beruhigte mich etwas, bis mein Herzschlag nicht mehr wie ein Presslufthammer ertönte, dann stapfte ich weiter. Ich drängelte mich an den Journalisten vorbei und stellte mich direkt vor Mister Drehlan, so dass ihm keine andere Wahl blieb, als mir direkt in die Augen zu sehen.
Seine Augenbrauen zogen sich zusammen doch er wartete, bis ich mich rührte. Ich tat es nicht.
„Sie wissen, dass Sie nicht der wahre Besitzer dieser Firma sind und dass eine Überschreibung nie stattgefunden hat", meinte ich, den Blick nicht von ihm wendend. Es war nicht ganz die Wahrheit, aber zum größten Teil. Und das ist immerhin mehr, als ich sonst erzähle.
„Verschwinden Sie", fauchte er leise. Seine Augen begannen zu funkeln und er rief lauter: „Würde irgendjemand diesen Lügner wegschaffen?"
Doch ich hatte schon das Interesse der Journalisten auf mich gezogen. Was wollte ich wohl machen? War etwas an den Vermutungen dran? Vielleicht würde es eine neue Schlagzeile geben? Ale hofften darauf und ich nutzte meine einmalige Chance.
„Woher wissen wir, dass Sie nicht der Lügner sind?". Ich sah ihn herausfordernd an. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Hinter mir begannen die Journalisten zu tuscheln. Sie hörten mir dennoch zu. Der Artikel war, egal ob meine Geschichte für sie wahr oder nicht wahr galt, es wert. Viele hatten sich leider nicht gesammelt, immerhin hatten sie zur Weihnachtszeit Besseres zu tun, doch ich hatte genug Zeugen für meine Worte.
„Sie haben einfach diese Firmen auf sich selbst überschrieben. Sie haben einfach den Besitzer enteignet. Mit welchem Recht? Sobald Mister Edevan zurückkommt, sind Sie ruiniert", meinte ich überheblich.
Ich rückte näher und Zorn erfüllte mich. Seine Finger zuckten leicht und die Nervosität war ihm leicht anzumerken. Dennoch wollte er sich nicht so schnell geschlagen geben.
„Reden Sie keinen Unsinn. Das wäre unmöglich. Jeder hier weiß, dass Edevan persönlich mir seine Firma überschrieben hat. Und bisher haben nur ein paar verrückte Obdachlose Anspruch darauf erhoben", konterte er geschickt, nachdem er sich gefangen hatte.
Ich wurde mittlerweile immer wütender. Er wusste genau, dass Edevan sich wieder gemeldet hatte. Und solange ich nicht eingreifen würde, würde es hier endlos in Ungerechtigkeit bleiben. Doch würde er sich an mich erinnern? Kannte er mein Geheimnis, welches selbst Veronica mit wenig Mühen herausfinden konnte?
„Meinen Sie wirklich? Nun, ich meine etwas anderes. Und haben Sie jeglichen Beweis für eine Überschreibung?", fragte ich.
Ich pokerte hoch. Ich pokerte um mehr, als ich jemals hatte oder jemals haben werde. Ich spielte wortwörtlich mit dem Feuer. Entweder wusste er, wer ich war und ich würde alles verlieren, oder ich würde alles für Darcy zurückgewinnen.
„Wer Sind Sie, dass Sie sich solche Anschuldigungen erlauben?" Triumphierend betrachtete er mich. Er wusste die Antwort genau, leider.
„Sie wissen es", gab ich zurück. Meine Stimme war längst nicht so selbstsicher wie am Anfang. Die Angst nahm mich wieder vollkommen in ihre Mitte und ich gab mich ihr hin. Es war das Letzte, was mir geblieben war.
„Ja. Sie sind James Relish. Der einzige Überlebende des Vulkanunglücks. Verdächtiger im Mordfall Fernsbys und dieses seltsamen Attentäters meiner Firma. Also, was erlauben Sie sich, hier aufzutauchen?", reagierte er mit Hochmut auf meine Antwort. Er richtete sich auf und seine Augen formten eine eindeutige Herausforderung, etwas zu sagen. Doch nun war alles zu Ende.
„Es bringt Ihnen trotzdem nichts. Wenn Darcy zurück ist, sind Sie ihr ganzes Geld los. Ihr kleine Rache eben wird nicht für ihre Verpflegung aufkommen. Selbst wenn Sie mich ausschalten lassen."
Blitzgewitter empfing mich, als ich mich umdrehte und zum Gehen bewegte. Ich sah mich schon als nächste Schlagzeile. In manchen Vorstellungen schon als Gehängten...
Wie geht es nun weiter? Ich weiß es nicht und genau das treibt mich in den Wahnsinn.
Dein dich für immer liebender
James Relish"
Immer mehr Tränen liefen ihm aus dem Augen, doch trotzdem machte sich mit der Verzweiflung auch Befreiung in ihm breit. Er brauchte nicht mehr zu lügen. Nie mehr. Doch würde jemand die Wahrheit erkannt werden oder würde mit den Lügen sein Leben enden?
Er konnte die Zeit nicht mehr zurückdrehen, und doch hoffte er darauf, dass sich das Blatt von Neuem wenden würde. Gab es noch eine Chance für ihn? Oder war nun alles zu Ende?
Manchmal bricht mit der letzten Lüge auf die Welt zusammen, wenn die Wahrheit erst wieder ihren Platz finden muss---
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Remember and forget
Misteri / ThrillerAlles hat einen Anfang, sogar das Ende--- Als Elisabeth, James' Frau, durch einen Vulkanausbruch stirbt, ist er am Boden zerstört. Doch schon kurz danach erfährt er, dass Lord Fernsby von der drohenden Gefahr Bescheid wusste. Es kommt zum Streit und...