"Liebe Elisabeth,
heute ist Guy Fawkes Day, weshalb ich wirklich schlecht geschlafen habe. Schon seit Wochen gibt es hier irgendwelche Veranstaltungen, deren Grund meist nur der Priester oder der Bürgermeister kennen. Manchmal denke ich wirklich, sinnlosere Feste als in England gibt es nirgendwo. Aber hier feiert man einfach alles, das einem nur einfällt.
Schon bis spät in den Abend gibt es dieses seltsame Feuerspektakel. In Wales gibt es so etwas nicht, zu recht, wie ich finde. Es ist einfach viel zu laut und zu grell, aber alle hier scheinen dieses Fest zu lieben. Sogar Fred Smith war mit seinen Kinder draußen, ein Mensch, welcher sich nur allzu selten aus dem Haus wagt, wenn es seine Arbeit nicht gerade verlangt.
Ich überlege, ob ich auch hinausgehen sollte, aber ich erschrecke mich bei plötzlichem Lärm einfach zu schnell. Die halbe Stadt ist draußen, ich habe schon fast jeden aus meinem Fenster heraus gesehen. Nur eine weitere Person ist weder draußen um diesen Lärm zu veranstalten, noch um den anderen zuzusehen. Veronica, ich meine, Mrs Dysentery.
Ich frage mich, wie es ihr wohl geht. Vermutlich gut, nur ihre so für sie typische Geschwätzigkeit hatte nachgelassen. Sie redet mit niemandem mehr, weil sie sich immer nur mit mir über lange Zeit unterhalten konnte. Manchmal vermisse ich es sogar, meine Teestunde verpassen zu müssen, doch mich will sie mit Sicherheit nicht sehen. Und ich glaube, es beruht zu einem großen Teil auf Gegenseitigkeit.
Ich denke mir gerade, ich sollte wirklich lieber herausgehen, als darüber nachzudenken, was geschehen war. Man kann schließlich nichts mehr ändern und es wird wahrscheinlich nie wieder so wie es war in Newcastle, aber jetzt kann ich wenigstens einige meiner Kollegen zu meinen Bekannten zählen.
Mit Adrian, welcher außerdem noch in unserem Zimmer wohnt, komme ich zwar nicht sonderlich gut klar, aber wenigstens mit Fred. Er ist höflich und wenn er erst Vertrauen gefasst hat, kann man stundenlang mit ihm reden. Außerdem ist er nicht so verkalkt, wie einige hier, auch wenn ich nicht gerade alle seiner Überzeugungen teile. Aber auch wenn er ahnt, dass ich nicht der durchschnittliche Mensch aus dem Dorf bin, fragt er nie nach. Ihn interessiert nicht, was die Leute ihm nicht von alleine erzählen und genauso habe ich aufgehört, ihm persönliche Fragen zu stellen. Das hier ist immerhin die Gegenwart, auch wenn ich immer noch sehr an der Vergangenheit hänge.
Außerdem gibt es noch einige gute Schüler hier, mehr als ich dachte, auch wenn viele von ihnen nicht annähernd so schnell lernen wie ich früher. Ophelia ist wirklich sehr gut, mit Sicherheit wird sie das Abitur als beste Schülerin bestehen. Und als einziges Mädchen. Aber jetzt ist klar, dass sie nach London auswandern wird, weil es hier einfach keine Arbeit für sie gibt. Viele akzeptieren nicht einmal, dass sie die Chance auf eine Karriere erhalten hat.
Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich in England so sehr zurechtfinden könnte. Wir in der Umgebung von Pembroke kannten wohl nur Witze darüber. Selbst wenn Mutter von hier ist. Nicht genau von hier, woher genau weiß ich auch nicht. Aber irgendwo aus dem Norden Englands. Ich glaube sie hat es nie gesagt und ich habe nie gefragt. Vielleicht, weil ich nie die Chance dazu hatte.
Mir fällt gerade auf, wie wenig ausgerechnet du über meine Familie weißt. Aber im Grunde genommen weiß ich auch kaum etwas. Mutter verstarb schon so früh, dass ich mich kaum an sie erinnere. Und Vater war fast nur auf dem Feld beim Arbeiten. Wenn ich mit ihm redete gab es nur zwei Themen - reiche Menschen und England. Eines verabscheute er wie das andere. Reiche Menschen sorgten für den Tod vieler seiner Verwandten und England für Mutters Tod, jedenfalls sagte er das immer. Das Einzige, was ich jemals von ihm lernen konnte.
Ich weiß nicht einmal, wie viele Geschwister ich jemals hatte. Albern, ich weiß. Aber außer Mary und William lernte ich niemanden kennen. Mary war ein wirklich liebes Mädchen, nur war sie eben kein Junge. Sie konnte nicht arbeiten wie Will und ich - selbst wenn sie es wollte. Und sonderlich hübsch war sie auch nicht, weshalb Vater nie einen Sinn darin sah, sie auf eine Hochzeit vorzubereiten. Was aus ihre wurde, nachdem sie verschwand, weiß ich nicht. Vielleicht lebt sie nun glücklich mit einem Bauern in einem kleinen Dorf - vielleicht starb sie aber auch auf ihrer Flucht von zuhause.
Will war genauso wie Vater. Immer bei der Arbeit und viel zu stolz um sich helfen zu lassen. Alle bewunderten ihn für seinen Mut und jedes Bauernmädchen hätte ihn mit Freude geheiratet. Er hielt sich immer an seine Arbeit, auch wenn er mich und Mary nicht unbedingt verurteilte. Im Gegenteil - Mary als kleine Feministin und ich als Bücherwurm hatten immer viel Freiheit. Vermutlich wären wir ihm beide nur zur Last gefallen, wenn es anders wäre.
Niemand hätte gedacht, dass ich der letzte Überbleibende der Familie Relish sein werde. Will und Vater sind, wie du weißt, letztendlich von Cholera dahingerafft worden. Und damit blieb nur ich übrig, wo man doch schon so viel Hoffnung in Will gesteckt hätte. Und nun bleibt keiner mehr übrig - nicht du, nicht ich. Nicht einmal Kinder. Llendylad, unser so geliebtes Dorf, ist tot.
Newcastle ist eine tolle Stadt, wenn auch anders, als ich von Anfang an dachte. Doch nichts wird mehr unser kleines Dörfchen am Rande von Pembroke ersetzen.
Auf Wiedersehen, meine liebe Elisabeth, ich gehe hinaus.
Viele liebe Grüße
Auf ewig
Dein
James"
Er legte den Brief auf dem Fensterbrett ab und zog seinen Mantel über, welcher über dem Stuhl hing. Tagein, tagaus saß er abends auf diesem Stuhl und beobachtete die Menschheit, ohne dass er bemerkt, wie er sich in Gedanken ihr immer mehr entfernte und ihr doch näherkam.
Für ihn war Newcastle sein Zuhause geworden und doch trauerte er immer noch seinem alten Leben nach. Er kam von der Frage nicht los, was geschehen wäre, wenn er Elisabeth nicht in sein Herz geschlossen hätte. Doch wenn er Elisabeth nun nicht gehen lassen wird, kann noch viel Schlimmeres geschehen...
Noch war es Herbst, doch bald würde der Winter beginnen. Und ob er diesen überleben würde, stand noch in den Sternen. Doch man weiß erst kurz vor dem Untergang, welcher Schritt ins Verderben führt---
![](https://img.wattpad.com/cover/295477789-288-k754520.jpg)
DU LIEST GERADE
Remember and forget
Mystery / ThrillerAlles hat einen Anfang, sogar das Ende--- Als Elisabeth, James' Frau, durch einen Vulkanausbruch stirbt, ist er am Boden zerstört. Doch schon kurz danach erfährt er, dass Lord Fernsby von der drohenden Gefahr Bescheid wusste. Es kommt zum Streit und...