Kapitel 35

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Harry Hook:

Ich warf einen Blick auf die Blätter. „Warte, einen Moment mal." Ich hechtete hinter ihm her und zog Carlos wieder zurück. Auf seinen bösen Blick hin ließ ich ihn sofort wieder los. „Das ist es also?" Ich schwenkte die Blätter, sah aber nicht noch mal auf die Zeichnungen und Worte, die ich vermutlich eh nicht verstehen würde. „Ja." Meine Stirn runzelt sich. „Was hat das mit Audrey zu tun?" Ich verstand es nicht. Hatte ihre Familie ein besonderes Unternehmen dafür, oder was? „Das fragst du am Besten Audrey. SIE kann dir da bestimmt besser helfen." Carlos sah mich aufgebracht an. „Was soll ich denn mit Audrey? Sie will ich doch gar nicht, sondern dich." Ups. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen. „Ja, also. Ja." Ich sah ihm kurz in die Augen, aber nur ganz kurz. „Wir sollten zum Abendessen gehen." sagte ich in die Stille hinein und hantierte mit den Blättern, die er mir gegeben hat. „Danke dafür. Aber kannst du mir das nicht erklären?" Ich wagte doch einen Blick dahin. Carlos war nicht verschwunden, er hatte nur geseufzt. 

„Lies es dir durch. Vorher kann man eh nichts erklären." sagte er als ich vorsichtig wieder den Blick zu ihm hob. „Okay." Ich nickte, aber Carlos drehte sich schon um und ging Richtung Abendessen. Obwohl ich noch verschwitzt vom Tanzen war folgte ich ihm. Ich stand zwei Plätze hinter ihm in der Schlange am Buffet als er fertig war mit Essen nehmen. Er setzte sich an den Tisch seiner Freunde. Er sah nicht nach mir. Ich griff mir noch ein Brötchen zum Apfel und verließ den Essensraum. Meine Beine führten mich schnellen Schrittes in mein Zimmer. Ich warf das Essen auf den Schreibtisch und setzte mich auf mein Bett. Ich hatte echt nicht damit gerechnet, dass es so sein würde. Ich fuhr mir durch die Haare. Wie sehr ich mich doch zu Carlos hingezogen fühlte. Mich angezogen fühlte, aber nicht konnte. Dass er in meiner Nähe war, aber ich nicht wusste, was ich ihm sagen sollte, aber trotzdem unbedingt seine Stimme hören wollte. Es haute mich noch mehr um, ihn zu sehen, als ich in Erinnerung gedacht hatte. Das tat weh. Es tat höllisch weh. Dieser minimale Abstand. Dieses... 

Es war mir nicht möglich ihn nicht einfach an mich zu ziehen und mit auf eine einsame Insel zu nehmen. Das konnte ich ihm nicht antun. Er wollte nicht angefasst werden, von niemandem. Er wollte mit keinem mehr zu tun haben. Er blockte seine Freunde wirklich ab. Sie versuchten es echt oft. Aber Carlos war... Carlos. Er war jetzt ein Einzelkämpfer. Zumindest wollte er das sein. Dass seine Freunde das anders sahen, hatte ich bereits mehrfach bemerkt. Das Kribbeln in meinen Finger, dieser Wunsch die ganze Zeit bei ihm zu sein... Ich hatte das über die Wochen echt gut verdrängt. Wenn es Carlos auch so ging, konnte ich vielleicht sogar verstehen, dass er mich nach meinem Weggang zu keiner Entschuldigung kommen ließ. Er sagte, dass mein Carlos an dem Tag gestorben sei. Aber wenn das so wäre, hieß das, dass mein Carlos, und er war definitiv noch da, für immer im Verborgenen bleiben sollte und musste. 

Aber dann hatte er mir vorhin beim Tanzen zugesehen. Ich wusste das, ich hatte ihn sofort bemerkt als er sich der Tür genähert hatte. Es wäre ihm unangenehm, wenn das zu ihm gesagt hätte. Carlos war lieber verborgen. Ohne Aufsehen. Aber bei mir war das unmöglich. Ich kannte immer noch seine energischen Schritte, ich wollte immer noch wissen, dass er da war. Er war nicht in der Tanzgruppe, sonst hätte ich Audrey sofort stehen lassen und hätte mit ihm getanzt. Mann-Frau-Schritte hin oder her. Aber er hatte zugesehen und ich hatte mich gefreut. In dem Moment war ich so zufrieden gewesen, wie die ganze Zeit noch nicht, seit ich wieder hier war. Okay, abgesehen, von dem Moment als ich Carlos zum ersten Mal wiedergesehen hatte. Die Zufriedenheit und dennoch große Sehnsucht übertraf wohl nichts. Ich fuhr mir noch mal mit den Händen durchs Gesicht bevor ich meinen Arm nach meinem Abendessen ausstreckte. Immerhin saß auch Carlos heute am Esstisch, unten, im Essensraum. Jetzt musste er nur noch auch essen.

„Das" Evie hielt ein rotes T-shirt hoch, „oder, einen Moment, das?" Sie hielt ein blaues hoch. „Keins." Ich war gerade vom Nachsitzen gekommen und für heute endlich fertig. „Doch." sagte sie energisch. „Warum?" fragte ich die Blauhaarige argwöhnisch. Sie hatte bisher noch kein Wort mit mir gewechselt. „Wegen der Modenshow nächste Woche. Du brauchst das Geld." Sie sah mich ernst an. „Was? Hat Carlos das gesagt?" Ich knirschte lautlos mit den Zähnen. „Nein." „Dann brauche ich auch kein Geld." wehrte ich etwas verspätet ab. „Doch. Ich weiß, dass er ein Sicherheitssystem für dein Schiff machen soll. Ich stand neben der Tür als ihr den Vertrag gemacht habt und du gesagt hast, dass du noch ein bisschen übrig hast und er den Rest dann bekommt. Du brauchst Geld!" Jetzt war ihr Blick streng als sie mir das so an den Kopf warf. 

„So wie Carlos Arbeitseifer momentan ist brauchst du es auch bald. Billig wird es bestimmt auch nicht. Also?" Sie hielt noch mal beide T-shirts hin. „Ich brauche deine Hilfe nicht!" Ich verschränkte die Arme. Ich würde das auch alleine hin bekommen. „Das Rote." sagte ich trotzdem und sprang über das Geländer auf die Treppe, die sie mir versperrt hatte. „Gut. Komm morgen in der Mittagspause zur Anprobe. Ich hab die letzten Tage schon Sachen für dich raus gesucht." hallte ihre Stimme mir hinterher. Wenn ich für sie lief bekam ich das Geld schneller zusammen, als wenn ich es machte wie bisher. Für Carlos, sagte ich mir nur. Für den Echten.

Draußen traf ich auf meine Schwester. „Fertig mit den Prüfungen?" „Ja, endlich." Sie verdrehte mir den Arm auf den Rücken. „Hey!" beschwerte ich mich. „Ich brauch jetzt unbedingt Aktion. Wie wäre es mit einem Sparring?" Harriet ließ mich los. „Ich darf mein Schwert nicht benutzen." erzählte ich ihr entschuldigend. „Dann nehmen wir eben keine echte Waffe." Sie hob zwei Stöcke vom Boden auf und warf mir einen zu. „Wohl wahr. Kann es sein, dass es Absicht ist, dass ich den Kleineren bekomme?" Der Zweig war fast halb so kurz wie ihrer. „Wer weiß? Ich bin immer noch sauer auf dich." meinte Harriet und griff an. „Merkt man." Sie knurrte und stieß zum neuen Angriff vor. Bei der nächsten Parade musste ich vorsichtiger sein, sonst brach mein Stock noch. Ich nutzte meine Größe und Schnelligkeit, um trotz der kürzeren Waffe an sie ran zu kommen. Harriet sprang mir von der 'Klinge' und schlug zurück.

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