Kapitel 47

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Harry Hook:

Mit großen Augen starrte ich auf das blitzende Stück in Carlos Hand. Ich blinzelte, zwei Mal. „Hättest du mich damit allen ernstes abgestochen?" fragte ich entsetzt und meine Stimme nahm eindeutig einen höheren Ton an als sie es gewohnt war. Ich rieb mir über den Hals während ich den Schraubenzieher noch nicht aus den Augen ließ. Carlos drehte sich um. „Habe ich nicht gemacht." Er ging zurück ins Zimmer. Nein, hatte er nicht. Aber mein Herz raste immer noch erschrocken. „Was machst du hier überhaupt?" fragte ich und folgte ihm, um mich umzusehen und nach Verdächtigen Ausschau zu halten. Vielleicht wollte er sich doch rächen und Teile des Schiffs auseinander bauen, damit es unterging. „Die Frage könnte ich dir stellen. Hab angefangen dein Sicherheitssystem anzubringen. Ist offensichtlich bitter nötig, so einfach, wie ich hier rauf gekommen bin." antwortete Carlos grimmig. Was hatte er denn jetzt für schlechte Laune? Ich hatte ihn nicht mit dem Schraubenzieher erwartet. 

„Hab über den Segeln gesessen und nachgedacht." teilte ich auf seine unausgesprochene Frage mit und blickte kurz auf den Boden. Da er mit dem Rücken zu mir stand, konnte er das nicht sehen. Das Gewicht in meinen Taschen erklärte warum. Ich war auf dem Schiff gewesen, weil ich nach dem Rechten sehen wollte und dann hatte ich es gefunden. Verstaut in der Schublade des Nachtschränkchens, der unerklärlich plötzlich umgefallen war. Ich hatte ihn aufgehoben und es war beinahe als würde ich in Feuer gucken. Das Halsband und die Leine hatten vor mir gelegen. Carlos Halsband. 

Vorsichtig hatte ich es aufgehoben und mich auf das Bett gesetzt. Meine Beine hatten mich einfach nicht mehr tragen können. Der Kloß in meinen Hals hatte mich einen Moment am Atmen gehindert. Meine Finger hatten sich angefühlt, als hätten sie Feuer gefangen. Carlos Halsband. Der freie, neugierige, lebensfrohe und starke Junge, der unabhängige, unsichere Mann hatte sich von mir ein Halsband anlegen lassen. Wenn das nicht von Vertrauen zeugte. Er hatte sich anleinen lassen. Ich hatte ihn festgehalten, er hatte es zugelassen. Carlos hatte sich dem einfach hingegeben und es gut gefunden. Nachdem was er alles durchgemacht hatte. Nach allem was ihm passiert und angetan worden war, hatte er sich so eigenständig aufgegeben und in die Hände von jemand anderem gegeben. In meine Hände. Er hatte auf mich vertraut, auf meine Stärke, auf meine Zuneigung, er hatte mir vertraut. Grenzenlos vertraut. Ich musste schwer schlucken, wie ich es nach meinem Fund getan hatte. 

Die Feuchte in meinen Augenwinkeln, die langsam gefroren war, spürte ich jetzt zwar nicht, aber es ergriff mich immer noch. Diese Feststellung. Dieses tatsächliche Vertrauen. Mein Abgang. Ich hatte ihn einfach hier gelassen, ohne ein Wort. Hatte ihm noch nicht mal meine Beweggründe anvertraut. Noch nicht mal, dass es mir mit ihm genauso ging und ich ihm deswegen nichts hatte sagen können. Weil ich dann, das wusste ich jetzt, zu hundertprozent hier geblieben wäre. Allerdings, wo hatte mich das hin gebracht? Ich war ja doch wieder hier. Ich schluckte schwer. Darüber hatte ich nachdenken müssen. Deswegen hatte ich hoch oben im Schiff gesessen und ihn gesehen als er her gekommen war. Noch immer wiegte es schwer auf mir. Das, was ich in den letzten Stunden durch gemacht hatte. Mein Blick ging auf Carlos Rücken, wie er da am Tisch stand und irgendwas werkelte. „Es tut mir Leid." sagte ich und war mir nicht sicher, ob meine Stimme sich brüchig anhörte. Es tat mir Leid, unendlich Leid, was ich ihm angetan hatte. Ich schätzte, jetzt war endlich bei mir angekommen, was genau das gewesen war. 

„Lass mal sehen." sagte ich kräftiger und trat an ihn heran, um über seine Schulter zu sehen. Ich überspielte es einfach. Carlos Handeln stockte ein wenig aber dann machte er weiter und erklärte, was er da eigentlich tat. Er verstand wirklich, was er da machte. Ich jedoch eher weniger. Technik war nur in begrenztem Rahmen meins. Aber dafür hatte ich ihn. Ich nickte bloß. „Dann klappt das also doch? Mit dem Sicherheitssystem?" fragte ich während ich ihm zusah, wie er jetzt wieder an der Wand arbeitete, statt auf dem Tisch. „Siehst du doch." sagte er und sah nicht einmal von seinen Händen weg. Ich reichte ihm den Hammer als er blind danach griff. „Du bist der Beste." Ich räusperte mich kurz nachdem die Worte aus mir heraus kamen. Carlos nickte nur vage. 

„Den Rest verbau ich, wenn ich die Teile habe." Er ließ von der Wand ab und packte seine Sachen zusammen. „Ja, klar. Tut mir übrigens Leid, dass ich dich zu Tode erschreckt habe." Ich sah ihn an. „Schon okay, habs überlebt." Mein Blick fiel auf den Schraubenzieher, den er gerade verstaute. „Ich auch. Allerdings hast du mich auch ordentlich erschreckt damit." Ich deutete darauf. Carlos schloss seine Tasche und sah mich an. Er zuckte mit den Schultern. „Ich wusste nicht, dass du hier bist. Hättest auch was sagen können." Er ging zur Tür und verließ den Raum. Ich ging automatisch mit ihm. Wenn es nach mir ging, würde ich auch nirgends mehr ohne ihn hin gehen. „Vielleicht." murmelte ich. „Hättest ja auch wer weiß was für schmutzige Dinge drehen können, bei denen ich dich dann nicht erwischt hätte." Ich steuerte die Treppe an, die wieder hoch an Deck führte. „Wer sagt, dass ich das nicht trotzdem getan habe?" Ich sah Carlos an, musterte ihn. 

„Du, mit dem Schraubenzieher als Waffe in der Hand. Hättest mich in Brand stecken können, damit wärst du vermutlich weiter gekommen als mit deiner kleinen Waffe." Carlos schnaubte und verfinsterte etwas das Gesicht während er die Treppe betrat. Er stolperte. Ich fing ihn am Ellenbogen auf, sodass er noch nicht mal richtig in die Knie gehen konnte. „Danke." brummte er und nahm die nächsten Stufen im Eilschritt. „Bitte." Meine Hand war ganz warm von der Berührung. Ich sah ihm einen Moment nach bevor ich ebenfalls an Deck ging. „Gehts zurück zur Prep? Kann ich dir irgendwie tragen helfen? Immerhin bist du wegen mir damit hier." Ich verdichtete die Tür und ging dann mit ihm vom Schiff. „Ich bin mit meinem Bike da." Achja, stimmt.

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