MILA
Ich sitze neben dem Unbekannten in seinem geöffneten Kofferraum. Einen trockenen Pullover hat er mir geopfert, die karierte Decke teilen wir uns. Es regnet noch immer wie aus Strömen. Seit einer Ewigkeit sitzen wir schon hier, aber haben nicht ein Wort miteinander gewechselt. Es ist leichter zu schweigen. Meine nassen Haare tropfen auf die Karodecke, mein Kleid hat sich mit Wasser vollgesaugt. Es ist unheimlich schwer und wie ein einziges Eisfach, in dem ich stecke. Das war eine verdammt dumme Idee. Aber wer konnte auch wissen, dass hier jemand ist? Bei diesem Mistwetter sollte hier niemand sein... Zu diesem Zeitpunkt hätte ich schon frei sein können, doch nun sitze ich hier, immer noch gefangen in meinem Leben.
»Hast du zufällig etwas zu trinken?«, traue ich mich nach weiteren zehn Minuten zu fragen. Der dunkelhaarige schnaubt neben mir. Seine Körpersprache macht mir deutlich, dass er verdammt genervt von dieser Situation ist. Mit verschränkten Armen schaut er mich an, mahlt immer wieder auf seinem Kiefer hin und her. Seine Augen bohren sich wie Brennstäbe in die meine. »Kaffee«, brummt er dennoch nach kurzer Zeit, »eine Tasse.«Er dreht sich von mir weg, hinter uns und langt nach einer Thermoskanne, auf der ein Becher steckt. Ich ziehe meine Füße an, hinauf in den Kofferraum, in dem wir sitzen und verschränke meine Beine unter der trockenen Decke. Mir ist eisig kalt. Der Regen scheint nicht aufzuhören, der Wind ebenfalls nicht. So ein Mistwetter...
Der fast schwarzhaarige reicht mir die silberne Tasse, die er mit dampfendem Kaffee gefüllt hat. Schnuppernd führe ich sie an meine Lippen und nippe daran. Einen Schluck gönne ich mir. Er rinnt heiß meine Kehle hinab und erwärmt meinen Magen ein wenig. Das reicht mir völlig für den Anfang. »Danke«, wispere ich und puste ein wenig. Ich genehmige mir einen weiteren Schluck und reiche ihm seine Tasse zurück. Gnatzig leert er sie mit einem Schluck und gießt sich nach. »Wie bist du hier rausgekommen?«, will er wissen. Ihn scheint nicht zu interessieren, wieso ich hier bin, oder wie ich heiße. »Ich bin gelaufen«, gestehe ich ihm. Dort wo ich war, musste ich unbedingt weg. »Den ganze Weg bis hier raus? Das sind mehrere Kilometer«, schnaubt er. »Ja...«, beteuere ich, »gelaufen.«
»Du willst mir weiß machen, das du den ganzen Weg aus Inverness bis hier her in diesem Outfit und im strömenden Regen gelaufen bist?«
»Ja«, antworte ich genervt, »glaub mir oder glaube mir nicht, das kümmert mich wenig.«
Der dunkelhaarige wirft mir einen knappen Blick zu. »Dann bist du definitiv irre«, schlussfolgert er. Ich schnappe nach Luft. »Bin ich nicht, ich wollte da nur weg.«
»Wo weg?«, fragt er mich mit gerunzelter Stirn. Lippenbeißend starre ich in die Ferne. Ganz weit weg erkenne ich Inverness. Der Weg schien mir aus der Stadt hinaus nicht so weit, wie er tatsächlich ist. Ursprünglich dachte ich, der Weg wäre kürzer.
»Ist doch egal, oder?«, wispere ich gedankenverloren.Fröstelnd ziehe ich mir meine Seite der Decke enger um die Schultern. Unsere Oberarme reiben unter der Decke aneinander. Auf eine merkwürdige weiße, finde ich das besser als gedacht. Sein Körper strahlt Wärme aus, das ist alles was zählt. »Bist du aus der Klapse abgehauen?«, fragt er dennoch ernst. »Nein!«, gebe ich empört zurück, »ich bin weder irre noch total krank. Ich war auf einer Familienfeier und-«
»Verstehe«, unterbricht er meinen Redeschwall augenblicklich. Verdutzt drehe ich meinen Kopf zu ihm. »Du verstehst?«, hake ich nach. Er nickt und starrt ebenfalls in Richtung Stadt, »sehr gut sogar. Familie ist etwas verkorkstes.«
Überrascht wende ich meine Augen wieder ab und sinke ein bisschen mehr zusammen. Langsam lösen sich meine verspannten Muskeln. »Ist es«, stimme ich zu. Er scheint zu wissen, wovon er spricht. Es ist erfrischend sich mit jemandem zu unterhalten, der keine perfekte Familie hat. In den Kreisen in denen meine Eltern verkehren, gibt es wenig Raum für Imperfektionen. Alles ist bis aufs kleinste Detail geplant und organisiert. Sogar meine Hochzeit...»Also«, erhebt er sich schließlich und überlässt mir die Decke. Er stellt sich neben mich und beginnt den Kaffee einzupacken. »Soll ich dich mit in die Stadt nehmen?«
Ob das eine gute Idee ist?
»Nein, ich-«, stockend schlucke ich, »nein danke.«
Der, dessen Namen ich noch immer nicht kenne, presst seine Lippen aufeinander. »Hast du jemanden der dich abholt?«, will er wissen. Kopfschüttelnd richte ich meine Augen gen Boden. Einzelne Strähnen meiner langen, nassen Haare rutschen mir ins Gesicht.
»Also soll ich dich hier lassen, damit du dich wieder in die Fluten stürzt?«, will er wissen. Schweigend schlinge ich mir die Decke eng um meinen nassen Körper. Mir ist so eisig in diesem Kleid...
»Ich werde laufen.«
Er beginnt zu lachen. Es ist nicht belustigend oder amüsant, sondern bloß ungläubig und fies. »Ganz sicher nicht, Rapunzel. Schwing deinen Arsch auf den Beifahrersitz, damit ich dich nach Inverness bringe. Wenn du willst bis vor die Klapse«, raunt er genervt und scheucht mich auf. Ich trete zurück in den Regen und sehe zu, wie er die Klappe des Kofferraums schließt. »Ich bin nicht irre!« Nur verzweifelt...»Sicher, genau das würde eine Irre sagen«, spottet er und marschiert auf die Fahrtür zu. Bevor ich mich versehen habe, sitzt er hinter dem Steuer und der Motor brummt auf. Verdammt nochmal. In der Kälte stehen will ich auch nicht. Meine Füße schmerzen vom langen Weg hierher. Meine Schuhe bin ich schon nach der Hälfte losgeworden. Mir wird nichts anders übrig bleiben, als auf sein Angebot einzugehen. Ich öffne die Beifahrertür und steige ein, so wie er es gesagt hat. Den Mumm mich wieder in die Fluten zu stützen, habe ich nicht. Dafür ist es mir zu kalt. Im Wagen läuft die Heizung. Der Unbekannte parkt aus und rauscht den Parkplatz entlang in Richtung Straße. Ich schnalle mich an und sinke, immer noch in die Decke gehüllt, tiefer in den Sitz.
»Wo soll ich dich absetzen?«, fragt er.
Ich schweige. Er verdreht seine Augen.
»Sag schon«, fordert er, »Du bist doch aus der Stadt, oder?«
»Mhm.«
»Also?«
»Ich kann dort nicht wieder hin...«, versuche ich ihn zu erklären. Kann er es nicht einfach so hinnehmen, ohne das ich noch mehr sagen muss? Dieser Ort ist die Hölle. Die Menschen die dort leben sind die Hölle. Es ist wie mein persönlicher goldener Käfig, aus dem ich es endlich geschafft habe auszubrechen.
»Du bist nicht aus der Stadt«, stellt er ernst fest. Ich starre aus der Windschutzscheibe. »Bin ich nicht. Ich stamme nichtmal aus diesem Land.«
Der Fahrer atmet aus. Durch den Spiegel sehe ich, wie seine Stirn sich runzelt. »Was verschlägt dich dann nach Inveress? Ich meine - das steht jetzt nicht auf den Hotspots dieser Welt. Es ist nur Inverness.«
Lippenbeißend wandern meine Augen über das Armaturenbrett. Eine Schachtel Zigaretten liegt hier herum, daneben ein zusammengerollter Geldschein. Auch ohne das weiße Pulver zu sehen, weiß ich, das er konsumiert haben muss. Das sind ja die besten Voraussetzungen um Auto zu fahren. Super.»Ich spreche wirklich ungern darüber«, versuche ich ihm deutlich zu machen. Ihn scheint das nicht zu interessieren. »Wo soll ich dich nun rauslassen?«, fragt er abermals.
»Keine Ahnung. Geld habe ich nicht dabei, also kann ich mir kein Hotel leisten«, erkläre ich. Der Schotte legt den nächsten Gang ein und murmelt etwas unverständliches. War das etwa gälisch?
»Auf was zum Teufel willst du hinaus?«, brummt er verdächtig. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und blinzle nervös. »Kannst du mir vielleicht ein Zimmer für eine Nacht spendieren? Ich zahle dir die volle Summe zurück, sobald ich meine Karte wiederhabe. Das schwöre ich. Bitte...«, flehe ich ihn an.
»Nein, sicher nicht!«, sagt er aber, »überhaupt ... auf keinen Fall. Aber ich kann dir mein Gästezimmer für heute anbieten. Dann hast du Zeit dir was anderes zu suchen«, schlägt er vor, doch scheint auch mit seiner eigenen Idee nicht sehr zufrieden zu sein. Ihm scheint es überhaupt nicht zu passen, der er mir soeben dieses Angebot gemacht hat. Nachdenklich mustere ich ihn von der Seite. Seine markanten Gesichtszüge und der Bartschatten, seine kurzen zurückgekämmten Haare. Unsere Augen treffen sich als wir an einer Ampel halten. Die des Unbekannten sind so rabenschwarz wie die Nacht und funkeln doch wie Millionen Sterne. Wie zerbrochene Sterne. Ich erkenne eine Menge Trauer, Wut und Selbsthass in ihnen. Was immer er durchgemacht haben muss, es wird heftig gewesen sein. Ich sehe das es ihn noch immer bedrückt. Er scheint sich für etwas die Schuld zu geben, das vorgefallen ist. Das macht mich verdammt neugierig. »Danke für die Einladung. Eine Nacht, morgen versuche ich an mein Geld zu kommen«, versichere ich ihm. Nickend fährt der schwarzhaarige in die Stadt hinein. »Gut, abgemacht. Aber Nerv mich nicht«, warnt er. Augenverdrehend wende ich mich ab in Richtung Seitenfenster. »Dito.«
»Wie heißt du eigentlich?«
»Mila«, stelle ich mich mit leiser Stimme vor. Mein Kopf sinkt gegen den Rahmen des Glases und ich betrachte ihn durch den Seitenspiegel, erwische ihn wie er mich ab und zu anschaut. Wie sein Name wohl ist? Er wirkt so mysteriös auf mich, das mir nichts einfallen will. Seine Aura ist unheimlich aber anziehend zugleich. Irgendwas sagt mir, das ich mehr über ihn wissen muss. Wieder blickt er mich von der Seite an, diesmal treffen sich unsere Augen durch den Spiegel.
»Ich bin Fergus.«
DU LIEST GERADE
Serpent King | 18+
RomanceFergus Duncan, ein drogenabhängiger Ex-Soldat lernt Ludmila Karakov kennen, eine junge Frau die verzweifelter nicht sein könnte und sich in die eisigen Fluten des Meeres stürzen will. Ihr letzter Ausweg vor einer Heirat mit einem Mann, der ihr Vater...