Kapitel 21 | Thomas
Der Morgen begann früh. Oder besser mitten in der Nacht, denn für Thomas war es nahezu unmöglich gewesen, Schlaf zu finden. Conny war Michaels platonische Freundin. Das bedeutete, der Kerl war Single? Naja, wenn man sein Verhalten bedachte, kein großes Wunder, aber wenn man seine Freude so betrachtete... Oder war er wirklich nur zu ihm so ein Ekel?
Irgendwann drehte sich das Gedankenkarussell immer schneller, so dass Tom spürte, wie er Probleme mit seiner Atmung bekam. Die Panik in seinem Inneren mit allen möglichen Methoden versuchen zu dämpfen, schaffte er es erst, als er ins Bad ging und sich kaltes Wasser über den Nacken laufen ließ. Normalerweise würde er sich jetzt an den Flügel setzen, doch James schlief im Wohnzimmer und er wollte ihn nicht wecken.
Vielleicht musste er einfach mal mit Michael reden? So von Mann zu Mann. Oder Schwuchtel zu Hete, je nachdem, wie er das sehen wollte. Eventuell würde er es schaffen, ihm zumindest ein paar seiner Vorurteile zu nehmen. Aber allein der Gedanke mit diesem Mann neutral umzugehen und ihn eventuell zu berühren, kam dem Musiker gerade nahezu unmöglich vor. Ein langgezogenes Seufzen ausstoßend, starrte er sich selbst in die Augen und rief sich zur Disziplin auf. Er hatte lange dafür gekämpft, sein Leben zurückzubekommen, nun würde er es sich nicht vor dem Abend einer Premiere kaputt machen lassen!
„Also entweder du bist dünner geworden oder du warst nicht oft genug im Gym, mein Lieber." James Grand zupfte an dem langen Schwalbenschwanzfrack seines Freundes herum und schüttelte den Kopf, als er sah, dass die Ärmel des Hemdes nicht mehr so spannten wie noch in England. „Keine Zeit gehabt", gab Tom kurz angebunden zurück. James kannte das und nahm es gelassen hin. So waren fast alle Musiker vor einer Premiere.
„Alles, was du tun musst, ist..." „Lass die Muskeln denken", schmunzelte Thomas sanft. „Ich weiß. Du hast es mir oft genug vorgebetet." „Du bist gut, Tom. Egal was passiert, vergiss das nie, ja?" Die beiden Männer umarmten sich kurz, dann klopfte der Ältere seinem Freund auf den Rücken und nickte in Richtung Tür. Es war immer ein besonderes Gefühl, in diesem Anzug zu stecken. Wie eine Rüstung vor einem Kampf, dessen Ausgang nur die Musik kannte.
„Mister Jankins, da sind Sie ja." Ein etwas holprig Englisch sprechender junger Mann kam auf Tom zu und versuchte ihm zu erklären, wo er hinmüsste. „Sie können gerne Deutsch sprechen", schmunzelte der Musiker und musste innerlich lachen, als er die deutlich sichtbare Erleichterung in den Augen seines Gegenübers sah.
„Benötigen Sie etwas? Salbeiwasser, warme Tücher...?" Hatten die hier wirklich solche Diven? Oh mein Gott... „Nein, danke. Eine Flasche stilles Wasser reicht." „Eine bestimmte Temperatur?" Was zum...? „Egal", lachte Tom nur und ging in seine Garderobe, um seine Finger langsam aufzuwärmen. Ein dezentes Klopfen ließ ihn grinsen. Der junge Mann brachte ihm die Flasche und ein Glas, entschuldigte sich und huschte sofort wieder hinaus. Thomas fand das alles höchst amüsant. So war er in London definitiv nicht behandelt worden.
Etwa zehn Minuten vor Konzertbeginn kam der junge Mann erneut zu ihm und erklärte, dass seine Gäste bereits Platz genommen hätten und man ihn dann im Saal erwarten würde. Seine Gäste... Ein ganz kleiner Teil in ihm hoffte sehr, dass Michael auch da wäre. Auch wenn er wahrscheinlich nur wegen seiner Freunde mitgegangen war.
Tief durchatmend wartete er, bis die Anfangstrompete den Beginn ankündigte, trat nach draußen und wartete den Applaus ab, der aufbrannte. Sofort wanderte sein Blick die erste Reihe entlang. James grinste ihm zu, hob beide Daumen. Schließlich glitt sein Blick weiter nach rechts und sein Herz machte einen kurzen Satz gegen seine Rippen. Da saß Michael! Und da war tatsächlich ein Lächeln auf seinen Lippen. Kein gespieltes, eher ein sanftes Lächeln, das Thomas nun endgültig verwirrte. Aus diesem Menschen sollte mal einer schlau werden.
Der Dirigent gab das Zeichen, also setzte sich Tom mit einer kurzen Verbeugung an den Flügel und begann zu spielen. Überließ seinen Fingern das Denken, denn sein Kopf hatte gerade wirklich Schwierigkeiten, dieses Lächeln aus seinem Verstand zu bekommen.
Fast schon irritiert stellte er bald fest, dass die beiden Akte von jeweils einer Stunde nur so an ihm vorbeigeflogen waren. Das letzte Stück verklang und das Publikum stand auf zum Applaudieren. Das war wie ein wahr gewordener Traum!
Die Solokünstler bekamen ihren Zuspruch und als es an Thomas war, sich den Zuhörern zu zeigen, konnte er nicht anders, als James zu danken. Für alles, was er für ihn getan hatte und vor allem dafür, dass er der einzige Freund war, der ihm geblieben war.
Ein verstohlener Blick zeigte ihm, dass Michael ihm zulächelte und im Rausch des Adrenalins in seinen Adern wagte Tom es, das Lächeln zu erwidern. Allerdings bereute er es im selben Moment, denn die Miene des Blonden wurde steif. Großartig, einfach großartig! Na, was soll's. Dann eben nicht. Kann man nicht ändern.
Nach einer erneuten Verbeugung zum Publikum, zog sich das Ensemble zurück und Thomas ging in seine Kabine. Sekunden später klopfte es erneut und der junge Mann fragte, ob er Hilfe beim Umziehen benötigen würde. „Bitte was?" „Kann... Ich meine, soll ich Ihnen..." „Kleiner, ich bin fast vierzig. Ich kann mich schon allein an- und ausziehen." Der junge Mann wurde knallrot im Gesicht und sofort bereute Tom, dass er so schroff gewesen war. „Sorry. Aber danke. Ich benötige keine Hilfe", sagte er sanfter, worauf der junge Mann zerknirscht lächelte und dann die Tür wieder schloss. Was ein Abend...
„Und du willst wirklich schon los?" „Ich muss. Mein Zug geht in zwei Stunden." Traurig sah Thomas James an, als dieser seinen Koffer zur Tür rollte und das Taxi heranwinkte. „Ich hätte dich auch fahren können." „Nein, mein Freund. Du musst runterkommen und dich auf übermorgen konzentrieren. Das Ensemble ist toll, aber du musst sie mehr auf dich einstimmen. Besonders die erste Violine. Die Kleine braucht Scheuklappen." Lachend schüttelte Thomas den Kopf, umarmte seinen Freund noch einmal und ließ ihn dann zum Taxi gehen. Er wusste, James' Familie wartete in London bereits auf ihn.
Den Wagen nachsehend, bemerkte er, dass Michael mit Matthias, Simone und Conny zusammen gefahren war und sie ihn gerade aus dem Wagen ließen. Der Musiker hob zum Gruß die Hand, warf Michael einen kurzen traurigen Blick zu, bevor er die Tür hinter sich schloss und nach oben ging, um sich umzuziehen.
Nach einer kurzen Dusche öffnete er die Tür zu seiner Dachterrasse und setzte sich, wegen der Hitze, nur in Shorts und seiner klassischen Gitarre auf sein Bett. Wenn Michael das Spiel so störte, sollte er dann bitte einfach weghören. Annie Lennox kam ihn in den Sinn und mit leisem Gesang begann er „Here comes the rain again" zu spielen.
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Living Next Door
RomanceAus persönlichen Gründen kehrt Thomas London den Rücken und zieht nach Köln in eine Reihenhaushälfte. Bereits kurz darauf trifft er auf seinen attraktiven, aber anscheinend immer mies gelaunten Nachbarn Michael. Die Missverständnisse häufen sich und...