32. Kapitel - Tolle Kindheit

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„Bist du bereit?" erkundigt Louis sich, bevor er mir nochmal tief in die Augen sieht. Nickend gebe ich ihm zu verstehen, dass er beginnen kann.

„Also..., wo soll ich anfangen? Vielleicht am Tag meiner Geburt? Da kann ich dir allerdings nur erzählen, was mir berichtet wurde, da die Erinnerungen an die Zeit doch schon leicht verblasst sind." Versucht er witzig zu sein, doch sein Blick sagt das ganze Gegenteil.

„Gut. Ich wurde also am Heiligabend geboren. Damit war ich wohl das schlimmste Weihnachtsgeschenk, was meine Mutter je bekommen hatte und was sie so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. Sie war damals gerade sechzehn Jahre alt und nicht bereit die Verantwortung für ein Baby zu tragen." beginnt er zu erzählen. Auch wenn er es nicht zugeben will, merkt man ihm an, wie verletzt er ist.

„Zwei Tage nach meiner Geburt bin ich bereits in eine Pflegefamilie gekommen. Da schien es mir auch ganz gut zu gehen. Zumindest laut den Erzählungen meiner Betreuer im Kinderheim."

Schon jetzt schießen die ersten Fragen durch meinen Kopf, doch Louis will nicht unterbrochen werden, daran halte ich mich.

„Es gibt auch Fotos aus dieser Zeit – muss ich dir bei Gelegenheit mal zeigen. Sind übrigens die einzigen Kinderfotos, die ich habe." Louis versucht seine coole und gelassene Art aufrecht zu erhalten, doch seine Stimme zittert schon jetzt ein wenig. Ich wechsle meinen Platz und setzt mich neben ihn. Meine Hand liegt auf seinen Unterarm. Er sieht mich zwar verwirrt an, sagt aber nichts dazu.

„Jedenfalls ist die Pflegemutter dann an Krebs gestorben. Mein damaliger Pflegevater war mit der Situation überfordert und ich bin ins Heim gekommen. Da war ich circa zwei Jahre alt." Louis macht eine kurze Pause, trinkt einen Schluck und fährt dann fort.

„Es hat aber nicht lange gedauert, da hatte sie schon die nächste Familie für mich gefunden. Auch da ging es mir anfangs gut. Man hat mich verwöhnt, mir hat es an nichts gefehlt, bis die Eltern ihren Job verloren. Am Anfang haben sie noch gekämpft, doch irgendwann sind sie der Drogensucht verfallen. Ich wurde tagelang ins Kinderzimmer gesperrt und bekam, wenn ich Glück hatte und sie nicht gerade auf einem Trip waren, doch hin und wieder eine Kleinigkeit zum Essen. Bei einem Routinebesuch kam es dann raus und ich musste zurück ins Heim. Da war ich ungefähr vier Jahre alt.

Wenigstens hatte ich im Heim Spielkameraden, auch wenn man die Rangordnung unter Kindern nicht unterschätzen sollte. Wer sich nicht durchsetzen konnte, wurde gnadenlos fertig gemacht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich vom Klettergerüst geschupst, oder mit Sand gefüttert wurde. Ich gehörte anfangs zu denen, die sich nicht durchsetzen konnten, doch irgendwann wurde ich mutiger und habe mich zur Wehr gesetzt, wodurch ich wenigstens akzeptiert wurde."

Louis zeigt mir ein paar Narben, die er sich in dieser Zeit zugezogen hat. Alle sind unter Tattoos versteckt, um ihn nicht ständig daran zu erinnern. Entsetzt streiche ich mit meinem Finger darüber, was Louis eine leichte Gänsehaut beschert. Dann erzählt er weiter.

„Zwischen meinem vierten und fünften Lebensjahr war ich nur kurzzeitig in Pflegefamilien. Ich war damals ein sehr rebellisches Kind geworden und wurde schnell als verhaltensauffällig abgestempelt. Länger als ein paar Wochen hat es keiner mit mir ausgehalten. Ich wurde eigentlich nur hin und her gereicht, bis ich gar nicht mehr wusste, wo mein Zuhause ist."

Allmählich lässt Louis seine Fassade fallen. Seine Stimme beginnt zu zittern. Eine erste Träne sucht sich ihren Weg seine Wange hinab. Schnell wischt er sie weg, in der Hoffnung ich würde es nicht bemerken.

„Ich habe mir eingeredet, dass ich es nicht verdient habe, geliebt zu werden. Das nur artige Kinder nicht zurückgebracht werden. Jede Nacht habe ich mich in den Schlaf geweint und gehofft, dass es keiner mitbekommt. Weißt du wie oft ich mir gewünscht habe, dass mir mal jemand sagt ‚Ich hab dich lieb'? Oder nur in den Arm genommen zu werden? Ich hatte nicht mal ein eigenes Kuscheltier, was ich tröstend im Arm halten konnte..."

Louis bricht ab. Das Sprechen fällt ihm schwer. Seine Stimme wird mit jedem Satz leiser. Ich fahre mit meiner Hand wieder über seinen Arm, streichle ihn sanft. Es dauert noch einen Moment, bis er sich wieder gefangen hat und fortsetzt.

„Dann hat sich plötzlich meine leibliche Mutter gemeldet. Sie wäre nun reif genug um sich um mich zu kümmern, so dachte sie jedenfalls. Doch das Zirkusleben war ihr wichtiger als ihr Kind. Kein halbes Jahr später war ich zurück im Heim und musste erneut für Anerkennung kämpfen.

Kurz vor meiner Einschulung musste ich das Heim wechseln, meine Freunde waren weg und ich war wieder einer der Kleinen und der Kampf fing von vorn an."

Die Erinnerungen lassen Louis schwer atmen. Er ringt um Fassung. Mein Griff um seinen Arm wird fester. Ich möchte ihm damit zeigen, dass ich für ihn da bin, dass es okay ist Gefühle zu zeigen. Doch ich sage kein Wort. Ich gebe ihm die Zeit, die er braucht, bis er weitererzählt.

„Lange hatte sich keine Familie mehr für mich interessiert. Babys und Kleinkinder sind leichter zu vermitteln als Schulkinder. Das Schlimmste ist ja nicht mal, dass mich keiner wollte, damit hatte ich mich abgefunden. Aber du glaubst nicht, wie grausam Kinder sein können. Ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen, wie oft man mich unter die eiskalte Dusche gestellt hat, oder mein Bett mit Ameisen gefüllt hat. Die ersten vier Jahre der Schulzeit habe ich im Heim verbracht. Da gab es auch ein paar Mädchen, mit denen ich ganz gut klargekommen bin, doch in der Schule oder bei den Jungs im Heim, war ich meist das Opfer. So sehr ich mich auch bemühte, die Anerkennung, die ich mir erhofft hatte, bekam ich nie. Noch bevor ich für mich selbst akzeptiert hatte, dass ich auf Jungs stehe, hatten die Größeren von uns es längst durchschaut. Von da an war ich jeden Tag Mode. Zusammen geschlagen zu werden war noch das Erträglichste von allem... "

„Lou, du musst nicht darüber sprechen." stoppe ich ihm. Inzwischen suchen immer mehr Tränen ihren Weg, auch wenn Louis tapfer versucht es zurückzuhalten. Ich kann nicht anders, ich muss ihn einfach in meine Arme schließen. Ihm ein Gefühl von Geborgenheit vermitteln. Zitternd klammert er sich an mir fest, während auch mir die Tränen in den Augen stehen. Ein paar Minuten sitzen wir einfach so da. Meine Hand fährt beruhigend seinen Rücken hoch und runter. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was er damals alles durchmachen musste.

„Jedenfalls" erzählt Louis weiter, als er sich wieder aus meinen Armen gelöst hat. „hat sich irgendwann doch wieder eine Familie für mich entschieden. Sie hatten bereits sechs Pflegekinder und wurden von meinen Betreuern in den höchsten Tönen gelobt. Ich war gerade zwölf geworden und hatte mich schon gefreut in einer Familie mit vielen Geschwistern zu leben. Doch die bittere Realität sah leider anders aus. Neben den Pflegekindern hatte die Familie noch drei leibliche Kinder. Die den Himmel auf Erden hatten, während die Pflegekinder für die Drecksarbeit da waren. Die Mädchen führten den Haushalt, die Jungs schufteten auf dem Hof oder den Feldern. Die Pflegemutter war Lehrerin und unterrichtete uns zu Hause. Kontakt zu Gleichaltrigen gab es nicht mehr. Das war auch die Zeit, als die ersten Panikattacken aufgetreten sind.

Wir mussten früh halb fünf aufstehen, Tiere versorgen, dann Schule und danach ging es auf die Felder. Wenn wir nicht gehorchten gab es Schläge, solange bis wir um Gnade winselnd am Boden lagen. Am Anfang hat es mich öfter erwischt. Nicht zuletzt, weil ich ein paar Mal abgehauen bin. Doch die Farm war sehr groß und bis zum nächsten Nachbar war es über eine Meile.

Irgendwann habe ich aufgegeben mich dagegen zu wehren. Es ist was es ist, habe ich mir immer wieder gesagt."

Louis zieht sein T-Shirt etwas runter und zeigt auf sein Tattoo.

„Ich wusste, mit meinem achtzehnten Geburtstag kann ich der Hölle entkommen. Und der Gedanke daran hat mit geholfen nicht aufzugeben."

Louis atmet einmal tief durch, wischt sich seine geröteten Augen trocken und leer sein Glas.

„In der Nacht zu meinem achtzehnten Geburtstag kehrte ich der Familie den Rücken. Ich wollte einfach nur ganz weit weg und machte mich auf die Suche nach meinen leiblichen Eltern, um mich für die ‚tolle Kindheit' zu bedanken. Ich klapperte jeden beschissenen Zirkus in ganz Australien ab. Es hat zwei Jahre gedauert, bis ich schließlich meinen Erzeuger und die Eltern meiner Mutter ausfindig machen konnte. Von ihnen habe ich dann auch erfahren, dass meine Mutter sich einem englischen Schausteller an den Hals geschmissen hat und nun in England leben soll.

Ich war fest entschlossen auch sie aufzusuchen. Mit ein paar kleineren Jobs sparte ich mir das Geld für den Flug zusammen und bin dann Hals über Kopf nach Großbritannien geflogen. Als ich den Zirkus endlich gefunden hatte, sagte man mir, dass sie bei einem Unfall ums Leben gekommen sei, dass es aber noch eine Tochter gibt, die in einer Pflegefamilie betreut wird. Und so bin ich nach Holmes Chapel gekommen."

lonely hearts  ➵ larry stylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt