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Mein Herz schmerzt und alles in meinem Körper ebenso.

Es ist, als würde sich das traumatische Erlebnis von vor sechs Jahren wiederholen und dabei weiß ich noch nicht einmal, was gerade vorgeht, weil ich Silas in der Menge nicht ausmachen kann.

Meine Ohren klingeln und mein Puls ist viel zu hoch, während mein Körper beginnt zu glühen.

Irgendetwas stimmt nicht.

Und plötzlich sehe ich ihn.

Silas, wie er Jason in seinen Armen hält und vollkommen neben der Spur ist, während er langsam auf uns zu stolpert.

"Derrick, bring bitte die Kinder weg", sage ich mit kratziger Stimme, während sich meine Kehle zuschnürt.

Sie haben mich gefunden, doch Jason haben sie erwischt.

"Warum?", fragt er und steht sofort auf, ehe er Isaac auf den Arm nimmt.

"Jason ist Rosa’s großer Bruder", sage ich fast schon flüsternd, während Derrick nun auch sie vorsichtig auf den Arm nimmt.

Fast schon wie in Trance steige ich von dem Tisch herunter und laufe Silas entgegen.

Plötzlich fällt er auf die Knie und lässt Jason langsam zu Boden, ehe er die Hände unter ihm hervorzieht und sich mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht wischt, da seine Hände blutverschmiert ist.

Alle versammeln sich um uns herum.

Fawn und Blaze lassen sich neben Jason auf den Boden fallen und beginnen in Panik auszubrechen, während ich verwirrt nach Natalia Ausschau halte.

"Wo ist sie, Silas?", frage ich, doch er starrt nur völlig neben der Spur auf seine Hände.

"Silas!", voller Schreck hebt er den Kopf und blickt zu mir auf.

"Wo ist sie? Wo ist Natalia?", frage ich ihn und schon überrollt mich eine Welle voller Emotionen.

Mit großen Augen sehe ich ihn an und muss damit klarkommen, nicht nur meine eigenen Emotionen zu verarbeiten, sondern die, von allen aus meinem Rudel.

Darunter fallen gerade Silas, Blaze und Fawn.

Zögerlich nicke ich auf seine Gedanken hin.

Bei der Verbindung zu seinem Rudel ist es nicht so, dass man Gedankenlesen kann.

Es ist, als würden die Gedanken deiner Leute, direkt in deinen eigenen Kopf gepflanzt werden.

Als wären es deine eigenen Gedanken, die nur ein einziges Stück von deiner Norm abschweifen, sodass du erkennst, dass sie nicht deine sind.

Manchmal ist es sogar verdammt schwer, diese vielen Gedanken auseinander zu halten.

In diesem Falle war der Gedanke jedoch klar und deutlich.

Es war seiner und er trieft nur so vor Trauer.

»Sie haben sie getötet«

Jason und Rosa sind soeben ihre Mutter losgeworden.

Wenn Jason das jemals überleben sollte, wird er damit leben müssen, ein weise zu sein und über die Tatsache, dass ich schuld an dem Tod seiner Mutter habe, wird er wahrscheinlich nicht hinwegsehen können.

Ich versuche so ruhig zu bleiben wie es geht, doch mein Körper bebt.

Vor Wut, vor Trauer, vor Ekel, der sich nur mir selbst widmet.

Ich blicke in der Menge umher und sehe, dass Derrick aus dem Haus kommt, während Felicia hineingeht, doch das ignoriere ich.

Stattdessen sehe ich zu Aeryn.

"Kannst du ihm helfen?", frage ich sie mit brüchiger Stimme.

Ich weiß, dass sie es kann.

Stattdessen hätte ich fragen sollen, ob sie es tun wird, doch sie braucht keine weitere Frage.

Sie nickt sofort und geht auf Jason zu.

Als Blaze beginnt aus tiefster Kehle zu knurren, sehe ich ihn mahnend an und widme ihm eine Drohung, weshalb er sofort wieder verstummt.

"Ich bin gleich zurück", sage ich dann und gehe einige Schritte auf den Wald zu.

Plötzlich wird meine Hand gegriffen und schon spüre ich die Flüssigkeit an meiner Haut, die mir sofort eine unbeschreibliche Übelkeit beschert.

"Geh nicht alleine", bittet Silas mich verzweifelt, doch ich schiebe seine Hand vorsichtig von mir, ohne auch nur eine Sekunde das Blut zu betrachten.

Solange ich es nur spüre und es nicht sehe, ist die Sache gar nicht so schwer zu verarbeiten.

Ich folge dem Geruch von Blut und spüre, dass mich jemand beobachtet, doch die Tatsache, dass Derrick stumm hinter mir herläuft und gar nicht von mir erwartet, etwas zu sagen, ist beruhigend.

Dennoch balle ich verzweifelt die Hand zur Faust, da sie unkontrolliert zu zittern beginnt.

Bruchstücke der Erinnerungen an das Massaker, welches ich vor vielen Jahren an meinem eigenen Vater gestaltet habe, treten mir vor Augen, was die ganze Sache auch nicht gerade einfacher macht.

Erschrocken zucke ich zusammen, als Derrick genau diese Hand greift und beginnt mit einem Stück Stoff daran zu reiben.

Als ich jedoch meinen Kopf in seine Richtung drehen will, verhindert er es, indem er die Hand eilig vor meiner Sicht versteckt.

"Sieh einfach nach vorne", sagt er mit ruhiger Stimme, was mich wieder unfassbar schlecht fühlen lässt.

"Ich habe das nicht verdient, Derrick."

"Niemand hat das. Das ist barbarisch."
Sofort schüttel ich den Kopf, da er mich ganz klar falsch verstanden hat.

"Das meinte ich nicht. Ich habe eure Hilfe und euren Respekt nicht verdient. Ihr solltet mich hassen, mich verabscheuen", sage ich und laufe weiter über den Waldboden, der mich von nun an immer daran erinnern wird, dass Natalia hier meinetwegen umgebracht wurde.

"Ich bin nicht irgendein Wolf, Derrick", beginne ich und spüre dabei, dass wir Natalia immer näher kommen.

"Ich bin ein Alpha."

"Ich weiß", ist seine Antwort, die mich vollkommen schockiert, doch von der Verwirrung lasse ich mich nicht abbringen, ihm den Rest der Wahrheit zu erzählen.

"Ein wahrer Alpha, Derrick. Ich wurde dazu geboren, die Wölfe zu leiten. Deshalb wollen so viele Leute, meinen Kopf", erkläre ich und spüre seine Nervosität, doch bevor er etwas dazu sagen kann, sind wir schon da.

Mit rasenden Herzen und voller Schuldgefühle blicke ich zu Natalia.

Sofort knie ich mich vor sie, da es ihr nicht gerecht werden würde, wenn ich, wie ein hohes Tier, auf sie herab blicken würde.

Sie hat sich definitiv gewehrt, doch sie konnte ihren Gegnern im Endeffekt nicht entkommen.

Wer das Wohl getan hat?

Ihr Körper ist von Klauen zerfetzt, doch die Tatsache, dass ihr Genick gebrochen ist, ist mehr als seltsam.

"Kannst du dich einmal wegdrehen?", frage ich, ohne ihn dabei anzusehen.

Er antwortet nicht und tut sofort, worum ich ihn gebeten habe.

Feste schlucke ich den Kloß in meinem Hals herunter, ehe ich zögerlich beide meiner Hände an ihren Kopf lege und ihn richte.

Es knackt und dieses Geräusch wird für immer in meinem Gedächtnis bleiben, doch solange ihr Genickbruch nicht offensichtlich zu sehen ist, wird keiner hinterfragen, wer ihr das angetan hat.

Wir müssen sie mitnehmen.

Ihre Familie soll das Recht haben, sich zu verabschieden.

An Enigmatic GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt