›42‹

1.4K 103 9
                                    

Ich habe Derrick versprochen, dass ich ihm und den anderen alles in Ruhe erkläre, sobald ich mit Micah gesprochen habe und irgendwie muss er dieses Gespräch ja auch mitbekommen, also sitzen wir nun im Wohnzimmer.

Ich sitze auf dem Sessel, während Micah, Felicia und Derrick vor mir sitzen.

"Silas hat mich vorgewarnt, dass ich dir früher oder später davon erzählen müsse, wenn ich mit euch zusammenleben möchte, wobei ich jedoch nicht gedacht habe, dass es mal wirklich dazu kommen würde", gebe ich nervös zu.

Ich riskiere hiermit, alles zu verlieren.

"Egal, was du uns zu sagen hast, es wird nichts ändern, Lilo", versichert er mir, was ich sofort mit einem kleinen Lächeln und einem Kopfschütteln abtue.

"Sag das bitte nicht. Das kannst du nicht versprechen."
Langsam sehe ich auf und blicke ihm in die Augen.

Wieder überkommt mich dieses Schuldgefühl.

"Ihr werdet mich verabscheuen", sage ich mit zittriger Stimme.

Sofort sehen Felicia und Micah mich mitleidig an, während Derrick all meine Emotionen zu spüren scheint und mich nur irritiert mustert.

Nervös lehne ich mich nach vorne und stütze meine Ellenbogen auf meine Knie, während ich an meinen Händen reibe, die vor Nervosität kribbeln.

"Vor sechs Jahren", beginne ich und sehe auf den Boden.

Ich werde dadurch so oder so etwas verlieren.

Entweder verliere ich sie vollkommen durch meine Taten in der Vergangenheit, oder ich verliere sie, wegen meiner Lügen.

"Ich war ziemlich krank, doch meinen Vater hat das nicht interessiert, also bin ich mit hohem Fieber in die Schule gegangen. Irgendwie habe ich es geschafft den gesamten Tag durchzustehen, doch als ich nach Hause gekommen bin, war jegliche Energie einfach verschwunden", erkläre ich und verdränge sofort alle Bilder, die sich wie ein Film vor meinem inneren Auge abspielen.

"Ich war gerade durch die Tür gekommen und habe sie hinter mir zugestoßen, doch noch im selben Moment, als sie ins Schloss gefallen ist, bin ich einfach zusammengebrochen. Ihn hat das natürlich wieder nur wütend gemacht, weshalb er damit begonnen hat mich anzuschreien. Ich sollte aufstehen und gefälligst anfangen aufzuräumen", erkläre ich und lache spöttisch auf.

Ich war zwölf und war unfassbar krank.

"Als ich nicht reagiert habe, hat er mich gepackt und auf die Beine gezogen, doch ich bin sofort wieder zusammengebrochen."
Nervös drücke ich meinen Daumen in meine Handfläche.

"Was soll das, Lilo?", fragt er besorgt, doch ich ignoriere es.

"Er wurde so wütend, dass er mir immer wieder Ohrfeigen verpasst hat. Sie wurden fester und fester, bis er irgendwann mit der Faust ausgeholt hat. Ich hatte sofort eine aufgeplatzte Lippe", sage ich und sehe flüchtig auf, wobei ich mir mit dem Zeigefinger an die Stelle fasse.

"Ich war nur halb bei Bewusstsein, aber ich habe alles gespürt. Wie sich diese unbeschreibliche Hitze in meinem Inneren ausgebreitet hat und dann kam diese Wut. Die Wut auf meinen Vater, die Wut auf mich selbst, weil ich all das ertragen habe und die Wut auf Silas, weil er mir nicht aus dieser Hölle geholfen hat", erkläre ich und lasse mein Gesicht in meine Hände fallen.

Ich zitter am gesamten Körper und weiß nicht, wie ich weitersprechen soll.

Ich muss es trotzdem irgendwie schaffen, also würfel ich die Worte einfach zusammen.

"Ich wollte es nicht, das schwöre ich dir, Micah", sage ich und sehe auf.

Er sieht mich fragend an, doch Felicia und Derrick scheinen bereits verstanden zu haben, was damals geschehen ist.

Tränen füllen meine Augen und meine Lunge schnürt sich zusammen.

"I-Ich habe die Kontrolle verloren, das Gen ist ausgebrochen und alles ist einfach so geschehen", stottere ich und lasse mein Gesicht ein weiteres Mal in meine Hände fallen.

"Ich schätze, ich verstehe nicht ganz", sagt er mit ruhiger Stimme, weshalb ich langsam wieder zu ihm sehe und eilig die Tränen aus meinem Gesicht wische.

"Ich habe ihn umgebracht, Micah. Meinen Vater."
Seine Augen liegen schockiert auf mir, doch ich kann plötzlich nicht mehr den Augenkontakt umgehen.

"D-Deinen Bruder", füge ich noch stotternd und voller Angst hinzu.

**

Eine ganze Weile war es jetzt still, doch das kann ich keinem anwesendem verübeln.

All das muss erst verarbeitet werden und diese Zeit lasse ich ihnen.

"Ich nehme an, dass das Gen von deiner Mutter kommt?", fragt Micah mit leiser Stimme, weshalb ich sofort vom Boden aufsehe und ihn überrascht anblicke.

Ich hatte angenommen, dass er mich sofort verflucht, mich rauswirft und niemals wieder irgendetwas von mir wissen will, doch stattdessen spricht er vernünftig mit mir.

Warum ist keiner sauer auf mich und schreit seine Lungen an mir aus?

Wieso sind alle so ruhig und neutral, als hätte ich ihnen nicht gerade erzählt, dass ich meinen eigenen Vater umgebracht habe?

Zögerlich nicke ich und schlucke den riesigen Kloß im Hals herunter.

"Und das krank sein?", fragt Felicia nun, weshalb ich sofort in ihre Richtung blicke.

"Eine lange Geschichte, aber ich habe versucht, das Gen zu bekämpfen. Ich habe es nicht angesehen, es verdrängt", erkläre ich mit zittriger Stimme.

"Und dann lässt du zu, dass ich mir Schuldgefühle mache?", fragt Derrick inzwischen genervt, was ich ihm sofort entgegne.

"Weil deine Abweisungen das alles nur verstärkt haben. Ich habe Fehler gemacht, aber ich kann sie nicht zurücknehmen und einfach so tun als..."

"Geh."
Sofort halte ich inne und spüre, wie jeder Muskel meines Körpers beginnt zu beben.

Viel zu langsam sehe ich zu Micah, der mir direkt in die Augen blickt.

Sein Blick ist kalt und seine Miene ebenso.

"Micah, ich..."

"Geh, Makenzie!", unterbricht er mich mit lauter Stimme, weshalb ich Sofort zusammenzucke.

Wenn er meinen vollen Namen nutzt, ist vollkommen klar, dass er es ernst meint.

Hilfesuchend sehe ich zu Derrick und zu Felicia, doch während Felicia ihren Blick auf den Boden gerichtet und ihre Hand auf ihrem Bauch liegen hat, sieht Derrick mich einfach neutral an, so als würde er Micah vollkommen recht geben.

Das ist es jetzt also?

Das Ende?

Wie in Trance nicke ich und stehe auf, ehe ich auf die Hintertür zugehe.

Ich blicke noch einmal zu ihnen zurück, doch sie schenken mir nicht einmal einen letzten Blick, weshalb ich es letztendlich aufgebe und einfach gehe.

An Enigmatic GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt