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Einige Momente bleibt es still und er scheint sich auch nicht rühren zu wollen.

Stattdessen steht er einfach so da, starrt mich an und wirkt dabei unfassbar bedrohlich, während ich all meine gestärkten Sinne nutze, die mein Körper zu bieten hat.

Ich lausche dem Wald und der Umgebung, versuche alle möglichen Gerüche wahrzunehmen, die mich umgeben und sehe alles, was in mein Sichtfeld kommt.

Hier stehen weit und breit nur dieser fremde Kerl und ich, doch warum?

Moment.

Er sprach von Mehrzahl.

"Was meinst du? Tode?", frage ich und kann nur an einen Tod denken, von dem er wissen könnte.

"Naja", beginnt er und zieht beide Hände wieder aus seinen Hosentaschen, ehe er sich entspannt an den Baum lehnt, von dem er gerade heruntergesprungen kam, wie ein wildes Tier auf seiner Jagt.

"Da wäre zuallererst mal Meadow", sagt er und scheint mit beiden Händen mit zählen zu wollen, während er den ersten Finger aus seiner geschlossenen Faust befreit.

Die Tatsache, dass er von dem Tod meiner Mutter weiß und wie sie starb, beängstigt mich nun doch ein wenig.

"Dann Cody", sagt er und zählt damit den zweiten Tod auf, von dem er nichts hätte wissen dürfen.

"Und der bisher jüngste Tod wäre dann noch Natalia, wenn ich mich recht an ihren Namen erinnere. Eine wahre Schönheit", sagt er und atmet laut aus, während er in den Himmel sieht, so als würde er sich ihre Schönheit ein letztes Mal vor Augen halten.

"Dir ist klar, dass du mit diesem Angriff dein Todesurteil unterschrieben hast?", frage ich und sehe ihn an, während sich meine Brust schmerzhaft zusammenzieht.

Ich bin sauer.

Wütend.

Verspüre Hass und Zorn.

Ich will Rache.

"Du kannst dir überhaupt nicht vorstellen, wie lange ich schon auf einen Kampf warte, in dem ich mir endlich holen kann, was ich will. Aber das müssen wir leider verschieben", lächelt er matt und lehnt sich wieder gelassen an den Baum, ehe er seine Hände ebenfalls wieder in die vorderen Taschen seiner Jeans schiebt.

"Ich hatte wirklich angenommen, dass du schlauer wärst. Ein Fünkchen von Meadow muss ja in diesem Ding da stecken, verstehst du, was ich meine?", fragt er und sieht dabei ziemlich genau an mir auf und ab.

Er nannte mich ein Ding, doch das ignoriere ich voller Absicht.

Wenn er wusste, dass meine Mutter unglaublich schlau war, dann muss er sie ja wohl gekannt haben, oder sehe ich das falsch?

Er versucht mich zu verhöhnen und zu provozieren, doch das lasse ich nicht zu.

"Du hast Vertrauen, siehst nur das Gute in Menschen und genau das, wollte Meadow ihre Tochter auch lehren, doch dadurch bist du blind geworden, meine Kleine", sagt er und stößt sich dabei von dem Baum ab, ehe er mit langsamen Schritten auf mich zukommt.

"Dir wurden so viele Dinge vor die Füße gelegt, so viele Hinweise hast du bekommen, doch du bleibst blind."
Mein Körper spannt sich unheimlich an, als er vor mir stehen bleibt und eine meiner weißen Strähnen zwischen zwei Finger nimmt.

Ich sehe ihm dabei zu, doch mein Körper rührt sich nicht, um ihn davon abzuhalten.

"Die Schönheit, das Wissen, der Instinkt, die Intuition, die Intelligenz..."
Langsam sehe ich zu ihm auf und sehe bezaubernde Augen.

Um die Iris, schlingt sich ein wunderschönes und makelloses Braun, während die Farbe außen, Stück für Stück heller wird, bis der Rest nur noch von einem schönen Grün ausgefüllt wird.

Ein atemberaubender Farbübergang.

"All das ist da und ich sehe es auch, doch du nutzt es nicht, meine Kleine."
Die Art, wie er diese beiden Worte ausspricht, klingt so unfassbar ehrlich, dass es mir schon Angst macht.

"Lass mich dir ein paar Fragen stellen, die du dir Stück für Stück selber beantworten kannst, bis dir so einiges klar wird", sagt er und streicht mir die Strähne sanft hinter das rechte Ohr.

"Wer hat dich dazu gebracht, dass du dich das erste Mal seit Jahren verwandelt hast? Wann und wen genau haben wir angegriffen? Was entgeht dir und was soll dir entgehen? Was möchtest du nicht sehen?"
Der Mann vor mir ist ungefähr im selben Alter wie Derrick und Micah, vielleicht auch etwas jünger, doch er wirkt so unglaublich weise, dass ich ihn einfach nur begeistert anstarre.

Von seinen Augen, zu seinen Lippen, zu dem Klang seines Herzens und dann wieder zu seinen Augen.

Er verzaubert mich voll und ganz und plötzlich habe ich das Gefühl, als würde keinerlei Gefahr von ihm ausgehen.

All seine Fragen scheinen schon wieder aus meinem Kurzzeitgedächtnis verschwunden zu sein, doch plötzlich dreht er sich einfach um und kehrt mir den Rücken zu.

"Ich hoffe, dass du diese Fragen schnell genug beantworten kannst, weil du sonst nämlich noch mehr Blut an den Händen kleben hast, meine Kleine", sagt er und sieht dabei flüchtig über seine Schulter, hinweg zu mir, ehe er einige Schritte geht.

"Jetzt solltest du gehen. Zwei deiner Leute kämpfen da drüben um Leben und Tod", kommt es nun unfassbar ernst von ihm, so als hätte er in der Zwischenzeit nur die gesamte Zeit mit mir gespielt und würde plötzlich über ein ernstes Thema mit mir sprechen.

Eilig drehe ich mich um und sehe besorgt in die Richtung des Reservats.

"Wieso sollte ich dir das glau..."
In dem Moment, in dem ich mich wieder zu ihm umdrehe, suche ich ihn, doch er ist verschwunden.

Bisher habe ich solch ein klischeehaftes Verschwinden immer bloß in Filmen und Serien gesehen, doch nie wirkte einer der Schauspieler so genervt darüber, wie ich es gerade bin.

Anstatt mir jedoch weiter darüber Sorgen zu machen, drehe ich mich um und beginne so schnell über den Waldboden zu rennen, wie es mir meine Füße erlauben.

An Enigmatic GirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt