Caden schaute auf die Karten, die Kenga vor ihnen ausgebreitet hatte.
Die Welt wirkte fade und ausgeblichen im Winter; da war kein Herzschlag mehr, der sich unter die frostigen Winde legte. Alles war tot. Die Gesichter der Menschen blieben ausdruckslos; ihre Mienen waren abgehärmt und die Wangen so rot, wie in einem unangenehmen Gespräch.
Die Luft schien bleich, neben den unzähligen Feuern, die in der kleinen Siedlung brannten.
Seitdem sie das Frühjahr erwartet hatten, die Lebensmittelvorräte knapp wurden und nun erneut Schnee fiel, hatte das Leben seine Qualität verloren.Der protzige Reichtum, in dem Caden aufgewachsen war, hatte ihn vor den Tücken der kalten Jahreszeiten bewahrt. Und er wünschte sich nichts sehnlicher, als einfach nachhause zurückzukehren — oder zumindest seinem Vater einen Brief zu schreiben.
Das Dorf, das dem einäugigen Priester gehörte, versorgte sie — die mickrige Gegenleistung die sie dafür verlangten, waren Hilfen in den Häusern. Der Aart beharrte auf seine Freundlichkeit, auch wenn niemand ihm Glauben schenkte.
Die gesamte Situation glich einem Scherz.Dolunay verschwand häufiger in seinem Dorf — und erste Gerüchte waberten unter den Einwohnern, dass sie eine Verräterin war.
Selbst wenn sie eine Verräterin wäre... Es war egal. Alles war egal geworden.
Caden konnte schwören, seit dem Untergang von Brus neben seinem eigenen Körper zu sitzen — ohne dass die Welt seine Nerven berührte.
Und selbst Kengas schiefes Lächeln konnte ihn nicht erheitern.
Ohnehin verflog der Ausdruck schnell, als Kenga die einzelnen Karten aufdeckte und ein Schlachtfeld offenbarte. Die Bilder alter Könige und Priester grinsten ihnen entgegen; ein jeder fein gekleidet. Es waren die selben Abbildungen, wie es sie auf allen billigen Karten gab.»Ich hätte es kommen sehen müssen«, grummelte der Nachtschwärmer, als er die letzten Bilder aneinanderlegte. Er zog zwei Karten vom Tisch und legte diese zwischen ihnen ab.
Caden griff zu dem Stapel, um diesen in der Mitte zu teilen; da öffnete sich die schwere Holztür zur Hütte.
Kälte kroch in den Raum, Stimmen drangen aus der Ferne und das Aroma von Fleisch schwebte dahinter.
Normalerweise war es Asche, die die Hütte betrat und sich an das Feuer setzte — besonders, wenn sie vor anderen Prioritäten fliehen wollte.
Doch das war nicht Asche; es waren nicht die einheitlichen, festen Schritte, die die Frau an sich hatte. Stattdessen waren die Geräusche träge und unregelmäßig.
Caden wandte sich um.
Rhun stand hinter ihm; in der Hand den Gehstock, dem der Priester ihm geschenkt hatte — auch wenn der Cruor ihn undankbar mit den Worten "Ich bin kein Hirschmensch" angenommen hatte. Die goldenen Hirschhörner, die am Knauf angebracht waren, stützten nun seine Finger.
»Guten Morgen«, hauchte er mit rauer Stimme; die Worte ausgefranst und schrecklich hohl.
»Morgen?«, fragte Kenga. »Sind Sie eben erst aufgestanden?«
Der Cruor schwieg lange. Er verlagerte sein Gewicht; griff mit der Hand zu seinen Hörnern und tastete diese entlang. »Verzeihung. Ich möchte nicht lange stören.«
»Sie sehen schrecklich aus.«
»Wissen Sie, wo Declan ist?«
Caden musste überlegen, ehe er sich erinnerte, wer Declan war. Den anderen Cruoren hatte man noch länger nicht gesehen, als Rhun. Man hatte ihm das Essen schließlich vor die kleine Kammer gestellt, in der er schlief. »Das weiß ich nicht. Von dem kommt kein Lebenszeichen. Vielleicht ist er endlich abgehauen.«
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Seele eines Cruors
Fantasy»Für die, die leben, ist der Tod nicht greifbar!« Der Untergang von Brus hat Existenzen zerstört. Flüchtlinge verteilen sich in den umliegenden Dörfern, kriminelle Gruppen bilden sich und die Hafenmetropole wird zum Brennpunkt des Schreckens. Chase...