Kapitel 25;2 - Verlangen nach Heimat

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Die Straßen waren getränkt im Sonnelicht. Wärme kribbelte auf Rhuns Haut; die Gesänge der Vögel klangen kräftiger. Die Sehnsucht nach dem Leben lag als goldener Schleier vor ihm — die  Strahlen gerade genug, damit er nicht fror.

Mit der Welt tauten auch die Gemüter der Menschen auf. Immer mehr versammelten sich, um durch Weyfris zu gehen.

Er senkte den Kopf — aus mehreren Gründen; um dem Wind auszuweichen, damit er nicht die Blicke der Zivilisten sah, aber auch, damit niemand bemerkte, wie er sprach.

»Ich hoffe, Sie haben die Konversation mitangehört.«

Die Stimmen antworteten sofort: Das ist sehr aufopferungsvoll von dir, Cruor.

»Umso mehr Informationen sind von Nöten. Die violette Kuppel, die Brus tagsüber einschließt... Ich habe noch nie etwas über sie gelesen. Was hat sie zu bedeuten?«

Sie ist wie Stein. Man kann sie nicht durchschreiten. In ihr steht die Zeit still.

»Bei allem Respekt«, zischte Rhun. »Ihre Lakeien haben mich in Brus gebissen. Warum haben Sie mir nicht kurz vor der Stadt gesagt, dass ich dahin zurückkehren soll, um mit Ihnen zu verhandeln?«

Es folgte keine Antwort. Rhun hatte auch keine erwartet.

Er schlängelte sich durch eine Straße, wo Dekorationen für ein bevorstehendes Fest den Weg einengten. Die unnatürlichen, grellen Farben bissen sich mit den dunklen Tönen, die Rhun in Weyfris gewohnt war. Für einen Moment hatte er angenommen, wieder einen der Marktplätze in Brus zu betreten.

»Folglich können wir nur nachts die Stadt betreten?«, fragte er.

Ja.

»Und was geschieht, wenn wir uns bereits in Brus befinden, während es draußen hell ist? Werden wir dann eingeschlossen?«

Gewissermaßen auch das. In der Zeit werdet ihr eingeschlossen sein, und dementsprechend auch räumlich. Ihr werdet erst aus der Starre erwachen, wenn die Sonne wieder sinkt.

»Ist das in irgendeiner Weise gefährlich?«

Die Existenz steckt voller Gefahren.

Rhun musste erst durchatmen, bevor er die Worte anders sortierte: »Werden die Monster uns angreifen können, während wir in der Starre gefangen liegen?«

Alles innerhalb von Brus ist versteinert. Es wird sich in der Stadt nichts verändern, bis ihr erwacht.

Rhun starrte zwei Menschen finster an, als diese ihm einen skeptischen Blick zuwarfen. Er musste aussehen, als habe er den Verstand verloren — eine fremde Kreatur, die Selbstgespräche führte. »Was ist der idealste Weg durch die Stadt?«, fragte er. »Können Sie mich hindurchführen, wenn wir dort sind?«

In Brus können wir nicht mehr mit dir kommunizieren, Cruor.

»Haben Sie dennoch Hinweise? Oder Wissen, das mir dienlich sein könnte?«

Licht schreckt uns ab. Und alles, was den Stamm in sich trägt, zieht uns an.

»Das bedeutet, dass die Monster nur mich und die Formwandlerin angreifen werden, weil wir den Stamm in uns tragen?«

Sie werden alles angreifen. Durch den Stamm werden sie lediglich zusätzlich angelockt.

Das war die schrecklichste Meldung, die Rhun hätte erhalten können. Er starrte zu den dunklen Zinnen empor, die den Weg in Schatten warfen. Ein kalter Schauer jagte über seinen Rücken.

Schatten bedeutete Gefahr.
Mit den Monstern zu reden war dämlich.
Doch Rhun wusste nicht, was er sonst tun könnte.

Die Monster mussten aufgehalten werden. Und selbst, wenn sein Versuch scheiterte, es wäre es wert... Wäre es nicht?

Sein Blut brodelte mit einer solchen Kraft, dass er die Fäuste beim Gehen ballte. »Oh, ihr kommt aus der untersten Höllenebene, nicht wahr?«

Wir haben nichts mit eurem Glauben gemeinsam. Es war nie unser Ziel gewesen, euer Leben zu zerstören. Ihr habt uns unsere Heimat genommen und wir haben entgegen unserer Kontrolle eure zerstört. Nun geben wir euch die Möglichkeit, zu verhandeln, damit ihr wieder leben könnt.

»Sie sind dennoch eine Art übergeordnete Macht, nicht wahr?«

Nur, weil ihr auf etwas keinen Einfluss habt, bedeutet das nicht, dass es übergeordnet ist. Ihr solltet mit den Mächten leben, nicht gegen sie.

Rhun seufzte, während er den freien Platz betrat, an dessen Ende sich das Rathaus auftat. Das Gebäude hob sich vor der Sonne hervor und protzte mit seinen silbernen Steinen.
An den Bäumen davor schossen erste Knospen auf.

»Wenn Ihnen Informationen einfallen, die ich benötigen könnten, bitte lassen Sie mich daran teilhaben.«

Vertrau deinem Wissen, Cruor. Die Wahrheit versteckt sich in der menschlichen Wahrnehmung.

Das war eine überflüssige Aussage. Rhun nickte dennoch — wie ein Idiot, da die Monster es nicht sehen konnten. »Vielen Dank für die Möglichkeit, unsere Stadt zu retten.«

***

»Guten Tag, Veu Rhun«, grüßte Drahl. Der Cruor lief sofort brav hinter ihm — demütig, wie Rhun es am Anfang mit Zorn getan hatte.

»Sie dürfen neben mir gehen«, sagte er daher —
so wie sein Herr es damals getan hatte. »Ich werde Ihnen ohnehin eine Aufgabe erteilen, die Sie zu einem Gleichgestellten machen wird.«

»Veu?« Drahl flankierte ihn fast; wenn auch nicht gänzlich.

»Ich habe etwas wichtiges in Brus zu besorgen.«

»Sie kamen doch erst vor wenigen Wochen her-«

»Das ändert an meinen Prioritäten nichts«, antwortete Rhun trocken, während sie eine Treppe aufwärts nahmen.

Cruoren waren pflichtbewusst. Ihre eigene Bequemlichkeit war irrelevant. Man musste stets arbeiten können.

Drahl schaute zu ihm auf. Er faltete die Hände hinter dem Rücken. Die Kleidung, die er trug, war ansehnlich verziert; die Brosche poliert. »Wünschen Sie, dass ich mich derweilen um die Belange in Weyfris kümmere?«

»Die Stadt wird in Ihren Händen liegen. Denken Sie logisch, bevor sie handeln. Fehler können zum Untergang hunderter Leben führen.«

»Das Vertrauen, das sie in mich setzen, ehrt mich.«

»Vertrauen ist eine Emotion.«

»Korrekt. Verzeihung.« Der andere Cruor blieb stehen — als erwarte er eine Kosequenz, oder Strafe.

Rhun drehte sich langsam um und zwang sich, bestmöglich, zärtlich und doch nüchtern zu klingen: »Dunkle Zeiten erfordern notwendigen Zusammenhalt, Veu Drahl. Ich appeliere auf Ihre Vernunft.« Und auf Drahls Menschlichkeit... Die jeder Cruor scheinbar besaß.

Es war fast ironisch: einem Menschen würde Rhun niemals vertrauen, die Stadtwacht zu kontrollieren.
Einem Cruoren hingegen — der nur geringfügig weniger naiv war — vertraue er das Leben von ganz Weyfris an.
Die Denkweise, dass Cruoren die intelligentere Rasse war, hatte ihn offensichtlich nicht ausgelassen.

»Das ehrt mich, Veu Rhun.«

»Sie sind zu jung, um solche Verantwortung tragen zu müssen. Aber Sie werden an der Aufgabe wachsen.« Er öffnete die Tür zu seinem Büro. »Bevor ich sie schnellstmöglich in die wesentlichen Aufgaben einweihe, werde ich recherchieren müssen, wann die nächsten Boote nach Brus ablegen.«

»Für Sie würde mit Sicherheit ein separates Boot fahren, Veu.« Drahl blieb neben dem Bücherregal stehen. Seine Finger krallten sich in die Kante. Er schaute aus dem Fenster heraus, dann zurück zur Tür, wieder zu Rhun.

»Haben Sie Angst?« Rhun hasste, dass er klang, als würde er Drahl provozieren wollen — oder, als würde er den jungen Cruoren zwingen wollen, seine Gefühle zuzugeben.

»Ich bin mir nicht sicher, wieso ich eine solche Zurückhaltung vor der Aufgabe habe, Veu. Ich befürchte, ich habe tatsächlich Angst. Das sollte ich nicht haben. Es tut mir Leid.«

»Nun, aber Sie haben es«, raunte Rhun. »Weil es sehr viel mehr zu erklären gibt, was unsere Welt angeht.«

Seele eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt