Kapitel 6;1 - Von Totgeglaubten

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Eos erhob sich von den Ruinen, die zur Vorsiedlung von Brus gehörten.

Wie Efeu rankelte Ruß an den Stützbalken entlang. Direkt an die Gebäude schloss sich die Stadtmauer an. Der gewaltige Klotz war mit den Häusern verschmolzen und bildete das einzige Gemäuer, was geblieben war. Raues Gestein schoss in den Himmel und stellte nicht nur eine Trennlinie zwischen Tod und Freiheit, sondern auch Gehorsam und Leben dar.

Nebel waberte wie eine Haube über den Dächern. Dahinter ließen sich kaum die Türme erkennen, die der Stadt ihr prägnantes Bild verschafft hatten.

Deutlich war hingegen der Mond — eine perfekte Sichel, die vom Himmel herabgrinste, als erkenne sie Eos Gedanken. Und selbst die Sterne wussten in ihrer Melancholie die Schwäche, die sie war. Heimweh nach einem Ort zu haben, der nie ein Heim war, glich einer unerwiderten Liebe.

Die junge Frau rieb sich die Arme.
In ihren Knochen hämmerte ein tauber Druck, seitdem sie aus der Stadt geflohen war. Wann immer sie den Mauern näher kam, so wie jetzt, wandelte es sich zu dem unbeschreiblichen Schmerz, der wie unzähligen Nadelstichen war.

Sie sprang vom Wagen, um sich in der Dunkelheit einzuebnen, die sich hinter den Hausgerippen hervortat.

Ein tatsächlicher Nachtschwärmer war sie geworden. Bisher hatte Eos in der Nacht nicht ihren Herzschlag gesehen, doch mittlerweile boten die Schatten Schutz — und so ging sie tatsächlich unter, wie ein Tropfen im Ozean.

Sie hatte gelernt, sich einzuebnen. Es war eine Fähigkeit, die sie in Brus schon benötigt hätte. Die Masse hatte Schutz geboten — auch wenn jeder aufkeimende Individualismus erstickt worden war.

Dennoch konnten sich viele Wesen nicht von der Stadt trennen. Sie schliefen auf dem Boden, in Karren, oder Nischen. Wann immer man durch die alten Handelswege schritt, stolperte man über Personen, die schliefen; ihre Gesichter wie blanke Scheiben. Es gab keinen Ausdruck für ihren Kummer. Ein Blick auf die zerstörte Hafenstadt genügte.

Mittlerweile hatten sich Eos' Augen an die trüben Eindrücke gewöhnt, die sich an Brus streckten.

Sie hatte schon viel Elend gesehen — in der Stadt; in der Nacht ihres Untergangs und danach.

Am Morgen nachdem alle Lichter erloschen waren, hatte sie sich einer Gruppe Wachmänner angeschlossen. Noch in der Dunkelheit früher Herbststunden wurden einige Cruoren aus den Mauern gerettet. Die Monster konnten mit Fackeln ferngehalten werden — fast alle hatten es lebendig herausgeschafft.

Seither waren alle Stadttore geschlossen.

Eos patrouillierte aus eigenem Interesse vor dem Haupteingang, nur um mit Entsetzen festzustellen, dass es kaum Flüchtlinge mehr gab — wenn überhaupt, kamen diese nur in der Nacht. Sobald die Sonne schien, froren alle Bewegungen hinter den Mauern ein.

Der violette Mantel, in den die Häuser gehüllt waren, wurde fest wie Eis und reflektierte die Sonne. Es waren die Stunden, in denen alles normal schien.

Wenn der Tag anbrach, verstummten Monsterschreie und Hilferufe. Dann war die Stadt nur noch eine Stadt, der der Hauch des Lebens fehlte.

Jetzt, wo die Sonne untergegangen war, hörte man raue Stimmen — so schrill, als würde Luft aus einem Gefäß entweichen.
Das Geräusch vertrieb jeden, der noch einen gesunden Verstand hatte.

Eos wandte sich ab — und fixierte einen Turm in der Ferne, auf dem eine Statue des Cruorengotts thronte.

Mit jedem Schritt stieg das Unbehagen. Sie beschleunigte, bis sie fast in einen Lauf verfiel. Bald schon rannte Eos an den Strand, dort, wo Flüchtlingsboote lagen... Und dort, wo Nahrung garantiert war. Mittlerweile sollten tiefe Schatten auf den Stegen liegen und kriminelle Taten versteckt halten.

Seele eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt