Monate waren vergangen und der Winter übermannte die Stadt. Schnee fiel seit Tagen vom Himmel, Frost heftete sich an die Fensterscheiben und die Glätte auf den Straßen bremste den Handel aus. Die wenigen Menschen, die sich herauswagten, hatten eindeutige Gründe — und selten war dieser, zum Arzt zu gehen.
Seitdem das Wetter jedes Leben dominierte, hatte Scarlett die Praxis nicht verlassen.
Sonst war es regelmäßig Turem gewesen, der sie eingeladen hatte, ihn auf nächtlichen Ausflügen zu begleiten — oder ihn zu unterstützen, wenn er Hausbesuche abarbeitete. Doch der Cruor hatte sich eines Nachts eingeschlossen.
Niemand, außer seine persönliche Assistentin — eine Cruorin, die seit einigen Mondphasen bei ihnen lebte — durfte ihn sehen.
Jedweder Betrieb in Weyfris wurde verlangsamt, als hätte der Schnee einen Keil in das Getriebe der Stadt geschlagen. Die Luftschiffe standen. Die Praxis hüllte sich in Stille und selbst in den entfernten Fabriken brannten keine Lichter mehr.
Die Experimente an den Monstern wurden pausiert; anderen Patienten wurde genehmigt, sich frei im Haus zu bewegen.
Zumindest war dies die letzte Anweisung, die sie von Turem erhalten hatten.
Doch die Freiheit wandelte sich schnell in Langeweile.
Während Jade Freundschaft mit einem Patienten schließen konnte, verbrachte Scarlett ihre Freizeit in der Bibliothek, die sich an Turems Wohnung anschloss.
Neben ihr vibrierte ein gläserner Globus — seine Klänge weckten sie stets auf und ließen ihre Konzentration aufkeimen. Vielleicht bildete sie es sich ein, jedoch fühlte es sich so an, als werden jede kreativen Gedanken in diesem Raum erstickt. Da blieben nur Fakten, Bücher und das gebannte Starren auf gedruckte Schrift.
Die wohltuenden Töne des Globus prallten an den Wänden ab und donnerten durch ihre Ohren.
Es war eine merkwürdige Konstruktion, die kaum in den Raum hineinpasste.Turems Bibliothek wirkte allgemein nicht, als sei sie fester Teil des Stadthauses. Stattdessen erinnerten hohe Decke, violett-getönte Fenster, Säulen, Gemälde, Turm und Marmor eher an eine Kathedrale.
Besonders der Turm passte nicht ins Bild. Er erstreckte sich westlich. Eine ungeeignet-morsche Wendeltreppe schlängelte sich hinauf.
Bisher hatte sie die Kammer dort nicht betreten. Der Turm galt als Turems persönliches Studierzimmer.Scarlett war nicht neugierig, jedoch irritiert darüber, dass Turems Assistentin dort verschwand, als sei es selbstverständlich.
Und auch an diesem Abend kam die weiß-häutige Cruorin — deren Name ebenso geisterhaft war, wie ihr Aussehen — aus dem Turm herunter.
Sie zog eine Schleppe hinter sich her. Ihr Blick fand über einen Stapel Bücher auf die Formwandlerin. »Wie es mir scheint, sollten wir beide zukünftig zusammen arbeiten. Wir begegnen uns immer wieder.«
Das stimmte. Wann immer Scarlett aus den Laboren kam, stießen beide Frauen zusammen.
Anfangs wirkte die Cruorin beinahe wie eine Spionin, wenn ihre feingliedrige Gestalt hinter Regalen und Ecken verschwand.
»Vae Seel. Guten Abend.« Scarlett ließ ihren Kopf wieder nach unten schnellen.
Vor ihr befand sich ein Wirrwarr aus Büchern — von Kräutern, zu Gerätschaften, bis über zu Berichten über die Monster aus Brus.Die Zeichnungen der Kreaturen waren abschreckend-gewaltig über eine Seite gezeichnet worden.
Es war fast unrealistisch, wie schnell man in der Forschung dieser Wesen vorangeschritten war. Während sie in der Praxis nur Ergebnisse ausgewertet hatten, sind schon erste Artikel erschienen, die behaupteten, eine Medizin sei nah.
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Seele eines Cruors
Fantasía»Für die, die leben, ist der Tod nicht greifbar!« Der Untergang von Brus hat Existenzen zerstört. Flüchtlinge verteilen sich in den umliegenden Dörfern, kriminelle Gruppen bilden sich und die Hafenmetropole wird zum Brennpunkt des Schreckens. Chase...