Kapitel 23;4 - Mit den falschen Mitteln

17 6 4
                                    

Rhun hatte den Schürhaken schon nach oben gestreckt, um auf das Monster einzuschlagen.

Doch vor ihm kniete ein Kind; ein verängstigtes, weinendes Mädchen, das die Knie an den Körper gezogen hatte und ihren verseuchten Arm als Waffe missbrauchen wollte.

Er starrte auf die menschlichen Tränen, die ihre Wangen benetzten; die grauenvolle Infektion, die ihr Antlitz verunstaltete.

Turem riss ihm den Schürhaken aus der Hand. »Sind Sie wahnsinnig?«, keifte er. »Wollten Sie das Kind gerade umbringen?!«

Rhun schaute nur auf seinen Unterschenkel herab, wo das Biest ihn soeben infiziert hatte. »Ich wurde schon wieder von einem Monster gebissen«, war das einzige, das er sagen konnte. Und dieses Mal würde sich die Wunde definitiv ausbreiten. Definitiv würde er zum Monster werden. Sie würde ihn dahinraffen lassen, ihn somit umbringen.

Jetzt sah auch der Arzt auf das Kind hinab und schlug die Schranktür wieder vor dessen Nase zu. Er wirbelte zu Seel herum. »Das Kind ist infizert.«

Rhun ignorierte die weinenden Laute aus dem Schrank. Er wandte sich erneut an Turem: »Sie hat mich ebenfalls angesteckt.«

Der Cruor schwieg lange. Schließlich nickte er langsam. Seine Stimme war fast zu gleichgültig. »Ich gebe Ihnen Medikamente, die sie einmal am Tag einnehmen und dann breitet sich das nicht mehr aus.«

»Ich- Was? Ich möchte nicht mein Leben lang Medizin nehmen. Dieses Ding-« Hat Angst gehabt. War ein Kind. Wollte sich nur verteidigen.

Rhun hasste Empathie. Sie machte ihn viel zu verwundbar. Dieses Kind wollte ihn umbringen.

»Sie müssen es nur so lang einnehmen, bis wir eine endgültige Heilung gefunden haben. Versprochen, Veu Rhun.« Turem hockte sich vor den verschlossenen Schrank, so, dass er auf der Augenhöhe des Mädchens wäre. Nur eine töricht-dünne Schicht Holz trennte die beiden voneinander. »Hey«, sagte er donnernd. Die Stimme eines Cruoren.

»Ich habe Angst.«

»Wir sind hier, weil deine Eltern gerade noch unten sind. Es gab ein Problem.«

»Ich habe meine Mutter schreien gehört.«

»Ja. Aber es ist alles in Ordnung«, log Turem. »Warum bist du hier eingesperrt?«

Die Antwort war offensichtlich: Sie war das Kind der beiden Eigentümer. Sie war infiziert worden. Die Eltern wussten nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollten, und da sie eine Gefahr war, hatte man sie eingesperrt.

»Ich habe Angst«, sagte sie nach schwammiger Erklärung.

Turem verlagerte das Gewicht auf seinen Fersen. »Wir werden die Tür öffnen, wenn-«

»Was?«, keifte Rhun.

Turem streckte seine Hand nach hinten aus, um ihm zu suggerieren, dass er innehalten sollte. »Unter der Bedingung, dass du niemanden verletzt. Wir sind Cruoren.«

»Der Mann vorhin nicht.«

»Doch. Er sieht nur anders aus. Und du hast ihn verletzt.« Turems verfluchte Hand wanderte zu dem Griff hinauf.

Rhun war zwiegespalten darüber, den Arzt wegzuziehen, den Raum zu verlassen und das Risiko einzugehen in Monster hineinzulaufen; oder so viel Abstand wie möglich zu gewinnen.

Er gesellte sich zu Seel — bemüht, nicht verängstigt auszusehen.

Die Schranktür öffnete sich. Das Kind krabbelte heraus; die infizierte Hand hinter ihrem Rücken verborgen. »Ich habe-«

»Ist in Ordnung.« Turem ging rückwärts — noch immer auf ihrer Augenhöhe. Er hielt den Schürhaken zwischen sie. »Wie bist du vom Monster gebissen worden?«

Sie sah sich um, als habe sie den Raum noch nie gesehen. Ihre Haare waren ordentlich geflochten und sie trug saubere Kleidung. Scheinbar wurde ihr öfter Auslauf gewährt. »Ich habe gespielt und meinen Ball im Gebüsch verloren. Als ich reingefasst habe, hat es meine Hand gepackt.«

Rhun war müde. Müde von den schmerzhaften Geschichten, den furchtbaren Schicksalen, seinem eigenen Leid. Er wollte schlafen — oder aus diesem Albtraum aufwachen. Er brauchte eine Pause. Sein Herz raste, der Raum schien immer kleiner zu werden und seine Beine brannten wieder. Konzentration war ein unmögliches Gut. Er brauchte eine Auszeit.

»Ich möchte zu meiner Mutter.« Das war eine Aussage, die Rhun so nur unterstreichen konnte.

Lediglich zeigte das Kind seine Angst, wie man es von einem Menschen erwartete: Zitternd, mit unruhigem Blick. Sie sah Rhun an und formte eine Entschuldigung mit den Lippen.

Eine Entschuldigung wahrscheinlich dafür, dass sie ihn umbringen wollte.
Er starrte nur  — wusste nicht, wie seine Mimik aussah und bereute, ihr nicht ein verzeihendes Lächeln geschenkt zu haben. Nicht, dass sie es verdient hatte. Aber vielleicht brauchte sie es — brauchten Menschen das?

Das Kind war schon länger lebendig, als er. Das Leben bestand aus einer Aneinanderreihung an Gefühlen. Und diese hatte er erst seit einigen Tagen. Eigentlich hätte sie Rücksicht auf ihn nehmen sollen — nicht umgekehrt.

»Das geht gerade nicht«, sagte Turem.

Das Mädchen schützte sich mit ihrem Arm, machte sich immer kleiner.

»Ich kann dich leider nicht umarmen«, fuhr er fort.

»Was ist denn unten passiert?«

»Das wissen wir zur Zeit noch nicht«, erklärte Seel, die ein wenig vortrat. »Ich weiß, dass wir angsteinflößend aussehen, aber das sind wir nicht. Wir bleiben die Nacht hier. Du bist allerdings sicher. Wir passen auf.«

Rhun spürte nichts als Panik — und bildete sich ein, innerhalb dieser Nacht zu sterben, nur, weil dieses kleine Ding ihn gebissen hatte. Seine Gedanken waren unlogisch.
Er hockte sich auf den Boden; hatte nicht einmal genug Kraft, sich auf das Bett zu setzen.

Mit den Fingern fuhr er die Hörner nach, die aus seinem Gehstock herauskamen.

»Ich will-« Das Kind weinte, anstatt fortzufahren.

Die drei Cruoren beobachteten sie unbeholfen dabei. Turem hatte den Schürhaken — begründet — auf das Monster gerichtet.

Seel warf die Hände nach oben. »Ach, bei den Göttern«, grummelte sie. Sie schob Turem zur Seite. Dann drückte die Cruorin das Monster an sich — in ihre Arme, wie eine Mutter, die ein Kind hielt.

Rhun kniff die Augen zusammen, lehnte sich an  den Schrank zurück.

Seels zierliche Statur hatte sich um das Kind gelegt. Mit der Hand hielt sie den infizierten Arm fest; er lag in ihrem Griff, wie ein simpler Stock. Die Cruorin streichelte über ihre Haare und gab dabei bedeutungslose Laute von sich.

Außerhalb des Raums suchten die Monster nach ihnen. Glücklicherweise stand der Schrank — und außerhalb ein Tisch — vor den Türen. Sie wären hier sicher.

Hoffte Rhun, zumindest. Noch einmal gebissen zu werden, konnte er sich nicht leisten.

Ihm war gänzlich egal, was mit den Eigentümern unten geschehen war. Hauptsache die Monster würden zur Dämmerung wieder verschwinden.

Zumindest diese Monster. Die eigenen Geister, die seinen Kopf heimsuchten, würden ihn definitiv noch lang plagen.

Oder vielleicht waren sie alle Monster. Immerhin waren sie Cruoren.

Seele eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt