Kapitel 25;1 - Verlangen nach Heimat

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»Harding«, grüßte Rhun den dürren Mann, der auf dem Sofa vor einem Kamin saß. Er las eine der Zeitungen, die Seel ihm zuvor ausgehändigt hatte.

»Wusstest du«, begann der, bevor er das gefaltete Papier nach vorn streckte. Er sah über seine Schulter zu Rhun. »Dass deine Cruoren-Kameraden verbotene Schriften lesen?«

»Das betrifft mich nicht«, gab Rhun ehrlich zu.

»Du siehst schon wieder aus, als ob ich deinen Seelsorger spielen müsste.« Chase klang nicht mehr so, als würde er sich darüber ärgern. Es war kein Hass in der Stimme, nur die nüchterne Note einer Feststellung.

»Wenn du erlaubst?« Er setzte sich ihm gegenüber, auf dem gepolsterten Sessel, wo ein störendes Kissen in seinem Rücken lag.

Turems Einrichtungsstil war erschreckend menschlich — was Sinn ergab, wenn man seine Emotionen bedachte. Die Schränke waren verziert; die Türgriffe mit Gravuren geschmückt und die Holzwände mit Lack veredelt.

Rhun wusste nicht, wohin er seinen Blick zuerst wenden sollte. Er hatte sich noch nie im normalen Wohnbereich aufgehalten. Und Harding anzusehen erschien ihm ebenso makaber, wie die Statue des Cruorengotts Allerick, die hinter ihm stand.

Mit einem Mal schwang Chase seine Beine über die Armlehne. Er murmelte: »Ich habe gehört, dass du draußen warst. Und dass Monster dich eingesperrt haben?«

»Hast du auch gehört, dass ich von einem Monster gebissen wurde?« Rhun sah den Mann nur an. Als dieser die Augen aufriss, fuhr er fort: »Es war ein infiziertes Kind, das mit seinem Arm in mich reingestochen hat.«

»Was hast du mit ihm gemacht?«

»Nichts«, antwortete der Cruor langgezogen. »Seine Eltern sind den Monstern zum Opfer gefallen und wir haben es alleingelassen. Das ist Strafe genug.«

»Allerdings.«

Rhun wechselte das Thema: »Wie geht es dir, nach dem Tod von dem jungen Herrn?«

»Caden«, sagte Chase, nickend. »Ja, naja. Lauf der Dinge. Was weiß ich.«

»Kann ich dir helfen?«

»Du ganz sicher nicht. Es reicht, wenn die Monster verschwinden und nicht noch mehr Leute sinnlos sterben.«

Diese Worte donnerten fast in Rhuns Kopf. Er musste sich zurücklehnen —in das Kissen, das plötzlich angenehm-einladend wurde. »Das ist der Punkt, den ich mit dir besprechen wollte, tatsächlich.«

»Was hab ich denn damit zu tun, Cruor?« Hardings Grinsen war falsch — nicht hinterlistig oder unaufrichtig, schlichtweg gestellt, wie Rhun feststellen musste. »Ich bin's gewohnt, mein Leben vor euch zu schützen...Nicht vor irgendwelchen weiß-schwarzen Viechern, die mich um den Verstand bringen wollen.« Er hob die Hände. »Also ich bin bislang unangetastet. Mich haben die noch nicht gebissen.«

»Sei dankbar. Ich habe es zweimal hinter mir und muss Medizin einnehmen, um nicht wie sie zu enden. Das ist... überaus bedrückend und beängstigend.«

»Unnatürlich«, sagte Harding zusammenhangslos. »Unnatürlich ist das Wort, nach dem du suchst. So sollte es nämlich nicht sein.«

Leider stimmte das. »Ich bitte dich, sieh mich an. Alles an mir ist unnatürlich.«

Chase sah angewidert aus, als er ihn betrachtete. »Ich finde, die Hörner stehen dir. Normalerweise wärst du ein Kind in den Armenvierteln. Sie haben etwas ansehnliches aus dir gemacht.«

»War das... Humor? Das mit den Hörnern meinst du nicht ernst, oder?«

»Deine Hörner sehen lächerlich aus«, stellte Chase stumpf fest.

Seele eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt