Dolunays Herz lag noch am Abend schwer in ihrer Brust.
Es war eine Erfahrung, wie man sie nur durch Leid erhalten konnte. Sie hatte zu der Erkenntnis kommen müssen, dass alle Schätze — jede Ehre, jedes Wissen, die loyalste Freundschaft — vergänglich war. Irgendwann würde alles scheitern, und alles, was als Unvergesslich galt, würde ausgelöscht werden.
Am Ende der Zeit war Gewalt so viel Wert wie Liebe und Hass wie Zuneigung. Werte verloren ihre Bedeutung, wenn es niemanden gab, der sie einschätzte.
Oder Dolunay redete es sich ein, um sich nicht mehr schuldig zu fühlen.
Chase' Gruppe hatte sich am Feuer versammelt. Essen war serviert worden; es war warm; Lebendigkeit erleichterte die Gemüter und für einen Moment schien es fast, als sei alles beim Alten. Eine düstere Stimmung schwebte zwar noch zwischen ihnen, doch Dolunay war bemüht, es auszublenden.
Die Leute von Asche trieben sich im Hintergrund herum, kochten dabei; andere summten Lieder. Nicht eine Person wagte sich zu ihnen.
Es war eine strikte — wenn auch unausgesprochene — Trennung vorgenommen worden.
Sie wurden umgangen, als seien sie gefährlich.Daher blieben die Gespräche in der Gruppe. Und so unangenehm wie das Gerede begonnen hatte, hatte Dolunay schnell beschlossen, nicht mehr zuzuhören. Stattdessen ließ sie ihren Blick in die Ferne schweifen.
Abseits vom Schein der Feuer stand Rhun. Der Cruor hatte die Arme vor dem Körper verschränkt, während er mit dem Kind redete.
»Das ist eine elendige Ratte«, unterbrach Chase die Diskussion, die frisch entstanden war.
Der Abend war von Gesprächen durchzogen, in denen die Themen schnell gewechselt wurden:
Brus, Folter, der Priester, die Cruoren, Asche und ihre Gruppe, Hardings Verbrechen... bis sie schließlich bei Eos angelangt waren.Auf Hardings Stirn pulsierte eine Ader, sobald ihr Name gefallen war. Niemand durfte über die Nachtschwärmerin reden — das Vertrauen war wackelig. Seitdem sie ihm in den Rücken gefallen war, hatte sich seine gesamte Gruppe aufgelöst.
»Ich will nichts mehr hören«, fügte er hinzu. »Ich hoffe, dass ich ihr nie wieder begegne. Ich hoffe noch mehr, dass sie es nicht aus dieser verfluchten Stadt rausgeschafft hat.«
Asche tauchte hinter ihm auf. Im Schein des Feuers sah die Frau um einiges älter aus. Die Falten wurde deutlicher — doch sprachen keinesfalls von einem verbitterten Gemüt. Sie hatte etwas Mütterliches an sich.
Mit einigen kurzen Bewegungen wuschelte sie durch Chase' Haare. »Dein Wutausbruch ist immer noch nicht abgeklungen, wie es aussieht. Geht's wenigstens deinen Wunden besser?«»Lass mich in Ruhe, Sichel. Ich hab-«
»Chase« Sie zog seinen Namen spielerisch lang und lehnte sich auf seinen Schultern vor. »Beruhige dich.«
»Ich bin nur-«
»Verzweifelt«, ergänzte sie.
»Nein, ich bin-«
»Verzweifelt«, sagte sie erneut. »Ich kenn' dich nicht anders. Aber das ist auch verständlich.« Sie ließ sich neben ihn auf den Baumstumpf fallen. Sie klopfte sich Staub von der Hose. »Aber sieh's positiv, du bist nicht alleine. Du hast deine Freunde noch.«
»Habe ich das?« Harding sah zwar nicht zu Dolunay, aber sie wusste, dass diese Frage ihr galt.
Der Cruor bewegte sich zu ihnen. Seine Schritte waren staksig-groß und so musste der Bursche laufen, um mithalten zu können.
»Du hast doch was auf dem Herzen. Nun hau's raus.« Asches große Augen hatten etwas treues, wachsames. Sie konnte zwischen ihren Persönlichkeiten springen, wie niemand anderes.
Mal war sie ernst, ruhig und durchdacht; dann gefühlvoll und aufgedreht und ab und an erkannte man etwas anderes — das Dolunay nicht benennen konnte.
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Seele eines Cruors
Fantasy»Für die, die leben, ist der Tod nicht greifbar!« Der Untergang von Brus hat Existenzen zerstört. Flüchtlinge verteilen sich in den umliegenden Dörfern, kriminelle Gruppen bilden sich und die Hafenmetropole wird zum Brennpunkt des Schreckens. Chase...