Kapitel 5;1 - Innere Rebellion

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Dolunay starrte mit aufgerissenen Augen.

Ein fremder Mann war in Rhuns Armen zusammengebrochen.
Der Cruor hatte sich an einen Baum gelehnt und verharrte wie versteinert. »Was«, hauchte er. Er wippte auf die Fersen zurück und verlagerte sein Gewicht.

Die Aart hielt weiterhin ihre Waffe gezückt — besonders als ihr auffiel, was da in seinen Armen lag.

Ein anderer Cruor. Ein Fremder. Mit schäbiger Haut, die von Blut verfärbt war.

Dolunay hauchte fassungslos: »Kennen Sie ihn?«

»Ich-« Rhun stieß den Verwundeten von sich, dass dieser regungslos auf den Boden fiel. Er wischte sich die Hände an der Hose ab; hob den Gehstock auf. Er stellte sich vor den Körper und schaute zu ihm herab.
»Declan«, seufzte er schließlich.

»Was?«, fauchte Dolunay. Das, was sie erst für ein Schimpfwort gehalten hatte, schien ein Name zu sein.

Der Mann auf dem Boden rollte sich zusammen. Für einen Cruoren sah er unheimlich verwundbar aus. An seiner Stirn war die Haut abgeplatzt und entbehrte rohes Fleisch. »Rhun... Man hat mich-« Er streckte seine Finger nach ihm aus. Blut rann in seinen Ärmel. »Mein Freund...«

»Freund?«, fragte Dolunay. Die Klinge pendelte zwischen ihren Beinen.

Rhun ballte die Hand zur Faust. Er seufzte einmal mehr — eine kleine Wolke löste sich in der Luft vor ihm auf.

Die Winde waren beißend-kalt geworden. Der Verwundete zitterte heftig. Seine Glieder schienen steif zu sein. Er bewegte die einzelnen Finger, als seien sie Teile einer Maschine.

Rhun antwortete schließlich: »Kein Freund.«

»Soll ich...« Dolunay wollte ihn nicht töten — sie wusste nicht, ob sie es dürfte. Doch irgendein verschrobener Teil an ihr wartete auf Rhuns Befehl. 

»Wie würde Harding reagieren, wenn wir einen Cruoren in die Siedlung bringen würden?«

Gerade als sie antworten wollte, kam ein frischer Windstoß, der sie zum Zittern brachte. Dolunays Aufmerksamkeit pendelte zwischen der Richtung, in der Brus lag; zum Lager am Fuß des Bergs. »Ich denke, hier sollten wir darüber nicht reden.«

»Würden Sie ihn Schwierigkeiten geraten, wenn Sie mir helfen, Declan zu den anderen zu bringen?«

Sie wusste es nicht. Ihre Fingerspitzen kribbelten vor Tatendrang. Zwei Cruoren — jene Rasse, die sie als Unterdrücker kennengelernt hatte... Und nun wollte einer ihren Rat und der andere ihre Hilfe. »Er braucht Medizin«, stellte sie daher nur fest.

Vielleicht lag es daran, dass sie ihre Jugend — und damit auch vieles, das ihre Einstellung auf die Welt geprägt hatte — nicht unter der Gewalt der Cruoren verbracht hatte, doch sie teilte den blinden Hass nicht. Vielleicht allerdings lag es auch daran, dass die letzten Ereignisse sie sensibilisiert hatten.

»Ich vertraue ihm allerdings nicht.«

Das konnte man niemanden. Doch Dolunay schaute durch ihre Haare zu Rhun auf. »Ich denke nicht, dass er in diesem Zustand Umstände bereiten könnte.«

»Dann kennen Sie Declan nicht.«

Dieser röchelte. Der Cruor zog die Knie an seinen Körper. »Ich habe dir nichts- dir nichts getan.«

Dolunays Herz wurde schwerer.

Declans Blut verfärbte bereits das Gras unter sich. Er streckte eine wackelige Hand aus und legte sie vor sein Gesicht.

Sie hob beide Brauen. »Veu, was wollen Sie mit ihm machen?«

»Er hat es eigentlich nicht verdient«, nuschelte er kopfschüttelt. Ohne sich umzusehen, ging er in die Hocke und nahm den Cruoren auf seine Arme.
Rhun ließ den Gehstock hinter sich zurück und wankte den Trampelpfad entlang.

Seele eines CruorsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt