Kapitel 44 ~ Albtraum

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»Lyn!«

»Fass mich nie wieder an!«, schrie ich mit peinlich weinerlicher Stimme.

Ich sollte stark sein und diese Demütigung erhobenen Hauptes hinnehmen, doch traf mich dieser Betrug einfach zu sehr. Mein Herz war nur noch ein Scherbenhaufen, der weggekehrt werden musste. Noch mehr Tränen rannen meinen Wangen hinab, als sich die bernsteinfarbenen Augen hinter ihm zu giftgrünen Iriden verwandelten.

Selena ...

Ich schloss meine Augen. Kniff sie fest aufeinander, bis kleine lila Punkte vor ihnen tanzten. Keinen der beiden wollte ich anblicken, sonst müsste ich diesem Betrug ins Auge sehen und es wäre real ...

»Lyn!« Diesmal rüttelte er sogar an mir. Es war so, als wollte er mich aus einem bösen Albtraum wecken. Mir wurde klar, dass es einer war und aus diesem konnte mich niemand mehr befreien, vor allem nicht Sebastian.

»Lyn!«, schrie er schon fast und rüttelte noch stärker an mir.

Diese enorme Kraft riss mir den Boden unter den Füßen weg und ließ mich in ein tiefes Loch fallen. Die Splitter meines kaputten Herzens flogen quer durch meinen Körper, hinterließen kleine heiße Schnittwunden in meiner Seele, die kein Arzt der Welt nähen könnte. Ich ruderte panisch mit Armen und Beinen, während das Nichts kein Ende nahm.

Aus der Ferne hörte ich jemanden verzweifelt nach meinem Namen rufen.

Dann plötzlich die Erlösung. Ich tauchte in eiskaltes Wasser, doch statt der zu erwartenden Nadelstiche umhüllt es mich, wie eine wärmende Decke. Es drang in meine Poren, kämpfte sich durch die Mauer meines Schmerzes und sammelte die größten Scherben meines Herzens zusammen, nur um diese dann wieder zusammenzusetzen. Puzzleteil für Puzzleteil, bis nur noch die feinen Splitter, welche sich immer weiter in meine Seele bohrten, übrig blieben.

Sobald das letzte Teil an seinem Platz saß, erfasste mich ein Sog, der mich an die Oberfläche trieb. Dort prasselten feine Regentropfen auf mich herab, die mich dazu zwangen endlich die Augen zu öffnen.

Zuerst war es die ruhige graue See, der ich entgegenblickte. Beruhigend fiel der Regen auf dessen Oberfläche. Danach war es nur noch Christian. Besorgt fuhr er mir mit einer Hand durch mein Haar, während die andere noch auf meiner Schulter lag.

Er hatte mich versucht zu wecken ...

Gleichzeitig mit der Erkenntnis übermannte mich eine unerwartete Übelkeit. Bevor ich jedoch auf dem Bett erbrechen würde, rannte ich ins Bad. Kaum hatte ich den Deckel der Toilette hochgeklappt, konnte ich es nicht mehr halten. Das Abendessen ergoss sich in die Keramikschüssel, Magensäure verätzte mir die Kehle und mein Magen zog sich mit jeder Portion krampfhaft zusammen, bis es keinen Inhalt mehr in mir gab.

Völlig erschöpft und mit geschlossenen Augen ließ ich mich gegen die Wand sinken. Ich hatte einfach nicht die Kraft, mich selbst auf den Beinen zu halten. Die Kälte der Fliesen ließ mich erschaudern. Ich konnte sie deutlich durch den dünnen Stoff meines T-Shirts spüren. Dachte ich noch eben an die wohlige Wärme zurück, die mich umgeben hatte, wollte ich sofort wieder zurück zu ihr. Wie auch immer sie entstanden sein mochte, hatte ich mich in ihr wohlgefühlt, trotz des üblen Traums.

Es war passiert ...

Er war die Erinnerung, vor der ich mich am meisten gefürchtet hatte. Diese Angst war der Grund, warum ich ungern neue Leute kennenlernen wollte. Jeder einzelne hätte in mir etwas auslösen können. Allerdings hatte ich mir die Konfrontation mit der Wahrheit immer sehr viel schmerzhafter und zerstörerischer vorgestellt, stattdessen fühlte ich mich taub, wie in Watte gepackt.

Strong and SelflessWo Geschichten leben. Entdecke jetzt