Kapitel 36/ Wahllose Vergangenheit

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Jetzt sitzen wir hier also

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Jetzt sitzen wir hier also. Auf einer bequemen Couch, in dunkler Nacht und eisiger Kälte. Wind weht uns laut um die Ohren und bunte Herbstblätter landen vor meinen nackten Füßen, die ich an mich gezogen habe. Ein Joint klimmt zwischen meinen Fingern, während Rauch aus meinem Mund quillt und ich die Augen benommen schließe. Immer noch pocht mein Herz wie verrückt, doch beruhigt mich Lucians Arm um meine Schultern etwas, sodass ich ruhig atmen kann. Getrocknete Tränenspuren zieren meine rot glühenden Wangen und mein zerzaustes Haar ist herzlos, mit einer Klammer nach oben gesteckt. Ich habe keine Kraft dazu, jetzt in irgendeiner Art und Weise gut auszusehen. Alles, was jetzt zählt, ist Lucians Anwesenheit und die beruhigende Stille um uns herum.

Als ich den Joint zurück zwischen meine Lippen stecke und den Kopf langsam nach links drehe, erkenne ich Lucian, der ebenfalls eine Zigarette raucht. Weicher Rauch schwebt aus seiner Nase, hinaus in die kühle Luft der Nacht. Mir hängen die Worte im Hals, die ich vorher nie geschafft habe, loszuwerden. Immer wieder bin ich dran gescheitert Cherry oder Tom endlich von meinen Gefühlen und Gedanken zu erzählen, doch heute scheinen sie mir bis zum Hals zu stehen. Der ganze Druck dieser Worte, die endlich von meiner Seele fallen wollen, schnürt mir den Hals zu und ich puste den Rauch meines Joints eilig aus. Leise fange ich an zu husten, was Lucian dazu bringt, den Kopf zu mir zu drehen. Sein Blick findet meinen und ich weiß nicht, in welches seiner wunderschönen Augen ich schauen soll.

"Grün oder Braun?", frage ich leise und erkenne das leichte Zucken seiner Mundwinkel, die auf ein kleines Lächeln deuten. Lucian öffnet seinen schönen Mund und sagt mir, in welches Auge ich sehen soll.

"Braun. So wie das schöne Gold- braun in deinen matten Augen, Mariposa", antwortet mir seine raue, tiefe Stimme. Sie klingt abgenutzt und ich frage mich, wie lang er schon in der eisigen Kälte des Herbsten sitzen mag. Mein Blick schweift jedoch trotzdem zu seinem rechten Auge, das sich sofort mit meinem verhakt. Wir lassen einander nicht mehr los, und der Drang, Lucian die Worte aus meiner Seele in die Hände zu legen, wird riesig. Ich stehe von der Couch auf, spüre die Wärme von Lucian plötzlich nicht mehr an meinen Schultern und schnippe den gerauchten Joint von seinem Balkon. Dann drehe ich mich um, finde erneut seinen Blick und halte mich dran fest, während sich meine Nägel in das eiserne Geländer des Balkons krallen. Und dann beginne ich das zu erzählen, von dem ich nie gedacht hätte, es ein zweites Mal in den Mund zu nehmen.

"Ich war neun Jahre alt, als meine große Schwester in eine Depression geraten ist. Sie hieß Amira, hatte langes hellblondes Haar und tiefblaue Augen, die mit jedem Tag ein bisschen leerer wurden. Amira sah aus wie unsere Mutter, die damals immer für uns da war. Für unseren ältesten Bruder, für Amira und für mich. Unsere Eltern waren bekannte Anwälte, arbeiteten jedoch so oft es ging zu Hause und vermieden Verhandlungen in anderen Städten oder Staaten. Mein Vater und meine Mutter waren rundum für uns da und wenn es mal brenzlig wurde, sprang unsere Haushälterin und gleichzeitig Kindersitterin Anika für sie ein. Alles war perfekt, bis es Amira immer schlechter ging. Sie begann nichts mehr zu essen und entwickelte zusätzlich der Depression eine Magersucht und Angststörungen, die schwere Fortschritte machten. Ständig versuchten wir sie aufzuheitern, was nur wenig klappte. Unsere Eltern kauften uns dreien jeweils ein Pferd, weil wir alle Tiere liebten. Amira war nun oft am Stall und ritt mit ihrem Haflinger Storm oft aus. Nur wussten wir nicht, dass sie jedes einzelne Mal an einer alten Holzhütte anhielt und sich verbrannte. Ihre wunderschönen, braun gebrannten Oberschenkel waren übersät von Brandwunden, die wir erst bemerkten, als Amira 14 Jahre alt war. Zu spät", spreche ich leise. Meine Stimme zittert, genau wie mein Körper, der sicher bald nachgibt. Doch ich werde jetzt nicht aufgeben und auch meine letzten Worte endlich loswerden.

Bad Neighbor | Don't Lose Your HeartWo Geschichten leben. Entdecke jetzt