Nachdem Lestat weg ist, starre ich auf das Hemd und weiß nicht so recht, ob ich lachen oder weinen soll. Zuerst macht er so ein großes Drama daraus, dass ich sein Hemd anhatte und nun gibt er es mir sogar freiwillig. „So ein...!"
Ich stocke kurz. Schuft? Bastard? Das eine Wort ist mir zu weich und das andere zu heftig. „Ah!"
Wütend stampfe ich mit dem Fuß auf dem Boden auf, als wäre ich ein kleines Kind. Am liebsten würde ich das Hemd in tausend Teile zerreißen. Aber dann überspanne ich den Bogen wieder.
Wenigstens bin ich nicht mehr bei Ote. Also gehe ich zum Hemd und hebe es auf. Unschlüssig schaue ich an meinen Armen herab. Ich habe Angst, dass ein Verband vollblutet und ich noch sein Hemd dreckig mache. Dann hat er wieder einen Grund, um auszurasten.
Seufzend setze ich mich auf das Sofa. Dort ist immer noch das zerrissene Kleid von mir und ich drehe es etwas hin und her. Dann lege ich es einfach ein wenig über mich, um mich nicht wieder so schrecklich nackt zu fühlen.
Die Piraten wissen genau, wie mies wir uns Frauen fühlen, wenn wir nackt sind. Nur aus diesem Grund zerreißt er immer meine Kleidung. Weil er mich einfach restlos erniedrigen will. Selbst, wenn er nicht da ist.
Ich drehe mich suchend um. Irgendwo war das das Cremepöttchen mit der Salbe. Aber ich finde sie nirgendwo. Wahrscheinlich wurde sie für Guilia benutzt. Trotzdem gucke ich am Bett nach, ob sie dort vielleicht ist.
Dort finde ich sie auch, aber es ist fast leer. Und ich kann nun auch nicht zu Enrico gehen, um neue Salbe zu holen. Ich muss einfach hier bleiben. Immerhin habe ich doch gestern noch darum gebettelt, wieder zurück zu ihm zu dürfen.
In dem Käfig konnte ich ja nicht meine Flucht planen. Aber wenn ich es nun übertreibe, dann lande ich am Ende wieder bei Ote. Und das schaffe ich nicht. Obwohl Lestat manchmal unberechenbar ist, so hat er auch Zeiten, in denen er völlig normal ist. Momente, in denen ich mit ihm reden kann.
Ich werde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Schreie höre. Nicht ganz so viele Schreie, wie das eine Mal. Und es ist auch nicht so laut. Aber ich ahne, dass da wieder Frauen auf dem Deck sind und vergewaltigt werden. Ich glaube sogar, ich höre Marie schreien. Aber da irre ich mich bestimmt.
Die Salbe stelle ich wieder bei Seite und schaue auf das Bett. Die letzten Tage habe ich so unglaublich schlecht geschlafen und die Müdigkeit übermannt mich beinahe. Aber ich will nicht im Bett schlafen. Was, wenn ein Verband verrutscht? Wenn ich aber wieder auf der Chaiselongue einschlafe und er mich einfach hochhebt...
Meine Gedanken drehen sich im Kreis. Aber meine Müdigkeit siegt, also gehe ich zum Sofa, lege mich vorsichtig hin und falle augenblicklich in einen tiefen Schlaf, während mein zerrissenes Kleid mir als Decke dient.
....
Ich werde wach, weil etwas an meinen Haaren zieht. Sofort schlage ich meine Augen auf. Lestat sitzt neben mir auf dem Sofa und nimmt seine Hand weg. Hat er etwa mit meinen Haaren gespielt? Sein Blick wirkt ernst, weil sich direkt eine Falte zwischen seinen Augenbrauen bildet oder denkt er gerade nach?
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Von Sklavenhändlern verschleppt
Historical FictionWir schreiben das Jahr 1771. Alisea de Marchand hat beinahe alles, was sich eine junge, adelige Frau nur wünschen kann. Zumindest glaubt man dies auf dem ersten Blick. Sie ist jung, reich und hübsch. Und einem Grafen versprochen, den sie nicht heir...