Teil 43

1.4K 26 0
                                    

Mit zittrigen Händen ziehe ich zum fünften Mal einen Lidstrich über meinem rechten Auge. Die Nacht war furchtbar. Ich habe eigentlich nur geweint und irgendwann nach ein paar Stunden sind mir die Augen vom zu vielen Weinen zugefallen, sonst hätte ich heute wahrscheinlich gar kein Auge zugemacht.
Ich sehe Riley nach wie vor hier, verschwitzt und mit Tränen in den Augen stehen. Verdammt. Ich wollte in diesem Moment nichts mehr, als ihn in meine Arme zu schließen und nie mehr loszulassen, aber das wäre unmöglich gewesen. Riley hat mich im letzten Monat nur benutzt und ich bin es absolut leid, sein Punchingball zu sein, nur weil er nicht mit seinem eigenen verkorksten Leben zurechtkommt.
Er hat es verdient, flüstert mir mein Gewissen zu. Zu gerne würde ich ihm glauben, aber irgendwie hat mein dummes und naives Herz nicht den Plan, ihn so schnell zu vergessen.
Der erste Schritt ist auf jeden Fall, dass ich aus dieser Firma rauskomme.
Ja, das ist der Plan.

Nach dem sechsten Mal sitzt mein Lidstrich und ich bereue es jetzt schon, mich überhaupt geschminkt zu haben, da mir schon wieder Tränen in die Augen steigen.
Ich muss Alex und Alexandra zurücklassen, obwohl ich gerade das Gefühl hatte, dass ich angekommen wäre mit echten Freunden und einem echten Leben und einem Job, den ich im letzten Monat lieben gelernt habe. "Fuck", sinke ich auf die Knie und schlage mir die Hände vor mein Gesicht.
Mein Handy rettet mich, bevor ich in meinem Selbstmitleid versinke.

Hey :) Ist alles klar bei dir? Gab's gestern noch Probleme mit Riley, weil du dich nicht mehr gemeldet hast? Das war eine einmalige Sache und ich wäre froh, wenn wir das einfach wieder vergessen könnten - Amir.

Ich seufze. Nein, unter keinen Umständen kann ich jemals vergessen, was gestern in Rileys Büro passiert ist, und ich wünschte, dass ich mit jemandem über diese Sache reden könnte, denn es frisst mich langsam innerlich auf.
Schnell stopfe ich mein Handy in meine Tasche und gehe aus meiner Haustür.
Ich lasse mir mehr Zeit auf dem Weg zu Rileys Lieblings-Coffeeshop, denn seinen Kaffee werde ich ihm heute auf jeden Fall ein letztes Mal bringen.

Ich stelle mich in die Schlange. "Ihre Bestellung?", reißt mich eine breitlächelnde junge Dame hinter der Tresen an.
Ich kämpfe mir ein Lächeln ab. "Ich hätte gerne einen großen Kaffee. Schwarz und ohne Zucker, bitte."
Die Verkäuferin nickt und bereitet den Kaffee zu.
Währenddessen blicke ich mich in dem kleinen Café um. Es sieht gar nicht so aus, als würde Riley hier öfters hingehen.
Die Leute hier sind keine Anzugträger, sondern nur ganz normale Menschen wie ich.
"Hier, bitte", lächelt die Frau und reicht mir den Becher mit dem dampfenden Kaffee. Ich nicke ihr freundlich zu, gebe ihr das Geld und trete wieder aus dem Laden. Ich weiß nicht, ob ich für das Alles bereit bin.

In der 33. Etage laufe ich schnurstracks auf mein Büro am Ende des Ganges zu.
Bevor ich mir meinen Mantel ausziehe, stelle ich den Kaffeebecher für Riley auf meinen Schreibtisch. Danach klopfe ich an der Tür. Alleine die Tür bringt mir eine Gänsehaut und ich hab keine Ahnung, wie ich mit meinen Gefühlen noch klarkommen soll.
Er antwortet nicht. Komisch. Um diese Uhrzeit müsste er schon längst hinter seinen unendlich vielen Akten sitzen.
Ich öffne die Tür und strecke die Brust heraus, bevor ich eintrete.
Das Büro ist leer und es macht nicht den Anschein, als wäre hier heute schon irgendjemand gewesen.
Langsam gehe ich rückwärts wieder aus dem Büro und stoße mit Alexandra zusammen. "Hoppla", lacht sie auf. Ich ringe mir ein Lachen ab, dass sich falsch in meinem Mund anfühlt. "Hey, sorry", atme ich aus, "Wo ist denn der Boss?"
Alexandra schaut auf den Boden. Was ist los mit ihr? Ich stoße ihr in die Seite und sie atmet tief aus. "Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo er ist. Ich hab nur gehört, dass er sich heute krank gemeldet hat. Das ist total ungewöhnlich, weil ich noch nie mitbekommen habe, dass er überhaupt jemals einen Tag in der Firma gefehlt hat, außer natürlich er war auf irgendeiner Reise, die mit der Firma zu tun hatte."
Fehlt er etwa meinetwegen?
"O-okay", bringe ich nur heraus und setze mich hinter meinen Schreibtisch. Alexandra streichelt mir über die Schulter und winkt mir, bevor sie wieder aus dem Büro herausgeht.

Ich zücke sofort mein Handy und tippe wild darauf herum.

Riley hat nichts Schlimmes gemacht, außer dass er halt Riley ist, aber dagegen gibt es noch kein Heilmittel so weit ich weiß.

Ich schüttle den Kopf über meine Möchtegern witzige Nachricht.

Ich kann das gestern nicht vergessen und ich glaube, dass es besser wäre, wenn wir nur Freunde bleiben würden, tippe ich weiter in mein Handy und bei jedem Satz schnürt sich meine Lunge ein Stückchen weiter zu.
Amir war immer so gut zu mir und wollte nur das Beste für mich und er hat es nicht verdient, aber noch weniger hat er verdient, dass ich ihn hintergehe und verschweige, dass ich Gefühle für meinen eigenen Boss entwickelt habe.
Rileys Satz kommt mir in den Kopf. Du spielst nicht fair. Du hast Amir betrogen.
Ich reiße die Augen auf und schlucke tief. Verdammt, er hat recht. Ich bin kein Stück besser. Deswegen hängen wir vielleicht auch aneinander... wir sind einfach beide total verkorkst.
Schnell schüttle ich den Kopf und versuche, zu vergessen, was ich mir gerade in meinem Kopf zusammengesponnen habe. Er ist schuld, denn er hat mich verführt. Jedes verdammte Mal.
Ich versende die Nachricht und schmeiße mein Handy wütend auf meinen Schreibtisch. "Verdammte Scheiße", murmle ich vor mich hin und vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. "So viel Wut am Morgen?", reißt mich eine allzu bekannte Stimme aus der Starre.
Riley steht vor meinem Schreibtisch. Er sieht aus, als wäre der gestrige Abend niemals passiert. Seine Haare sind perfekt zurückgegelt und sein Anzug sitzt perfekt. Etwas zu perfekt, wenn man mich fragt, aber schließlich fragt mich keiner.

UnmoralischWo Geschichten leben. Entdecke jetzt