Milan
"Und wenn ich sehr schnell aufstehe, rauscht es manchmal im linken Ohr." Nachdenklich kniff die ältere Dame ihre faltigen Augen zusammen. "Und eigentlich auch im rechten Ohr."
Ich faltete meine Hände vor dem Gesicht und warf einen wiederholten Blick auf ihre Patientenakte, die mir auf dem Monitor zu meiner Rechten angezeigt wurde.
"Hatten Sie denn mittlerweile einen Termin bei dem HNO-Arzt vereinbart, für den ich Ihnen beim letzten Mal die Überweisung ausgestellt habe?", fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits erahnen konnte.
Die Dame zupfte sich den Kragen ihrer Bluse zurecht und druckste herum: "Ja, also das wollte ich." Mit schmerzverzerrtem Gesichtsausdruck, den ich ihr nur zur Hälfte abkaufte, starrte sie mich an. "Herr Doktor, ich habe da angerufen, aber die Sprechstundenhilfe war so unverschämt. Wie die mit mir gesprochen hat, das können Sie sich nicht ausmalen."
"Okay, ich verstehe." Mit einem resignierenden Nicken griff ich einen Kugelschreiber aus dem Halter sowie einen Zettel. "Es gibt ja glücklicherweise nicht nur einen HNO-Arzt in dieser Stadt. Ich notiere Ihnen die Nummer einer sehr kompetenten Kollegin ..."
Ein Räuspern erklang.
"Mit einer sehr netten Sprechstundenhilfe", ergänzte ich, woraufhin ein erleichtertes Aufseufzen folgte.
"Vielen Dank, Herr Doktor."
"Kein Problem." Ich reichte ihr den Zettel. "Ich kann Ihnen wirklich nur nahelegen, einen Termin zu vereinbaren. Auch Ihr Schwindel kann in Verbindung mit dem Ohrensausen stehen. Wenn das Gleichgewichtsorgan im Innenohr beeinträchtigt ist, kann dies zu den von Ihnen geschilderten Symptomen führen."
"Jaja." Sie winkte mit dem Zettel und ich fragte mich einmal mehr, warum ich mir die Mühe machte, überhaupt noch etwas zu erklären.
"Eine Sache noch Herr Doktor." Ihr Stuhl rückte näher an den Schreibtisch, der uns trennte. "Mein Ohr tut ab und an auch etwas weh. Können Sie mir da nicht etwas von diesen Mittelchen verschreiben? Diesen Benzodiazepinen oder wie die hießen ..."
Ich lehnte mich auf meinem Bürostuhl zurück. Dieses gerissene Biest. Daher wehte also der Wind.
"Beruhigungsmittel sind wohl kaum das adäquate Mittel gegen leichte Ohrenschmerzen." Mein Kiefer knackte. Ich war doch nicht ihr verdammter Drogendealer.
"Ja, aber manchmal werden die Schmerzen schlimmer und die helfen mir doch immer so gut. Auch mit dem Gemüt."
"Die Risiken einer Abhängigkeit stehen in keinem Verhältnis zu den Beschwerden", entgegnete ich.
"Aber Herr Doktor ..." Es folgte ein weiterer unsäglicher Monolog. Fast zehn Minuten dauerte es, bis die Arzthelferin und ich die Dame aus meinem Büro gelotst hatten. Ohne ein Rezept selbstverständlich.
Genervt rieb ich mir die Schläfen und bereitete mich auf die nächste Sprechstunde vor.
"Manche Patienten, ne?" Mit einem Lachen sortierte Famke, wahrscheinlich die Arzthelferin mit der größten Engelsgeduld in unserer Praxis, die Gerätschaft auf der Theke. Sie war immer dabei, sobald die zu untersuchende Person weiblich war. Selbstverständlich zum Eigenschutz und nicht dem meiner Patientinnen. In einem gewissen Keller wäre dies wohl anders ...
"Holst du bitte die nächste rein." Mein Ton klang forscher als beabsichtigt. Doch auch ich konnte meine Gereiztheit nicht durchgehend verstecken. Vor allem nicht, nachdem ich gestern den ganzen Tag mit Schrubben und dem Beseitigen von Spuren der vorletzten Nacht beschäftigt war.
Während Famke zur Tür eilte, überflog ich die Patienteninformationen auf dem Bildschirm.
Blabla weiblich Blabla 20 Jahre Blabla Beschwerden über Kopfschmerzen und Übelkeit ...
Ich zog eine Augenbraue hoch. Ihr Alter ließ mich stutzen und auch die Symptome könnten nicht unspezifischer sein. War nicht aktuell Prüfungsphase an der Uni? Erst heute Morgen hatte ich zwei BWL-Studenten auf der Matte gehabt, die aufgrund von sehr unspezifischen Kopfschmerzen unbedingt ein Attest brauchten. Mein Kiefer spannte sich an. Vielleicht sollte ich anfangen Geld für diese falschen Atteste zu nehmen. Diese kleinen Minikapitalisten hatten durch Papis Kanzlei oder Unternehmensberatung bestimmt Kohle ohne Ende.
"Hallo?" Eine helle Stimme ließ mich aus den Gedanken fahren.
Famke lehnte wieder an der weißen Theke und grüßte die neue Patientin höflich.
An der geöffneten Tür stand eine zierliche Person mit langen dunkelbraunen Haaren und stechend hellgrünen Augen. Sie lächelte entschuldigend und hätte dabei nicht unschuldiger aussehen können.
Nach kurzer Musterung musste ich mich teilweise korrigieren. Es war lediglich die Farbe ihrer Augen, die stechend war. Ihr Blick war so weich, dass man sich fragte, ob seine Trägerin überhaupt schon einmal in ihrem Leben einer Fliege die Flügel gekrümmt, geschweige denn eine Blume gerupft hatte.
Wieder im selben eintönigen Trott gefangen, wiederholte ich – nur mit anderem Nachnamen – wie ein Anrufbeantworter: "Hallo Frau Sapor, bitte setzen Sie sich doch."
Die Gestalt, in Leggins, eine weite Bluse und noch weiteren Cardigan gehüllt, schlich auf leisen Sohlen zu dem Stuhl mir gegenüber. Könnte auch eine Jurastudentin sein.
"Was führt Sie denn heute zu uns?"
Kaum hatte sie sich gesetzt, musterten mich zwei jadegrüne Abgründe. Sie schien mit etwas zu hadern. Statt einer Antwort schwieg sie mit zusammengekniffenen Lippen – ihr Blick noch immer an mir fest geeist. Doch ich hatte weder Zeit noch Nerven für ein Ratespiel.
Gerade wollte ich meine Frage wiederholen, da sprach sie: "Ja, also ich war bisher bei einem anderen Hausarzt, aber das hat einfach nicht mehr funktioniert."
Hatte er ihr keine Atteste mehr ausgestellt?
"Was sind denn Ihre Beschwerden?", lenkte ich zum eigentlichen Thema zurück.
Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. "Ich ... ich habe Kopfschmerzen. Also seit ein paar Tagen. Immer mal wieder."
Ich nickte langsam. "Wann treten diese auf?"
Sie grübelte, dann erhellte sich ihr Gesicht. "Meistens beim Lernen oder generell, wenn ich lange am Schreibtisch sitze. Mir wird dann auch ein wenig übel. Heute war es besonders schlimm. Ich musste mich erstmal hinlegen und fühle mich auch gerade nicht so gut."
Mein Kiefer knackte. "Sie brauchen also ein Attest für eine Klausur heute?"
Mit großen Augen sah sie mich an. "Nein, wieso?"
Ich kratzte mich am Kinn. War die Reaktion ehrlich? Sie wirkte wie jemand, der jedes Gefühl und jede Lüge sofort an der Nasenspitze abzulesen waren.
"Ist nicht aktuell Klausurenphase?"
Sie schüttelte den Kopf. "Meine war schon. Ich muss nur noch Hausarbeiten schreiben."
"Was studieren Sie?", fragte ich mit einem Funken ehrlichen Interesses.
"Kunstgeschichte."
Okay, keine Minikapitalistin, sie plante, arbeitslos zu werden.
"Spannend", gab ich zurück. "Also kein Attest. Können Sie die Kopfschmerzen etwas näher beschreiben?" Vielleicht litt sie tatsächlich an Migräne oder Spannungskopfschmerzen durch das ewige Sitzen am Schreibtisch.
Ihr Blick huschte kurz zur Arzthelferin, dann wieder zu mir. "Also wenn ich ehrlich bin ..." Sie rückte ein Stück näher und beugte sich über den Schreibtisch. Ein süßlicher Duft von Jasmin wehte zu mir herüber. Meine Haut kribbelte und ich ballte die Faust.
"Ich habe einmal gegoogelt und glaube, ich weiß, was es sein könnte." Das jadefarbene Meer wurde trüb. "Ich glaube, dass es ein Gehirntumor ist."
Meine Augen weiteten sich. Noch mehr, als mir bewusstwurde, dass sie es ernst meinte. Einen flüchtigen Seitenblick auf den Bildschirm werfend, fiel mir ein kleines, aber feines Detail auf, das mir zuvor entgangen war. Die Anzahl ihrer Arztbesuche in diesem Quartal.
"In meinem Bauch befindet sich auch ein Knubbel. Also er ist nicht immer tastbar, aber auf jeden Fall da und ändert auch die Form." Panik hatte sich in ihre Stimme gelegt. "Vielleicht ist das auch ein Tumor. Eine Metastase."
Vielleicht war es auch ein Pups, der quer lag.
Die Antwort schluckte ich jedoch runter und räusperte mich. "Nun wollen wir uns nicht das Schlimmste ausmalen. Sie sagten, dass Ihre Kopfschmerzen primär nach dem Lernen auftreten. Das ist eher asymptotisch für Hirntumore. Es kann gut sein, dass sie an Spannungskopfschmerzen leiden. Oder auch Migräne. Übelkeit ist übrigens ein Symptom, das häufig damit einhergehen kann. Wenn Sie wollen, kann ich gerne einmal Ihren Bauch abtasten und wir können dann über die weiteren Schritte sprechen."
Entgeistert klimperte sie mit den Wimpern.
"Wollen Sie das nicht?", fragte ich nach. Diese Patientin blieb mir ein Rätsel. "Ich kann auch gerne eine Kollegin holen, wenn Sie sich damit wohler fühlen." Lüge. Es war keine geeignete Kollegin da. Ich hatte aber auch nicht das Gefühl, dass es daran haperte, dass ich ein Mann war.
"Nein, das ist es nicht." Sie warf der Arzthelferin einen gequälten Blick zu. "Ich habe nur vorher ganz viel Wasser für die Pinkelprobe getrunken und ich fürchte, wenn hier jemand rumdrückt, dann wird es ... unangenehm."
Am liebsten hätte ich mir entnervt die Augen gerieben. Wollten mir denn heute alle die wertvolle Zeit stehlen?
"Dann gehen Sie eben noch auf Toilette und kommen anschließend wieder." Warteten ja nicht genug Patienten im Wartezimmer.
"Danke", wisperte sie und ihre rosigen Lippen hoben sich wie zu Beginn zu einem entschuldigenden Lächeln. Wieder spürte ich ein elektrisierendes Kribbeln. Wie kleine Stromstöße, die direkt in meine Nerven drangen und sie reizten. Sie reizte mich. Auf eine unerfindliche Art und Weise, die ich lieber nicht näher erkunden wollte.
Denn so hübsch sie war, so sehr ging sie mir in diesem Moment auf den Senkel. Angespannt sah ich ihrer Gestalt hinterher, die durch die Tür verschwand. Vielleicht hatte ich Glück und würde sie nie wiedersehen.
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...