Kapitel 13

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Ayla


Wie wild hämmerte mein Herz, als ich aufgeregt aus der Arztpraxis nach draußen stolperte. Prompt peitschte mir der eisige Wind ins Gesicht. Hätte er mich sonst genervt, hieß ich ihn dieses Mal willkommen und nahm einen tiefen Atemzug. Die klirrende Kälte füllte meine Lungen und kühlte meine glühenden Wangen. Was war da eben passiert?
Ich konnte es noch immer nicht ganz begreifen. Es war so kurz und intensiv gewesen. Vielleicht hatte ich es mir nur eingebildet. Eine Wahnvorstellung, die meinen ganzen Körper ergriffen hatten.
Nein. Es war real gewesen. Sofort beschleunigte mein Herzschlag wieder. Seine Lippen auf meinen, sein Duft, seine Hände, die über meinen Körper gefahren waren und mich beinahe dazu gebracht hatten, zu kommen. Peinlich berührt richtete ich meinen Mantel. Seine Finger waren so geschickt gewesen und ich wäre beinahe ausgelaufen. Und sein Ständer. Während sein Becken mich an den Schrank gedrückt hatte, hatte ich ihn gespürt. Leider war mein Versuch, ihm ebenfalls etwas Erleichterung zu verschaffen, an dem plötzlichen Auftauchen der Arzthelferin gescheitert. Wobei wir unheimliches Glück hatten, dass sie sich vor der Tür verquatscht hatte. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie ein paar Sekunden vorher reingekommen wäre. Auch wenn wir unsere Kleidung getragen hatten und nicht bis zur letzten Etappe gegangen waren, hatte jede unserer Poren Sex geschrien und ich wollte mir nicht ausmalen, wie mein Gesicht und Haar ausgesehen hatten. Auch wenn es nur wenige Minuten waren, war es mir durch Mark und Bein gegangen.
Er war mir durch Mark und Bein gegangen.
Etwas Dominantes hatte in seinen Berührungen gelegen. Etwas Bestimmendes, das jede meiner Bewegungen dirigiert hatte, während er meinen Körper mit seinem in Schach gehalten hatte. Und ich war ihm hörig gewesen, hatte mich ihm hingegeben wie eine Süchtige dem Rausch und wollte mehr. So viel mehr.
Mein Blick haftete an einem kleinen Vorgarten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Während der Rest der Pflanzen verkümmert vor sich dahin siechten, rankten sich zwei undefinierbare tiefgrüne Triebe umeinander, verwuchsen zu einem wilden Gewirr. Es handelte sich höchstwahrscheinlich im Unkraut, aber es sah so perfekt aus.
Ich musste lächeln. Milan und ich passten so gut zusammen. Unsere Körper hatten so gut miteinander harmoniert. Er ging mir unter die Haut, die Haare, bis an die Substanz. Und das wollte ich auch bei ihm. Mich in seinen Gedanken festkrallen und ihn tief in mir haben, bis er an nichts anderes mehr denken konnte.
"Ey, aufpassen!" Eine wütende Stimme riss mich aus den Gedanken.
Ich stolperte zurück. Beinahe hätte der Radfahrer mich umgenietet.
Erst da fiel mir auf, dass ich halb auf dem Radweg stand. Kein guter Ort, sich Sexfantasien hinzugeben.
Nachdem ich mich aus der Schusslinie begeben hatte, betrachtete ich den Zettel von Milan. Es waren zwei. Auf dem oberen Post-It stand der Name des Impfstoffs. Dahinter klebte ein weiterer Zettel.
Seine Handynummer.
Ich fühlte mich wie eine Teenagerin, die zum ersten Mal verliebt war. Ein Flattern wanderte durch meinen Bauch bis in meine Zehenspitzen. Sollte ich ihm jetzt direkt schreiben? Oder war das zu aufdringlich?
Ich rümpfte die Nase. Er hatte immerhin schon seine Finger in mir gehabt, also wenn das nicht aufdringlich war. Bei dem Gedanken wurden meine Knie weich.
Vielleicht sollte ich ihn nach einem Treffen fragen. Bei mir zuhause? Allerdings war Fee das komplette nächste Wochenende da. Ihr musste ich auch unbedingt von meinem neuen sexuellen Awakening in der Praxis erzählen. Aber erst einmal zurück zu Milan. In ein Restaurant oder wieder eine Bar wäre zum einen ziemlich langweilig, zum anderen konnte ich nicht schon wieder darauf pokern, dass er bezahlte, und in den Läden, die er frequentierte, konnte ich ihn unmöglich einladen. Ich war ein Stück weiter in Richtung U-Bahn gelaufen, als mein Blick an einem Plakat hängen blieb, das bereits vom Schaltkasten blätterte.
Kommendes Wochenende war ein Street Food Festival. Wenn das nicht ein Zeichen des Schicksals war.
Kurzerhand schrieb ich Milan bemüht lässig.
Ayla: Huhu, Ayla hier. War schön heute<3 Lust am Samstag zum Street Food Festival zu gehen?
Kaum hatte ich auf senden gedrückt, hätte ich mein Handy am liebsten weggeworfen. Oh mein Gott, wieso hatte ich ein Herz gemacht? Und Huhu? War ich zehn?
Ich hatte es total versaut. Schnell wollte ich die Nachricht löschen, da fiel mir ein, dass er die gelöschte Nachricht sehen konnte. Das war noch peinlicher. Ich stand kurz vorm Hyperventilieren.
Vor allem, als ich sah, dass er online war. Zwei blaue Haken erschienen.
Bis zum Bersten angespannt hielt ich mein Handy und starrte auf das Display. Dann verschwand das online. Bevor ich enttäuscht in die Knie sinken und vor dem U-Bahn-Eingang einen Nervenzusammenbruch erleiden konnte, klingelte mein Handy.
Milan?
Nein, es war meine Mutter.
Ich stöhnte auf. "Hallo?"
"Ayla? Bis du das?"
Mein Magen verkrampfte sich. Sie hatte getrunken.
"Ayla?", leierte sie meinen Namen erneut.
"Ja, ich bin es. Was gibt es?"
"Ah, sehr gut. Es is sso schlimm." Ein Heulkrampf erschütterte ihre Alkohol getränkten Worte.
Sofort sprang mein Mitgefühl an. "Oje, was ist denn los?"
"Dein Vater ..." Sie schniefte und ich hörte das Gluckern einer Flüssigkeit. "Er hat es schon wieder getan ..."
Für einen Moment grübelte ich.
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. "Aber ihr ward doch letztes Wochenende noch ein Herz und eine Seele ..." Die Situation überforderte mich wie jedes Mal.
"Jaaaa", heulte sie lauthals in den Hörer. "Das is diese Schlampe von Kollegin."
Ich schluckte. Eine Arbeitskollegin also dieses Mal.
"Sssie hat ihn verführt." Meine Mutter nahm lautstark ein paar Schlucke. "Diese Hure hat ssich an ihn rangemacht."
"Nun ja, er hat sich vielleicht auch verführen lassen", sagte ich vorsichtig.
"Er iss verheiratet und dieses Flittchen kann die Finger nich von ihm lassen."
Meines Erachtens war die Schuldfrage nicht so einfach geklärt. "Aber er ist derjenige in einer Beziehung. Er geht zum wiederholten Mal fremd. Er ist derjenige, der Mist gebaut hat."
Schweigen am anderen Ende der Leitung.
"Ich verstehe, dass du sauer auf sie bist", sprach ich mit leiser Stimme. "Aber du solltest sauer auf ihn sein. Er hat den Mist verzapft. Schon wieder."
Ein Räuspern war zu hören.
Zögerlich fuhr ich fort. "Vielleicht solltest du dir eine Auszeit nehmen und dich für eine Weile von ihm ... trennen."
Das Klirren von Glas war zu hören.
"Du verstehst ess mal wieder nich", jammerte meine Mutter. "Ich kann mich nich einfach scheiden."
"Ich meinte auch nicht scheiden. Nur vielleicht einmal eine Pause einlegen und schauen, ob diese Beziehung noch das richtige ist und du dich ohne ihn nicht besser fühlst."
"Eine Pause ... Und wass sollen die anderen dann denken?"
"Welche anderen?"
"Naa, alle anderen halt."
Ich fürchtete auch nüchtern, würde dieses Argument wenig standhalten.
"Nee, er muss sich entschuldigen", insistierte meine Mutter lallend. "Und diese widerliche Affäre muss weg. Ich will nich, dass sie mit ihm arbeitet. Die sollen ssie auss der Firma feuern. Solche Frauen machen ssich doch an alle ran. Widerlich. Dein Vater muss das auch endlich mal verstehen ..."
Ich seufzte. Wie so oft rannte ich gegen meterhohe Mauern. Früher hatte ich mich gefügt. Ich weiß noch, wie sie das erste Mal heulend mit einem Glas Wein und unzähligen Taschentüchern auf dem Sofa gesessen hatte, als ich von der Grundschule nach Hause gekommen bin. So recht verstanden hatte ich es nicht. Ich wusste nur, dass sie Recht haben musste. Sie war immerhin meine Mutter und hatte immer Recht. Während sie das nächste Glas Wein einschenkte und ich an einer Limonade nuckelte, schimpften wir auf diese bösen Frauen und meinen armen Vater, der einfach zu schwach war, sich zu wehren. Erst später, im Laufe der Therapie, nahm ich nicht mehr an ihren Hasstiraden teil.
Distanz hatte meine Therapeutin gesagt. Gar nicht so leicht, wenn man noch zusammenwohnte. Und gar nicht so leicht, wenn mir Mama doch so leidtat und ich ihre Wut so gut verstehen konnte. Erst später begriff ich, dass es nicht richtig war. Alles an der Situation war nicht richtig. Doch nur, weil man etwas begriff, hieß das nicht, dass man direkt danach handeln konnte. Distanz war immer mein Problem. Auch jetzt, wo ich nicht mehr bei ihnen wohnte.
Eine gefühlte Ewigkeit wetterte meine Mutter noch gegen die neuste Errungenschaft in puncto charakterlicher Schwäche meines Vaters, wobei sie ihn dermaßen in Schutz nahm, dass mir die Galle hochstieg.
Als das Gespräch endlich vorbei war, ließ ich mich auf ein Mäuerchen neben der Station sinken. Ich fühlte mich ausgelaugt. Wie immer nach unseren Gesprächen. Die eben noch empfundene Freude und das Herzrasen waren wie weggefegt.
Ich verstand, dass sie verletzt war, und es tat mir leid, dass sie in dieser Ehe feststeckte. Beide taten mir leid, dass sie noch immer daran festhielten. Doch wie schon als Kind konnte ich ihnen nicht helfen. Und ich wollte es auch nicht mehr. Ich wollte all diese giftigen Worte nicht mehr hören.
Ich sehnte mich wie damals nach Ruhe. Um mich herum und in meinem Kopf.
In dem Moment blinkte mein Display auf.
Milan: Passt. 17 Uhr?

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