Ensel
"Also, geile Mucke, ne?", wiederholte ich meine Frage.
Im Gegensatz zum letzten Mal sah Ayla ziemlich zerstört aus. Wieso schmierte man sich so viel Glitzer ins Gesicht? Und waren das an ihren Schläfen Schmetterlinge?
Auch wenn ich davon überzeugt war, dass sie drauf war – wie so ziemlich jeder hier auf dieser beschissenen Elektro-Trance-Möchtegernparty – musterte sie mich misstrauisch.
"Meinst du das ernst?" Sie schien mir meine musikalische Begeisterung wenig abzukaufen.
"Okay, erwischt", gab ich ehrlich zu und nahm einen Schluck Limo – auch wenn ne Flasche Bier verlockend war, musste ich klar bleiben. "Ich find's fürchterlich. Wie kann man auf dieses fake Gepiepe abgehen."
Ayla zuckte mit den Schultern. "Eher der Metalhead?"
"Rock", antwortete ich.
"Und was treibt dich dann hierher?"
Ich setzte ein gespielt leidendes Gesicht auf. "Meine Kumpels haben mich gezwungen." Ein theatralisches Seufzen dazwischenschiebend fuhr ich fort: "Weißt du, meine Freundin hat sich vor ein paar Tagen von mir getrennt und sie meinten, es könnte beim Ablenken helfen."
Aylas Gesicht wurde von einer Welle des Mitgefühls überschwemmt. Ich hatte wohl ins Schwarze getroffen.
"O mein Gott, wie bei mir."
"Nein? Waaaas?", rief ich schlecht gespielt und voller Entsetzen, wobei ich es auch ein stückweit fühlte. War sie doch nur die Gelegenheitsmatratze für Milan-Killerdoc?
Ich hoffte nicht. Irgendeine wertvolle Information musste sie mir mitteilen können, sonst wäre diese sauteure Karte für das schlechteste Poser-Festival aller Zeiten umsonst gewesen.
"Was ist passiert?", hakte ich nach. "Also nur, wenn ich fragen darf."
Ayla seufzte. "Es ist nicht so leicht, weißt du."
Ja, weil ihr Stecher, pardon Ex-Stecher ein fucking Mörder war.
"Ist es das nicht immer?", gab ich vage von mir.
Ayla nickte. "Ich glaube, die Situation ist doch etwas verzwickter." Ein verzweifelter Ausdruck füllte ihre Augen. Er ließ mich innehalten. War sie vielleicht auch ein Opfer?
"Hat er dich betrogen?", stocherte ich im vermeintlich Dunklen.
Sie schüttelte den Kopf, dann nickte sie.
Zwei grüne Augen fixierten mich. "Er hat etwas ziemlich schlimmes getan ..." Doch so schnell er gekommen war, verlor sie den Fokus wieder und starrte ins Leere. "Also nicht mir, wobei schon auch mir. Aber vor allem hat er anderen Menschen wehgetan."
Ich sog die Luft ein, genau wissend, was sie meinte. "Das ist echt mies." Ich überlegte, wie ich sie ein wenig mehr aus der Reserve locken konnte. Vorsichtig trat ich einen Schritt näher. Im Gegensatz zu den meisten anderen roch sie nicht nach Suff und Gras.
"Sorry, ich will dich damit nicht belästigen." Ihre Stimme war dünn geworden und ich meinte ein paar Tränen in ihren Augen zu sehen.
Traurig blickte sie zu Boden. "Ich kann halt nur mit niemanden reden."
Ermutigt legte ich meine Hand auf ihre Schulter. "Hat er dir das gesagt?"
Auch wenn ich nie der empathischste Typ war – mein Beschwerderegister bei der Polizei reichte wahrscheinlich von hier bis in die nächste Galaxie, wobei Leute einfach auch immer so verfickt sensibel waren ... aber selbst ich merkte, wenn jemand unter Druck stand. Und wer wusste, was dieser Serienmörder Ayla angetan und wie er ihr gedroht hatte. Allerdings musste ich, wie immer in solchen Fällen, auch hier Vorsicht walten lassen.
Ein leises Schniefen war zu hören. Anscheinend ließ der Rausch langsam nach.
Ihre schmalen Schultern sackten ein Stück ab. "Ja, mehr oder weniger. Er meinte, mir würde keiner glauben."
"Wow, das ist Gaslighting." Dieser Pisser legte auch immer noch eine Schüppe drauf.
"Hm, so habe ich es noch nicht betrachtet." Ayla kratzte sich am Kopf. "Ich glaube, er hat einfach Angst."
"Angst?" Wovor? Sich selbst um die Ecke zu bringen? Eigentlich keine schlechte Idee.
Ich sah, wie sie mich sich haderte. Da wurde es mir bewusst.
Er hatte sie komplett unter Kontrolle.
"Ich will nicht zu viel erzählen", murmelte sie, blickte mich dann mit ernsten Augen an. "Aber er hat viel Mist gebaut und er hat Angst, dass alles rauskommen könnte."
Worauf er seinen Arsch verwetten konnte.
"Was hat er denn gemacht?", fragte ich vorsichtig. "Also geklaut, Steuern hinterzogen oder irgendetwas anderes ... Illegales?"
Ayla schüttelte heftig den Kopf. "Nein sorry, aber das kann ich nicht erzählen. Nur, dass es wirklich schlimm ist, aber ..." Unwohl rieb sie sich die Arme. "Vielleicht könne wir lieber über etwas anderes reden? Was ist zum Beispiel mit deiner Exfreundin passiert?"
Am liebsten hätte ich ein genervtes Grunzen vom Stapel gelassen. Eine brauchbare Aussage, die ich gegen Milan nutzen könnte, würde ich nicht aus ihr herausbekommen. Er hatte sie bereits zu sehr unter seiner Gewalt.
Vielleicht brauchte es aber auch nur etwas Zeit. Sobald ich die Beweise am Start und er in Untersuchungshaft war, brauchte sie ihn nicht mehr zu fürchten. Eventuell könnte sie sogar eine wichtige Zeugin im Verfahren sein.
"Können wir gleich drüber reden, nur eine Sache noch", erwiderte ich. " Hast du das Gefühl, dass er die Scheiße wieder machen könnte? Also ich meine, jeder macht mal Mist ..." Natürlich nicht solchen Mist wie diese mordende Pissnelke. "Aber wir können ja aus unseren Fehlern lernen und uns verändern. Hast du das Gefühl, er könnte das tun?"
Bitte nicht.
Ein helles, höhnisches Lachen erklang. "Das denke ich nicht. Wahrscheinlich plant er schon den nächsten Mist."
Sehr gut, im Inneren gab ich mir selbst ein High Five. Sollte er schön seine nächste Tat planen, ich wäre am Start und würde dafür sorgen, dass es definitiv die letzte seines Lebens wäre.
"Wobei ..." Ihre Stimme wurde ein Flüstern und ich musste ihr noch ein wenig näher auf die Pelle rücken, um zu verstehen, was sie sagte. Jasmin. Das war der Duft, der sie umgab.
Ihre schmalen Finger umklammerten den Flaschenhals und rieben nachdenklich an diesem auf und ab. Scheiße, Bilder aus meinem Kopf. Bilder, aus meinem Kopf.
"Vielleicht kann ich ihn davon überzeugen, aufzuhören."
Geradeso schluckte ich den größten Lachanfall aller Zeiten runter. Ein wenig frustriert umgriff ich ihre Schultern und schüttelte sie, um sie aus ihrer strohdummen Illusion zu holen.
Verwirrt sah Ayla mich an.
Ich ließ direkt wieder los. "Tut mir leid, das sollte nicht übergriffig sein. Aber wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass sowas niemals, und zwar wirklich niemals klappt. Ich weiß nicht, was im Detail zwischen euch passiert ist, aber mein Tipp, mein ernstgemeinter Tipp ist: Halt dich von solchen Typen fern! Scheiße bauen, betrügen und dich dann isolieren und dazu bringen, mit niemanden zu reden. Das ist Oberabfuck."
Aylas Lippen rieben aufeinander. War ich zu ihr durchgekommen?
Immer stärker war ich davon überzeugt, dass sie eine wertvolle Zeugin sein könnte, sobald Damoklesschwert Degard nicht mehr bedrohlich über ihr schwebte. Aber dafür musste sie aus der Schusslinie. Es war ein wahres Wunder, dass Drecksmörder Milan sie noch nicht gekillt hatte.
Ein Paar glasiger Augen sah mich an. "Ich weiß nicht, ob ich das kann ..."
Verfickte Scheiße, er musste ihr sonst wie gedroht oder Angst eingejagt haben.
"Okay." Ich musste gelassen reagieren. Was hatte ich bei der Polizei gelernt? Wenn Leute, beispielweise Opfer häuslicher Gewalt, mauerten, musste man ihnen manchmal Raum geben. Auch wenn dies bedeutete, dass der Ficker von Partner oder Partnerin in der Zeit noch immer freie Hand hatte.
"Weißt du was?", entgegnete ich. "Ich gebe dir einfach meine Handynummer, okay?"
Ayla legte den Kopf schräg.
"Ich weiß, wie schwierig ne Trennung sein kann. Aber wenn du da mal quatschen willst oder so, dann meld dich einfach."
"Ich weiß nicht ..."
"Keine Sorge, ich stell keinen Scheiß mit deiner Nummer an. Mache mir nur Sorgen." Die machte ich mir tatsächlich.
"In Ordnung." Ayla holte ihre Hand hervor und reichte es mir. "Festival-Bekanntschaften sind ja auch meist die besten."
Ich schmunzelte. In ihrem Fall schon.
"Auf jeden. Vielleicht ist es sogar leichter mit jemand fremden zu reden als mit guten Freunden. Manchmal kann eine unabhängige Meinung mit etwas Distanz wirklich helfen." Nur, dass ich weder unabhängig war noch Distanz hatte.
Ayla nickte und ihre Lippen hoben sich, als sie ihr Handy zurücknahm. "Danke dir, Ensel."
Ich knetete die Hände. Worte, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte.
"Jetzt bist du aber auch mal dran", sagte sie. "Vielleicht kann ich dir auch eine unabhängige, distanzierte Meinung zu deiner Exfreundin geben."
Ich lachte. Ja, meine Beziehung.
Eine ganze verfickte Stunde später, in der ich ihr von Fake-Barbaras Untreue erzählt hatte und sie sämtliche meiner Aussagen therapeutisch seziert hatte, fragte ich mich, wie ihr überhaupt irgendjemand ein Problem anvertraute. Diese ganze Fragerei und nerviges Ausklamüsern ... typisch Frauen.
Mit einem Winken und weiterem "Danke" stakste Ayla irgendwann von dannen.
Ich blickte ihr hinterher. Auch wenn ich charakterlich nicht unbedingt so viel mit ihr anfangen konnte, musste ich anerkennen, dass sie eine tolle Figur hatte. Kein Wunder, dass Killer-Milan sie nicht um die Ecke brachte. Wenigstens nekrophil schien er nicht zu sein. Bei dem Gedanken warf ich einen kurzen Blick auf mein Handy. Der Peilsender, den ich ein paar Tage zuvor an seinem Wagen während der Arbeit befestigt hatte, verharrte unbewegt in der Garage. Sehr schön, nicht dass mir durch dieses miese Festival noch etwas entging.
Mein Handy zurück in die Hosentasche packend blickte ich erneut zu Aylas leichtbekleideter Figur, die in der Menge verschwand. Wäre ich ein psychopathischer Mörder hätte ich es wohl ähnlich wie der Folter-Arzt gemacht. Bumsen, aber nicht töten.
Aber glücklicherweise stand ich auf der anderen Seite. Ich tötete niemanden und ja, bumsen tat ich aktuell auch leider keinen. Aber das war auch scheißegal. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Ich war da, um Menschen zu helfen, sie zu beschützen und die arme Ayla bedurfte definitiv meines Schutzes.
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...