Ayla
Auch wenn ich Ensels Meinung schätzte, hielt sie mich nicht von meinen dummen Entscheidungen ab. In der Dämmerung des Abends stand ich auf der Einfahrt von Milans Haus. Ich konnte immer noch nicht begreifen, dass er mich einfach zurückgelassen hatte.
Ich war ihm egal. Zumindest so egal, dass er lieber seinen eigenen Hintern rettete, anstatt mir beizustehen. Und ich hätte es sogar verstanden. Er war auf der Flucht vor der Polizei. Natürlich wäre es eine Gefahr, wenn er durch wie auch immer geartete Ermittlungen ins Visier der Behörden geraten würde. Ich wusste immerhin auch nicht, welche Beweise zu den Personen, die er entführt hatte, vorlagen. Vielleicht fehlte ihnen nur noch die letzte Spur, das letzte verbindende Puzzleteil bei den elf ... nein, zwölf Vermisstenfällen.
Ich hätte es verstanden.
Aber wie hatte er nur vorschlagen können, Fee zu entsorgen, als wäre sie nichts. Ihren Mörder entkommen zu lassen. Ich wusste in welcher Doppelmoral, ich mich befand. Es war heuchlerisch. Der Widerspruch machte mich krank.
Erneut drehte sich mein Magen um. Wie in einer Abwärtsspirale gefangen, schossen die Bilder des massakrierten Mannes auf der Pritsche in Milans Keller durch meine Gedanken. Bilder von Fee, die in einer Lache von Blut lag.
Blut.
Es war alles voller Blut. Ich war voller Blut.
Auf den steinernen Platten sank ich in die Hocke und raufte mir die Haare. Zog an ihnen. Vielleicht würde der dadurch entstehende Schmerz mich rausziehen, aus dem tiefen Abgrund. Ich fühlte mich so einsam und verloren.
Die Tränen tropften auf den Asphalt.
Milan war nicht da.
Ich hatte Sturm geklingelt und angerufen. Aber er reagierte nicht.
Ein schmerzender Schluchzer entfleuchte meiner Kehle. Es war doch alles zum Heulen. Ich hatte alles verloren. Fee, ihn und mich. Ich hatte meine Moralvorstellungen über Bord geworfen. Und wofür? Für einen Mann, der mich nicht wollte. Für nichts.
Schniefend vergrub ich mein Gesicht in meinen Armen, als ich einen stechenden Schmerz in meiner Seite spürte.
Entsetzt tastete ich die Stelle ab. War da ein Knubel? Erneut schmerzte es.
Ich drückte tiefer. Wieder ein Stechen.
Panik glomm in mir auf. Meine Hand wanderte automatisch zu der anderen Seite meines Bauches. Akribisch tastete ich sie ab. Hier schmerzte es nicht so. Glaubte ich zumindest.
Auf der anderen Seite hingegen stach es erneut. Ich war relativ zügig hierhergelaufen. Ob es sich um Seitenstiche handelte? Nein, das fühlte sich nicht an wie Seitenstiche.
Meine Atmung ging stoßweise. Mit einem Plumpsen landete ich auf dem Hintern.
Blankes Entsetzen überrolte mich. Etwas stimmte nicht mit mir. Vielleicht hatte ich mir eine innere Blutung zugezogen, ein bisher unentdecktes Aneurysma, das geplatzt war.
O Gott, das konnte doch nicht sein.
Nicht hier und jetzt.
Ängstlich japste ich nach Luft, stand kurz vorm Hyperventilieren.
Normalerweise würde ich jetzt Milan anrufen oder ihm schreiben. Er würde mir versichern, dass es nichts Schlimmes sei. Und wenn er bei mir war, würde er beruhigend seine Arme um mich legen, mir über das Haar streichen und in mein Ohr flüstern, dass ich mir keine Sorgen machen brauchte.
Aber er war nicht hier.
Ich war allein.
Mein Herz hämmerte gegen meinen Brustkorb. Ein Husten mischte sich in meine panische Atmung. Vielleicht war es eine höhere Rache. Weil ich so ein furchtbarer Mensch war, ereilte mich nun eine Krankheit schlimmer als ein schneller Tod. Ich sollte so leiden, wie der Mann, der in diesem Keller gestorben war, während ich zugesehen hatte. Ich hätte es verdient. Aber ich hatte auch Angst.
Zitternd tastete ich erneut die Seite meines Bauches ab. Es tat immer noch weh. Säure kroch in meinen Magen empor und kletterte die Speiseröhre hinauf. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass das letzte bisschen Verstand aus meinem Kopf entwich.
Ich musste ins Krankenhaus, ich musst jemanden kontaktieren, mich von jemandem beruhigen lassen ...
Nein, ich werde dich jetzt nicht beruhigen, Ayla, hatte Fee damals gesagt. Eine alte, angestaubte Erinnerung schlich sich in meine panikgeplagten Gedanken von Leid und Tod. Ihre Miene war ernst gewesen, während ich mein Handy mit einem Beitrag zu irgendeiner Tumorart in meinem Browser geöffnet hatte und empört reagieren wollte.
Du musst das allein schaffen, hatte sie mit unnachgiebiger Stimme gesagt. Du musst lernen, dich selbst zu beruhigen. Denn was ist, wenn mal niemand da ist ...
Es war niemand da.
Doch statt einer weiteren Welle Trauer und Verzweiflung, wurde es für einen Moment klar.
Sie hatte Recht.
Fee hatte Recht.
Ich krallte meine Finger in meine Handinnenflächen, ballte sie zu Fäusten. Ich erinnerte mich an meine damalige Therapeutin – auch wenn damals alles anders war. Die Angst, die Panik ...
Das Gefühl von Panik kann sehr unangenehm sein, Ayla, hatte sie erklärt, aber es ist noch nie jemand daran gestorben oder verrückt geworden.
Ich atmete tief ein und hielt die Luft einen Moment gefangen.
Es ist noch nie jemand daran gestorben oder verrückt geworden ...
Mit geballten Fäusten entließ ich den Atem wieder und ließ die Angst wirken, die Panik über mich hinwegrollen. Mein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, dass die Schmerzen etwas Schlimmes bedeuteten, dass sie sogar meinen Tod bedeuten könnten. Die Bilder eines grauenhaften Endes prallten auf mich nieder und ich ließ sie. Wenn es so sein sollte, dann war es so.
Ich zitterte am ganzen Körper. Es war unangenehm, schrecklich.
Immer wieder dachte ich, es würde nicht mehr aufhören und ich war für immer in dieser Schleife gefangen. Wahnsinnig geworden vor Angst.
Es ist noch nie jemand daran gestorben oder verrückt geworden ...
Und tatsächlich, nach, ich weiß nicht, wie langer Zeit – Minuten oder Stunden – ebbte das Hämmern, die Übelkeit und sogar die Anspannung meiner Muskeln ab.
Still und leise ordneten sich die Gedanken in meinem Kopf. Erneut drückte ich in meine Seite. Es schmerzte, aber wahrscheinlich, weil ich minutenlang darauf rumgedrückt hatte.
Ich spürte, wie sich meine Lippen leicht anhoben und ein Hauch von Stolz sich in meinem aufgeregten Herzen breitmachte. Ich schaffte es allein. Vielleicht nicht immer so leicht, vielleicht auch nicht immer so gut. Aber es war ein erster Schritt.
Es ging auch allein, wenn ich es nur wollte. Und so wie die Angst unter Kontrolle zu bekommen, musste ich auch meine Entscheidungen allein treffen.
Schnaufend, als sei ich einen Marathon gelaufen, erhob ich mich. Kurz wurde mir schwarz vor Augen.
Ein Schwindel, der allerdings nach ein paar Mal Blinzeln und tiefen Atemzügen verschwand.
Ich stand wieder sicher auf meinen zwei Beinen. In Balance und Ordnung.
Und mir dämmerte etwas. So egoistisch wie Milan war, wusste ich genau, wo er war. Es hatte nichts gebracht zu klingeln, weil er überhaupt nicht zuhause war. Immerhin hatte er eine Leiche im Keller, die er entsorgen musste.
Und ich wusste in etwa, wo dies der Fall sein könnte. Ein Hof und ein Besitzer namens Ed.
Zügig fischte ich mein Handy hervor und googelte nach sämtlichen Bauernhöfen und landwirtschaftlichen Betrieben in der Gegend.
Es war Zeit, dem Ganzen ein Ende zu setzen.
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...