Ayla
Mit bebendem Brustkorb blickte ich in den Spiegel. Ich sah wahrhaft zerstört aus. Meine Haare waren zerzaust, meinen Wangen gerötet und Schweißperlen kullerten meine Schläfen hinab.
Ich hatte Milan geholfen, das Massaker von gestern im Keller zu beseitigen. Wie so oft hatte er versucht, mich von meinem Plan abzubringen, wollte, dass ich nach Hause gehe und alles sacken lasse. Aber ich wollte nicht. Was sollte ich zuhause? Auf dem Bett oder Sofa liegen und in der leeren Wohnung Löcher an die Decke starren? Etwas für die Uni tun?
Ein schales Lachen entfuhr mir. Als ob ich mich nach allem, was passiert war, auf meine Hausarbeit konzentrieren könnte.
Nein, ich brauchte körperliche Arbeit. Irgendetwas Stumpfen. Das Schrubben des Bodens kam da genau richtig. Außerdem wollte ich Milan nicht allein lassen ...
Nein, ich wollte nicht allein sein. Allein mit meinen Gedanken. Noch immer fühlte sich alles unwirklich an. Stumpf und wie in Watte gepackt.
Nachdem Milan und ich übereinander hergefallen waren und alles so intensiv und nah war, hatte sich danach ein Schatten der Leere über meinen Körper und meine Gedanken gelegt. Während er im Keller die Leiche zerteilt und in Säcken verstaut hatte, hatte ich ratlos auf dem Badezimmerboden gesessen. Mir wurde übel bei dem Gedanken, wie er den toten Körper "transportfähig" gemacht hatte. Das konnte doch alles nicht sein ...
Jetzt starrte ich die fremde Person im Spiegel an. Die Mittäterin. Die verdorbene, schlechte Ayla, die nicht nur einen Mord toleriert und die Folterung eines Menschen mitbeobachtet hatte, sondern dann auch noch bereitwillig mit dem Schlächter geschlafen hatte. Wobei miteinanderschlafen es wohl kaum traf. Ich beäugte die Striemen an meinen Handgelenken. Es war roh gewesen. Fast schon rabiat. Aber so sehr ich es auch abstreiten wollte, ich hatte es genossen und dafür sollte ich mich schlecht fühlen. Ich sollte mich für alles schlecht fühlen.
Doch das schlechte Gewissen blieb aus, schaffte es nicht durch die milchige Blase, in der mich während des Putzens und auch jetzt noch befand, zu brechen.
Schuld, Scham, Ekel, Moral und Angst. Das alles hatte nicht existiert in den Momenten, in denen Milan mich nahm. Doch früher oder später würden sie zurückkehren. Sie alle. Mit einer Wucht und Schwere, die mich bereits jetzt leicht erzittern ließ. Aber noch blieb es ruhig. Und so verharrte ich in diesem Augenblick der Stille. Es war die Ruhe vor dem Sturm.
"Alles in Ordnung?" Milans dunkle Stimme zerriss die angespannte Luft.
Ich zuckte zusammen und blickte zum Türrahmen. Nichts war in Ordnung.
Ich nickte.
"Du lügst", murmelte er und schien zu überlegen, ob er sich mir nähern sollte.
"Ich ...", setzte ich an, aber die Worte versiegten in meiner Kehle.
"Willst du lieber später duschen?", wechselte er das Thema zu etwas Unverfänglichem.
Ich schüttelte den Kopf. Noch immer klebte Blut an mir und ich stank nach Putzmitteln.
"Okay, ich warte draußen." Gerade wollte er sich umdrehen und gehen, da fand ich meine Stimme wieder.
"Warte." Sie klang dünn. "Geh nicht."
Milan legte den Kopf schräg. "Sicher?"
Ich nickte. Dieses Mal meinte ich es ernst.
Langsam schritt er auf mich zu. Sanft packte er meine Hand und führte mich zu der großen, ebenerdigen Dusche.
Kraftlos lief ich hinter ihm her, da ich selbst keinen Handschlag mehr tun konnte und wollte. Jede Bewegung war eine immense Kraftanstrengung und ich hatte das Gefühl, jeden Moment die Balance verlieren zu können. Obwohl es nur wenige Schritte bis zu der einzigen Quelle waren, die zumindest einen Hauch von Linderung versprach.
Ein Gefühl der Erleichterung durchfloss meinen Körper, als der lauwarme Wasserstrahl aus dem riesigen, an der Decke montierten Duschkopf auf mich hinabprasselte.
Dankbar legte ich den Kopf in den Nacken und öffnete die Lippen. Das erfrischende Nass wusch den Dreck, das Blut und zumindest einen Teil der Leere hinfort. Wie ein reinigender Wasserfall, durch den man einfach nur schreiten musste, um seine Schuld abzuwaschen. Wäre es doch so einfach.
Als ich den Kopf wieder nach vorne richtete, erblickte ich Milans Gesicht. Die unzähligen Tropfen machten es mir schwer ihn vollständig zu erkennen und ich musste blinzeln. Schniefend trat ich ein Stück zurück, um ihn besser sehen zu können und kein Wasser in die Augen zu bekommen.
Milan folgte mir, verharrte kurz unter den Duschstrahl und strich sich durch das Haar.
Ich lehnte mich gegen die gläserne Wand, da ich sonst das Gefühl hatte, meine Beine würden nachgeben. Mein nasses Haar wog schwer an meinem Kopf und auf meiner Haut.
Kurz schloss ich die Lider. Als ich sie wieder öffnete, stand Milan vor mir.
Seine indigofarbenen Augen glitzerten in den hellen Sonnenstrahlen, die von draußen hereinbrachen.
"Es tut mir so unendlich leid, Ayla." Die Worte klangen sanft und waren von Aufrichtigkeit durchsetzt. Dennoch war er darauf bedacht, mich nicht zu berühren.
Kurz presste ich die Lippen aufeinander. "Was genau tut dir leid?"
"Alles", erwiderte er.
Das war äußerst vage.
"Alles, was ich zu dir gesagt habe. Alles, was ich dir angetan habe."
Ich schmunzelte nervös. "Letzteres war ja von mir gefordert."
"Nein, ich habe Grenzen überschritten und das tut mir von Herzen leid." Seine Stimme klang ernst.
Einen Augenblick lauschte ich dem Plätschern des Wassers.
"Auch das im Keller?", stellte ich vorsichtig die alles entscheidende Frage.
Milans Schläfen zuckten. "Irgendwo tut es mir immer leid, aber ..."
"Aber du verdrängst es." Ein weiterer winziger Hoffnungsschimmer starb.
"Ich weiß nicht, ob ich es noch aktiv verdrängen muss." Nachdenklich strich er sich über sein Kinn. "Es ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, nicht über die Schuld nachzudenken, dass ... ich weiß nicht, ob ich noch ein Gewissen habe." Ein resignierender Ton hatte sich in seine Stimme geschlichen. Doch mittlerweile kannte ich ihn zu gut. Hörte auch die leisen Nuancen raus. Es war Betrübtheit, die mitschwang. Er war traurig.
"Du lügst", wiederholte ich dieses Mal seine Worte vom Beginn.
Überrascht sah er mich an.
"Du hast noch ein Gewissen und Reue", stellte ich klar. "Sonst wäre ich nicht mehr hier. Sonst würdest du jetzt nicht vor mir stehen und dich entschuldigen."
Ein gequältes Lächeln zierte seine Lippen, über die ein paar Wassertropfen perlten. "Aber reicht das?"
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die Frage hatte ich befürchtet. Reichte das? Konnte ich über all das hinwegsehen, was geschehen war?
Doch eigentlich war die Frage obsolet. Ich hatte drüber hinweggesehen. Nein, schlimmer. Ich hatte hingesehen. Vielleicht war es nicht der Mann hinter dem Monster, der mich anzog. Vielleicht waren es beide. Das Monster und der Mann.
Ich schluckte. Automatisch langten meine Finger nach Milans Arm, wollten ihn berühren, seine Haut streifen, irgendetwas greifen.
Er verstand mein Bedürfnis sofort. Sobald es aufploppte, nahm er es wahr und ging darauf ein.
Sachte überbrückte er die ohnehin kaum nennbare Distanz zwischen uns, legte sanft seine Hände auf meine Hüften und seine Stirn auf meine.
Kurz schlossen wir beide die Augen. Meine Hände lagen auf seinen Oberarmen, hielten sich fest. Am liebsten würde ich ihn nie wieder loslassen.
"Ich glaube ...", entfuhr es mir. "Ich glaube ... ich fürchte, ich kann drüber hinwegsehen. Weil ..."
Bei den nächsten Worten öffnete ich die Lider, während mein Herz laut pochte. "Weil ich dich liebe."
Für einen Moment fürchtete ich, er würde sich von mir lösen und mich überrascht oder gar schockiert anschauen.
Doch stattdessen streifte er mit der Nase meine. Seine Lippen streichelten über meine, als er ganz still und leise flüsterte: "Ich dich auch."
Sofort schlug mein Herz drei Takte schneller und die Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten ungestüm umher. Insbesondere als seine Arme um mich langten und er mich an sich drückte.
Ich erwiderte seine Umarmung, vergrub meinen Kopf an seinem Hals. Es hatte nicht sexuelles, fühlte sich jedoch so viel intimer und näher an.
Eine gefühlte Ewigkeit blieben wir in der warmen Dusche stehen, eng umschlungen und eingehüllt von Wasserdampfen. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so geborgen gefühlt. Unweigerlich hatte ich das Gefühl, dass ein winziges Stückchen Sicherheit das große Vakuum zu füllen begann, das sich irgendwann gebildet hatte, als ich noch klein war, und seitdem mein ständiger, stiller Begleiter war. Ein Stückchen Sicherheit, Geborgenheit, Vertrauen und vielleicht sogar Zuversicht kehrten an ihren Platz zurück, der so lange leer geblieben war.
"Sicher, dass ich nicht mit hochkommen soll?" Milan hielt noch immer meine Tasche in der Hand, die er soeben aus dem Auto geholt hatte. Wir standen vor dem Mehrfamilienhaus, in dem sich meine WG befand.
Kurz grübelte ich. Fee war in der Heimat. Allerdings war schon länger nicht geputzt worden.
"Musst du nicht." Unwohl sah ich mich um, auch wenn der Bürgersteig menschenleer war. "Musst du nicht noch die ... den Körper ... verschwinden lassen?"
Milan runzelte die Stirn. "Heute nicht mehr. Morgen wahrscheinlich."
Ein Funken Neugier wurmte mich. "Darf ich fragen, wo?"
Er seufzte. "Ich habe einen ... Bekannten. Er erledigt das für mich."
Meine Augen wurden groß. "Es gibt noch jemanden, der davon weiß?"
"Ja."
"Ja?" Ich war ein wenig fassungslos. "Ist das nicht mega gefährlich?" Bei dem Gedanken von Milan im Gefängnis kehrte die altbekannte Angst zurück. Es wurde eng in meinem Brustkorb.
Milan warf sich meine Tasche über die Schulter. Anscheinend hatte er entschlossen, mich doch in meine WG zu begleiten. Es wäre das erste Mal.
"Ich kenne ihn schon ewig. Er ist vertrauenswürdig."
Naserümpfend kramte ich den Schlüssel aus meiner Manteltasche. "Wirklich?"
"Ja, wirklich. Das ist aber auch nichts, um das du dir Sorgen machen musst." Milan strich mir liebevoll eine Haarsträhne zurück, während ich die Tür aufschloss.
"Aber wie?", fragte ich. Es blieb mir schleierhaft, wie man unbemerkt so viele Leichen verschwinden lassen konnte.
Mit einem Stirnrunzeln trat Milan hinter mir über die Türschwelle. "Ed hat einen kleinen Hof. Früher hat er sie durchs Mahlwerk gedreht und an seine Schweine verfüttert."
Ich erstarrte zur Salzsäule. Ich hatte mich wohl verhört.
"Mittlerweile hat er ein paar Säurefässer in seiner Lagerhalle. Da löst er sie drin auf. Ich bin auch nicht sein einziger ... Kunde."
Meine Finger krallten sich um den Schlüssel, während Milan an mir vorbei die Stufen hochschritt.
Mir wurde speiübel.
Als er merkte, dass ich ihm nicht die Treppe hoch folgte, drehte er sich um.
"Wie kannst du darüber so seelenruhig sprechen?", krächzte ich.
Verwundert hob er eine Augenbraue. "Ich spreche darüber so, wie über die Taten, die ich im Keller ausübe. Und die sind ja wohl sehr viel schlimmer."
"Hm", rutschte es mir heraus und ich versuchte, meine Magensäure runterzuschlucken, die mir die Speiseröhre hochkam.
Er ging wieder ein paar Schritte hinab und auf mich zu.
Dicht vor mir blieb er stehen. "Sie sind tot, Ayla. Sie bekommen von alldem nichts mehr mit." Es war diese unfassbare Monotonie, mit der über solche Dinge sprach, die mich jedes Mal erschauern ließen.
Sein stechender Blick musterte mich. "Dir sollte übel werden, bei dem was ich mit den Lebenden anstelle. Wenn sie auf der Pritsche im Keller festgeschnallt sind und Höllenqualen durchleiden, nicht wenn sie tot und schon lange fort sind."
Kopfschüttelnd schob ich mich an ihm vorbei.
"Ich bemitleide sie alle", murmelte ich.
Ruhigen Schrittes lief Milan hinter mir her. Mein Puls hingegen war auf hundertachtzig und ich wäre am liebsten die Treppe hochgestürmt. Die Banalität des Ganzen löste ein Gefühl von Unruhe in mir aus, wühlte mich auf.
Oben angekommen drehte ich mich noch einmal um. "Ich kann dich nicht zum Aufhören bewegen, aber meinst du, du könntest weniger leichtfertig über das Ganze reden."
Geradezu entspannt lehnte Milan sich gegen die Wand. "Wenn ich ernsthaft darüber rede, kann ich das Gewissen und die Reue nicht mehr verdrängen ..."
Als ob das so schlecht wäre. Vielleicht musste ich ihn nur lange genug bearbeiten, dann würde er begreifen, was er tat. Und vielleicht, aber nur vielleicht würde er dann irgendwann aufhören.
Eigentlich wollte ich einen Konter hinterherschieben, als mir ein paar Striemen am Türrahmen auf Höhe des Schlosses auffielen. Gerade als ich den Schlüssel reinstecken wollte.
Beunruhigt hielt ich inne.
"Was ist los?", hakte Milan sofort nach.
Stumm deutete ich auf die Kratzer im Holz.
Mit angespanntem Kiefer musterte er sie. "Wurde bei euch schonmal eingebrochen?"
Ich schüttelte den Kopf. "Eigentlich nicht ..."
Prompt ließ Milan meine Tasche sinken. Die lässige Haltung verschwand und jeder seiner Muskeln schien sich anzuspannen.
"Denkst du, jemand könnte jetzt eingebrochen sein?", fragte er gefährlich ruhig.
Ich zuckte mit den Schultern. "Ich bin mir gerade nicht sicher, ob die Striemen schon vorher da waren." Zögernd musterte ich sie. "Wobei sie mir dann bestimmt einmal aufgefallen wären."
Milan nahm mir den Schlüssel aus der Hand und drückte mir die Tasche entgegen.
Bange hielt ich ihn an der Schulter fest. "Sicher, dass wir reingehen sollen?"
Er drückte mich jedoch zur Seite und hinter sich. Den Schlüssel ins Schloss schiebend, öffnete Milan die Tür.
Einen Spalt schob er sie auf.
Es blieb still.
Er öffnete die Tür ein weiteres Stück.
"Hallo?", rief ich über seine Schulter hinweg in das Innere, woraufhin ich einen bösen Blick erntete.
Es blieb jedoch weiterhin still.
Mit langsamen Schritten betrat Milan das Innere der WG. Ich folgte ihm auf leisen Sohlen, aber verharrte augenblicklich bei dem Anblick, der sich mir bot.
Ein markerschütternder Schrei schrillte durch die Wohnung. Es war meiner.
Augenblicklich ließ ich die Tasche zu Boden fallen und wollte losstürmen.
Aber Milan hielt mich zurück.
"Lass mich los", schrie ich und vernahm auf halbem Ohr, wie die Haustür geschlossen wurde.
"Lass mich sofort los", brüllte ich erneut.
Doch sein Griff um meine Taille wurde fester.
"LASS MICH LOS!" Es war nur noch ein Kreischen, bereits zur Hälfte erstickt von Tränen.
Milan sagte keinen Ton. Aber das war mir egal.
"Lass mich ...", heulte ich auf. "Ich muss zu ihr!" Mittlerweile entrang mir nur noch ein Schluchzen. Einen Tränenschleier vernebelte mir die Sicht. Doch ich sah sie noch immer. Auf dem Boden liegend. Eine Pfütze aus rotem Blut um ihren Kopf. Wie ein makabrer Heiligenschein.
Fee ...
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Down our Darkest Paths
TerrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...