Kapitel 33

18 0 0
                                    

Ayla


Komm vorbei.
Zum bestimmt dreißigsten Mal las ich mir Milans Nachricht durch. Gewohnt knapp wie immer. Es klang wie die Texte, die einem Typen um ein Uhr nachts nach einem "Na, noch wach?" schickten.
Komm vorbei.
Zwei Wörter. Mehr nicht.
Doch dahinter verbarg sich so viel mehr. Vor allem die Entscheidung, ob ich diesen schwerwiegenden Schritt wirklich tun wollte. Kopfschüttelnd legte ich mein Handy verkehrt herum auf den Esszimmertisch.
Es war bereits zu spät.
Die Entscheidung war gefallen.
Auch wenn Zweifel und Unsicherheiten sich noch immer durch meine Gedanken fraßen, stand ich in Milans Esszimmer. Eigentlich wirkte alles so normal und friedfertig wie immer. Von draußen fielen Sonnenstrahlen in das Wohnzimmer. Es war die letzten Tage herrlich warm geworden, sodass ich auch heute lediglich ein Kleid und einen Mantel tragen brauchte. Letzterer hing bereits an seiner Garderobe. Das Kleid, das ich trug, war alt, hatte seit Ewigkeiten in den Ecken meines Schranks gelegen. Eigentlich hatte ich es niemals mehr tragen, es wegewerfen oder spenden wollen. Meine Mutter hatte es mir bei einem unserer Shoppingausflüge gekauft. Es war ihre Vorstellung eines anständigen, mädchenhaften Sommerkleids. Ein elfenbeinfarbener Ton, geschmückt von Blüten in pastellfarbenem Flieder und Blau. Der obere Part war blusenähnlich gerafft. Fee hatte damals einen Ausdruck des Entsetzens getragen, als ich ihr den Kauf des Tages präsentiert hatte. Mit viel Fingerspitzengefühl und um dem Kleid die – wie sie es nannte – nonnenhafte Keuschheit zu nehmen, hatte sie die Länge etwas gekürzt, sodass es nur noch bis zur Mitte meiner Oberschenkel reichte. Getragen hatte ich es trotzdem nie.
Doch als ich heute Morgen ratlos vor dem Kleiderschrank gestanden hatte, war mir nichts Besseres eingefallen. Natürlich war das Kleid absolut unpassend für das, was kam. Aber das war meine sonstige Garderobe auch. Also warum nicht für diese so fremde Situation etwas tragen, in dem ich mich ebenfalls fremd fühlte. Und bei dem ich kein Problem hätte, es nie wiederzusehen.
Denn was trug man für Folter und Mord?
"Sicher, dass du das tun willst?" Milans Stimme ließ mich aus meinen Gedanken fahren und zerschlug den Anschein von Friedfertigkeit und Normalität. Wobei es ohnehin nur Trug war. Nur eine Etage unter uns lag ein Mann. Gefesselt auf einer Pritsche.
Übelkeit keimte in mir auf.
Am liebsten hätte ich lauthals verneint, aber stattdessen nickte ich.
"Du lügst", quittierte Milan meine Reaktion. Er sah aus wie immer. Dunkle Hose, ein helles Hemd, barfuß. Es war geradezu makaber, wie normal er aussah. Aber was hatte ich erwartet? Eine Metzgerschürze? Einen Ganzkörperanzug?
Ich schüttelte den Kopf. "Ich habe gesagt, ich will das." Doch war ich mir wirklich sicher, dass ich es wollte. Milan hatte Recht. Ich tat es, weil ich ihn wollte. Weil ich alles wollte, was ihn ausmachte.
Aber vielleicht gab es doch noch einen kleinen, leisen Part in mir, der hoffte. Der – auch wenn Milan ganz klar gemacht hatte, dass ich ihn nie bekehren würde – sich ausmalte, dass ich, sobald ich es gesehen hatte, verstand und einen Ausweg für ihn fand. Es war albern. Und falsch. Und je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurden die Zweifel, die sich auf dem Weg hierhin so erfolgreich hatten verdrängen lassen.
Wie hatte ich nur so verkommen werden können? Wie konnte ich das gleich zulassen? Dass er einen Menschen bei Bewusstsein zerschnitt und tötete. Dass ich einen Hang zum Verwerflichen hatte, war mir bereits schmerzhaft bewusst gewesen. Aber das war eine neue Stufe. Eine Stufe, die so fernab von allem Bisherigen lag, dass ich sie nie, niemals erklimmen sollte. Und vielleicht war es auch Angst, dass ich ebenfalls Gefallen finden könnte, an dem was vor mir lag.
Es war eine Abwärtsspirale, aus der es kein Entkommen mehr geben würde. Vielleicht hätte ich auf alle anderen hören sollen. Auch wenn sie das Ausmaß des Ganzen und die Wahrheit über Milan nicht kannten, hatten sie meine Beziehung zu ihm verurteilt. Vor allem, dass ich ihm jetzt folgen würde.
"Wenig emanzipiert", hätte Fee jetzt gesagt.
"Dumm und leichtsinnig" hatte Ensel geschrieben.
"Schlampig" würde meine Mutter sagen, wüsste sie, was wir bereits getan hätten.
Eine Weile musterte Milan mich. "Ich kann dich nicht vom Gegenteil überzeugen, oder?"
Kurz zögerte ich, schüttelte dann wieder den Kopf.
"Es gefällt mir überhaupt nicht, Ayla." Er trat dichter an mich heran, ließ seine Fingerspitzen durch mein Haar gleiten. "Ich will nicht, dass du dich strafbar machst."
Ich schluckte. Stimmt, das mögliche Urteil der Polizei und eines Gerichts hatte ich in meiner Aufzählung vergessen.
"Niemand muss es je erfahren", wisperte ich. Wobei ich mir nicht sicher war, ob ich bei dem Anblick nicht direkt die 110 wählen würde.
Ein leeres Lächeln schmückte Milans Gesicht. "Ja, ich werde deine Anwesenheit bestimmt nicht verraten, sollte es mir an den Kragen gehen." Er beugte sich zu mir hinab. "Falls sie dich aber verhören sollten, als meine Partnerin oder Expartnerin, sehe ich schwarz. Denn Nummer eins, du bist furchtbar schlecht im Lügen. Und Nummer zwei, spätestens dein Drang, in ungünstigen Situationen die Wahrheit zu erzählen, wird dir den Boden unter den Füßen wegreißen."
Ich sah zu Boden, konnte und wollte seinen stechenden Blick nicht erwidern.
"Ja, Ayla." Der Klang seiner Stimme war wie Balsam und Gift zugleich. "Es wird dir alles unter den Füßen wegreißen, weil du dafür nicht gemacht bist."
"Das weißt du nicht", wisperte ich.
"Doch, das weiß ich. Weil ich weiß, wer dafür gemacht ist."
Bemüht unberührt sagte ich. "Jaja, bei dir ist es anders, angeboren ..."
"Nein, entzieh mir nicht die Verantwortung für meine Taten, meine Liebe. Ich tue Schlimmes, weil ich Schlimmes tun will. Jedes Mal entscheide ich mich aufs Neue." Kurz zögerte er. "Weißt du eigentlich, dass ich ursprünglich eine Frau wollte für heute. Eine junge Studentin in deinem Alter."
Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten.
"Weil du dann eventuell die Tragweite des Ganzen begreifen würdest." Seine Finger wanderten an meine Schläfe und er stupste mehrmals dagegen. "Damit es in deinen hübschen Kopf geht, dass das, was da unten passieren wird, barbarisch und nicht für deine Augen, für niemandes Augen bestimmt ist."
Dieses Mal packte ich sein Handgelenk und umkrallte es.
Überrascht sah er mich an.
"Niemandes Augen?", höhnte ich. "Deine schon. Meine Entscheidung ist gefallen. Und es kann gut sein, dass es die Schlechteste meines Lebens ist. Wobei nein, die ist, rein objektiv betrachtet, dass ich nicht direkt die Polizei gerufen habe, als ich von deinem schlimmen Geheimnis erfahren habe. Also, Milan, von einem schlechten Menschen zum anderen, es ist egal." Meine Mundwinkel hatten sich bei den letzten Worten gehoben. Es war kein Lächeln. Es war ...
Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, was ich gerade fühlte. Vor allem nicht, als er mir das Handgelenk entzog und zur Kellertür ging.
Aus der Hosentasche zog er den Bund mit den drei Schlüsseln hervor. Das Schloss klickte und er öffnete die Tür.
"Eine Sache noch", sprach er mit ruhiger Stimme, ohne mich anzusehen. "Wenn wir unten sind, rede nicht mit ihm. Stell dich in die Ecke und sei still."
Ich gab einen zustimmenden Laut. Worte konnte ich ohnehin nicht mehr formen. Mein Herz schlug unruhig und als ich ihm die ersten Kellerstufen hinabfolgte, legte sich eine Art grauer Schleier über alles. Als würde mein Gehirn meine Wahrnehmung in Watte packen, versuchen, meinen Körper vorzubereiten, für das, was kam. Allerdings fürchtete ich, dass egal welche Sicherheitsmechanismen mein Kopf einschaltete, ich nicht im Geringsten gefeit sein würde.
Die Kälte der Steinstufen kroch meine nackten Fußsohlen hoch.
Rumps.
Erschrocken erstarrte ich.
Nein, es kam nicht von unten. Es war die Kellertür, die zugeschlagen war. Und somit auch das letzte Tageslicht aussperrte. Nur das künstliche, kalte Kellerlicht erhellte den Weg.
Mit beiden Händen umklammerte ich das Geländer. Vorsichtig tastete ich mich mit dem Fuß auf der Stufe vorwärts. Es war nicht dunkel und ich sah die steinernen Platten und wo sie endeten, aber ich traute mich nicht den nächsten Schritt zu machen. Ich kannte den Keller bereits, wusste, dass es noch ein Stück war bis zu dem Raum. Aber mein Körper streikte.
Los jetzt, redete ich mir innerlich zu.
Da spürte ich etwas Warmes auf meinen Händen. Wie in Trance blickte ich hinauf.
Ich sah Milans Gesicht. Seine blaugrauen Augen.
Fixpunkte. Ich brauchte Fixpunkte.
Mich auf seine vertrauten, indigofarbenen Augen konzentrierend, griff ich nach seinem Arm. Hielt mich an seinem Hemd fest und trat die Stufe hinab.
Eine nach der anderen. Bis wir unten angekommen waren.
Die Tür war wie bei meiner damaligen Erkundungstür verschlossen.
Angespannt folgte ich Milan.
Er wandte mir den Rücken zu und öffnete das erste Schloss. Ich konnte nicht anders, krallte mich in seinen Oberarm und vergrub das Gesicht zur Hälfte in den Stoff seines Hemdes. Es roch neu. Aber trotz des fremden Textilgeruchs vernahm ich seinen Duft. Etwas Vertrautes. Ein weiterer Fixpunkt.
Da sprang das letzte Schloss auf und die Tür öffnete sich einen Spalt.
Meine Nägel mussten bereits Abdrücke in seiner Haut hinterlassen haben und für einen Moment war ich mir nicht sicher, ob ich den Blick lösen oder mein Gesicht tiefer in den Stoff vergraben wollte.
Ein Knarzen ertönte.
Dann verstummte es.
Wir traten einen weiteren Schritt vor. Meine Augen blieben geschlossen.
Erneut knarzte es.
Stille.
Dann folgte ein Quietschen und Rumpeln.
Nein, es war schlimmer nur zu hören und nicht zu sehen.
Langsam öffnete ich die Augen. Am Boden erkannte ich, dass wir noch immer auf der Türschwelle standen.
Ganz vorsichtig hob ich den Kopf und lugte an Milans Arm vorbei.
Augenblicklich wurde mein Magen taub. Der Anblick war vertraut. Die Betonwände. Die Pritsche.
Doch dieses Mal war sie nicht leer.
Ein hagerer Mann lag auf dieser. Spärlich bekleidet in eine Unterhose. Hände und Füße gefesselt.
Schwindel vernebelte kurz meine Augen und Gedanken. Ich musste ein paar Mal blinzeln.
Unter meinem Griff spürte ich, wie Milan seine Muskeln anspannte.
Es war ein Zeichen, dass ich nun loslassen musste. Aber ich war noch nicht bereit.
Vor allem nicht, als es erneut rumpelte.
Ich erstarrte zur Salzsäure.
Der Mann wandte sich in seinen Fesseln.
"Eeehhhh." Es war ein kehliges Schreien.
O Gott, ich musste hier raus. Ich konnte das nicht.
Niemand konnte das.
Da spürte ich erneut Milans Hand auf meiner. Sanft drückte er sie.
Er konnte das. Nein, noch schlimmer, er brauchte das.
Tief atmete ich ein und wieder aus, versuchte das sich abwechselnde, grauenhafte Spiel von Knarzen und Stille auszublenden. Fixpunkte.
Ich musste mich auf einen Fixpunkt konzentrieren.
Mein Blick ruhte auf Milans Hand. Er war mein Fixpunkt.
Stück für Stück schaffte ich es, mich zu lösen. Erst die eine, dann die andere Hand. Dann der Körper.
Wie auf Zehenspitzen schlich ich von ihm weg. In die Ecke des Raums.
"Eeeehhh", schrie es erneut.
Beinahe wäre ich gestolpert. Doch ich fing mich.
Unbeholfen kauerte ich mich neben die Kommode.
Für einen Moment blickte Milan zu mir. Doch ich wusste nicht, was er dachte. Dieser Raum war wie ein Vakuum. Es war alles dumpf und unwirklich. Nur Milan war so klar.
Ich konzentrierte mich auf ihn. Nicht die Pritsche und das drumherum. Nur auf ihn.
Und dann schritt er zur Tat.
Eine Leier wüster Beschimpfungen ertönte von dem Gefangenen. Einzelne Wörter konnte ich durch das Rauschen in meinen Ohren jedoch nicht verstehen. Allerdings meinte ich eine Träne auf meiner Wange zu spüren. Doch als ich nach ihr tastete, fühlte sich auch die Berührung meiner Finger stumpf an und ich ließ die Hand wieder sinken.
In aller Seelenruhe griff Milan zum Besteck. Als ob sein Opfer gar nicht existieren würde, wählte er eines der Skalpelle aus.
Kurz blitzte das Silber auf, als er sich neben den Gefesselten stellte.
Fixpunkt. Fixpunkt schrie mein Kopf.
Da senkte sich die scharfe Klinge in die Haut und ein markerschütternder Schrei erklang.
Mein Fixpunkt verschwand. Milan verschwand.
Wie albern doch diese Tonfigur war, die ich von ihm geformt hatte. Ich dachte tatsächlich, ich hätte den Teil seines verdorbenen Inneren getroffen, der diese Grausamkeiten verübte.
Nichts hatte ich getroffen. Nichts könnte das treffen, was sich mir in diesem Moment bot.
Wie dumm von mir.
Wie leichtsinnig.
Aber es war auch ...
Egal.

Down our Darkest PathsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt