Kapitel 43

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Milan


So eine verdammte Scheiße. Unruhig parkte ich meinen Wagen am Rand des Schotterwegs. Zu Eds Hof waren es keine hundert Meter mehr. Allerdings war ich für das, was mich dort erwartete, nicht bereit – geschweige denn hatte überhaupt einen blassen Schimmer, was auf mich zukommen könnte. Die Fotos und das Schreiben auf meinem Beifahrersitz sprachen jedoch eine klare Sprache. Man war mir auf die Schliche gekommen.
Nervös blickte ich in den Rückspiegel. Es war niemand zu sehen. Ich rieb mir das Kinn. Kurz hatte ich das Gefühl vor einer Paranoia zu stehen. Die gesamte Fahrt meinte ich, dass mir ein blauer Opel gefolgt war.
Doch seit dem Schotterweg war dieser verschwunden. Hatte ich mir den Verfolger nur eingebildet. Das machte es allerdings nicht besser. Ich musste mich beruhigen und auf das konzentrieren, was vor mir lag. Mein Blick fiel auf das Handschuhfach. Neben einer Flasche Chloroform beherbergte es dieses Mal auch etwas Bargeld. Nicht dass ich große Hoffnungen draufsetzte, aber vielleicht ließ mein Erpresser sich bestechen. Es war nicht viel, aber für eine Anzahlung langte es allemal. Eventuell würde es mir Zeit verschaffen, zu überlegen, wie ich den Störenfried endgültig loswerden könnte.
Mein Handy auf dem Beifahrersitz blinkte auf.
Es war Aylas Nummer. Ein Anruf.
Ich ignorierte das ohnehin auf Stumm geschaltete Handy.
Auch wenn es mich schmerzte, sie ignorieren zu müssen, war der Kontakt zu ihr aktuell zu gefährlich. Ich musste sie auf jeden Fall aus der Schusslinie halten – was auch immer kommen mochte. Sie durfte unter keinen Umständen in Gefahr geraten. Ich hingegen hatte mich damit abgefunden, hier und heute – in welcher Form auch immer – mein Ende zu finden.
Meine Zähne knirschten, als ich den Motor erneut startete und die letzten Meter überbrückte. Eins wurmte mich. Wer war mir trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auf die Schliche gekommen? Welche Hinweise hatte es gegeben? Hing etwa auch der Tod von Aylas Mitbewohnerin mit dem Ganzen zusammen? Es gab Fäden, aber ich war unfähig, sie zusammenzuziehen.
Mein Auto rollte auf Eds Hof. Vor der Lagerhalle mit den angepinselten Scheiben stoppte ich und zog die Handbremse an. Es war beinahe dunkel, aber ich erkannte, dass die Tür nur angelehnt war.
Ein schwacher Lichtschein fiel durch den schmalen Spalt. Wie es schien, wurde ich bereits erwartet.
Ein letztes Mal tief durchatmend öffnete ich die Autotür.
Die Steine knirschten unter meinen Sohlen, als ich zu der schäbigen Lagertür lief. Es war scheißegal, der Motor des Autos hatte ohnehin meine Ankunft verraten.
Das letzte bisschen Contenance bewahrend, klopfte ich gegen die angelehnte Tür.
"Herein, mein Freund", flötete eine Stimme, die mir merkwürdig bekannt vorkam und doch konnte ich sie nicht zuordnen.
Mit dem Fuß kickte ich gegen die Tür, die sich knarzend öffnete, und schritt hinein.
Augenblicklich verharrte ich. Aus den Augenwinkeln nahm ich etwas Dunkles wahr.
Ich drehte den Kopf und blickte in den Lauf einer Pistole.
Dahinter die grinsende Fresse des Arschlochs, das mich anscheinend hierher zitiert hatte.
"Na, du Ficker, wo haste denn mein Geschenk gelassen?"
Es brauchte einen Moment. Da realisierte ich es. Die Stimme, das Gesicht. Ohne Brille und seinen blöden Hochschulanhänger hätte ich ihn beinahe nicht erkannt.
"Wird das hier eine erneute Umfrage für die Bachelorarbeit?", erwiderte ich bissig, hielt mich dann jedoch zurück. Ich hatte keine Ahnung, was hier gespielt wurde und wer der Typ überhaupt war. Ein Hochschulstudent bestimmt nicht.
"Ahh, ein Scherzkeks", grunzte Mark oder wie er hieß. "Aber erstmal war das meine Masterarbeit und zweitens ja, es geht tatsächlich um eine kleine Befragung ..." Er rückte ein Stück zur Seite, sodass ich hinter ihn blicken konnte.
Mein Magen verkrampfte sich, als ich Ed – gefesselt und mit Blessuren im Gesicht übersät – auf dem Boden hocken sah. Dieses verdammte Arschloch.
"Was soll das?", knurrte ich.
"Das wird ein nettes Doppelinterview für meine neuste Arbeit", kam es lachend zurück, dann wurde er ernst. "Thema dieses Mal: zwei verfickte Dreckskerle, die arme Menschen killen und in Fässern auflösen." Kurz schwenkte seine Pistole zu den Fässern, dann wieder zu mir.
"Falsch, manchmal drehen wir sie auch durchs Mahlwerk und verfüttern sie an die Schweine", krähte Ed und verfiel prompt in ein Husten.
Wütend sah ich ihn an. Das war wohl kaum der richtige Moment für Provokationen.
Mein Blick glitt wieder zu dem blondhaarigen, kräftigen, jungen Mann. "Und was genau, willst du dafür von uns, Mark?"
"Ensel", korrigierte er mich. "Mark war nur ein Alias. Kein Masterstudent, sondern suspendierter Polizist."
"Ein BULLE?", kreischte Ed. "Ich wusste es doch, dass du hier vorne und hinten nicht zum Job passt."
"Ja, du bist da wirklich ein ganz, ein Feinfühliger", raunte Ensel. "Aber wenn du nicht langsam mal wieder ein bisschen die Fresse hältst, während ich mich hier mit Milan, meinem neuen besten Freund, austausche, gibt's gleich wieder den Knebel in den Mund."
Ich presste die Lippen aufeinander. Wer genau war dieser Typ? Und was wollte er?
"Also Milan." Seine Stimme klang mit einem Mal eiskalt. "Wo hast du denn mein Geschenk gelassen?"
"Geschenk?"
"Naa, den Mann von den Fotos, den du abgeschlachtet hast."
"Ich weiß nicht ..."
Ein markerschütternder Knall zerschnitt die Luft und ich spürte ein Brennen an meinem Bein. Fuck.
Ein Streifschuss direkt an meinem rechten Oberschenkel. Zumindest wusste ich jetzt, woran ich war. Geld würde nichts bringen. Ich blinzelte zu Ed, der mich mit unnachgiebigem Blick anstarrte.
"Na, na, mal keine geheimen Augenabsprachen hier", insistierte Ensel." Also, wo hast du die Leiche?"
Ich sog scharf die Luft ein. "Im Kofferraum."
"Ah, sehr schön, die altbekannte Transportmöglichkeit. Wie bei der Entführung." Die Waffe auf meinen Kopf richtend, fuhr er mit drohender Stimme fort: "Zeit, sie zu holen."
"Was wird das hier?", fragte ich, noch immer im Dunkeln tappend.
"Oh, das wirst du gleich erfahren. Wir haben ja noch ein bisschen Zeit, bevor ich meine lieben Kollegen rufe." Er grinste. "Erstmal gibt's noch ne kleine Fotosession."
Die Waffe rückte augenblicklich näher an meine Stirn. Ich hatte keine Wahl.
Nervös wich ich zurück. Was war sein Motiv?
Rückwärts wanderte ich durch die Tür.
"Los, los." Ungeduldig wedelte er mit der Waffe, während Ed gefesselt zurückblieb.
Ich lief zum Kofferraum, ohne dem Lauf der Pistole zu entkommen. Dicht blieb Ensel mir auf den Versen.
Mit einem Klicken öffnete dieser und gab den Blick auf die beiden schwarzen Tüten frei.
Ein weiteres Klicken ertönte.
Überrascht blickte ich auf. Ensel hielt eine Kamera in der Hand und fotografierte mich samt Kofferraum.
"Was wird das?", fragte ich mit hochgezogener Augenbraue.
"Beweisfotos."
Beinahe hätte ich losgelacht. "Gar nicht gestellt, oder?"
"Ach mit den Entführungsbildern wird es schon passen."
Kopfschüttelnd sah ich ihn an. "Sag mal, was bitte ist hier dein Plan? Denkst du nicht, dass du selbst ganz schön mit in der Scheiße steckst, das Ganze zu dokumentieren, ohne die Polizei zu rufen?" Vielleicht war er ja wegen grenzenloser Blödheit suspendiert worden.
Ensel schnaubte. "Das lass mal meine Sorge sein. Aber was mit mir passiert ist egal, es geht um Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für deine Opfer und die von deinem ekelhaften Säuferkumpel da drin."
Ah, er hatte einen Bezug zu den Opfern. Meinen Opfern. War er mit einem der Fälle betraut gewesen oder sogar mehreren? Vielleicht war er doch nicht so blöd. Immerhin war er mir – im Gegensatz zu seiner gesamten Kollegschaft – auf die Schliche gekommen.
"Und jetzt?", fragte ich ruhig. Ich musste mir ein Bild von ihm machen, dann würde ich entscheiden, wie ich am besten aus dieser Situation kam. Und Ed natürlich auch.
"Na das, was ihr immer macht. Ins Fass damit."
"Ernsthaft?" Dass diese Bilder vor Gericht komplett ohne Wert wären, sollte ihm doch klar sein.
"Jaja, aber n bisschen dalli hier. Und beide auf einmal!"
Stöhnend langte ich nach der ersten Tüte und ärgerte mich, den Körper nicht in noch weitere Stücke zerteilt zu haben.
Mit einem kalten Lächeln bedachte ich Ensel. "Magst du mir vielleicht helfen? Die Tüten sind nicht wirklich leicht."
"Haha, nee, aber streif die ruhig mal ab, bevor du sie reinträgst. Damit ich sehe, wer sich da drin verbirgt."
Der spann doch wohl. Doch als er die Waffe erneut entsicherte, riss ich schnaubend das schwarze Plastik, das den Oberkörper verhüllte, entzwei.
"What the Fuck ..." Ensel stolperte ein paar Schritte zurück.
Kurzerhand trat ich auf ihn zu, doch erntete prompt einen weiteren Schuss.
Streifschuss an der Schulter.
Verdammt.
"Denk nicht mal im Traum dran, du Ficker", schrie Ensel und wandte sich wieder dem Kofferraum zu. Seine Reflexe waren schnell. Zu schnell. Natürlich, ich hatte es hier mit einem ausgebildeten Polizisten zu tun. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt ich mir die Schulter.
"Hast du das etwa auch mit Finn getan?" Seine Stimme hallte über den leergefegten Hof.
Finn.
Meine Gedanken erhellten sich.
Finn Prickard. Mein vorletztes Opfer.
Jetzt sah ich es so deutlich. Es war nicht nur Ensel selbst, der sich als Student ausgegeben hatte, der mir ebenso bekannt vorgekommen war. Er ähnelte Finn. Dem blondhaarigen Jungen mit den blauen Augen und wüsten Beleidigungen auf meiner Pritsche.
Meine Fäuste ballten sich. "Du bist sein Bruder."
"Jaha, fick dich. Ich war sein Bruder." Ensel verlor so langsam die Kontrolle über sein Stimmorgan. "Bevor du ihn massakriert hast. Hast du ihm das auch angetan?"
Meine Schläfen spannten sich an. "So ähnlich." Bei ihm war das Blutbad nicht ganz so wild ausgefallen. Er hatte auch sehr viel schneller das Bewusstsein verloren.
"Du bist ein krankes Schwein." Ein merkwürdiges Schluchzen erklang aus Ensels Kehle, aber er schluckte es runter. "Dich sollte man durchs Mahlwerk drehen und an die scheiß Schweine verfüttern."
Ich blieb still. Tatsächlich stimmte ich ihm zu. Ich gehörte ins Mahlwerk und ins Fass.
"Nimm ihn." Ensel hatte sich wieder gefangen. Halbwegs. "Nimm ihn und beende es so, wie du es immer machst."
Ekel und Abscheu schwangen in seiner Stimme mit.
Ich gehorchte. Packte mit einem lauten Ächzen die beiden Tüten und hievte sie über meine Schultern.
Die Kamera klickte unaufhörlich.
Auch als ich die beiden mit einem lauten Rumps neben die Fässer fallen ließ. Ed, der mittlerweile schweigend in der Ecke saß, ignorierte ich. Ich musste mir einen Plan überlegen, wie wir hier rauskamen. Der Typ war zwar Polizist, aber suspendiert. Außerdem veranstaltete er hier eine wahre Parade illegaler Aktivitäten. Bestimmt wusste keiner seiner Kollegen und Kolleginnen von dem, was hier vor sich ging. Es gab also die Chance, das Ganze zu beenden, bevor es begonnen hatte.
Doch wie?
Der Idiot beobachtete mich mit Adleraugen und sein Pistolenlauf schien auf mich programmiert zu sein.
"Hab ich gesagt, du sollst aufhören, Ficker."
Und seine Ausdrucksweise war so ... scheiße vulgär.
Kopfschüttelnd griff ich den toten Oberkörper, den ich nach dem Zerteilen abgespritzt hatte. Er stank und die Leichenstarre wich auch langsam.
Unter einem Stöhnen warf ich den Torso in das geöffnete Fass.
Mein Blick wandte sich an Ensel, der mit Kamera und Pistole beide Hände voll zu tun hatte. Allerdings bezweifelte ich nicht, dass er auch einhändig prima zielen konnte.
"Jaja, nicht aufhören. Das letzte Stück auch noch, du Stück Scheiße."
Kurz blickte ich zu Ed, der immer noch gefesselt auf dem Boden saß. Er starrte mich mit beißenden Augen an. So klar hatte ich sie lange nicht mehr gesehen. Während der Expolizist ihm halb den Rücken zugewandt hatte, wanderten Eds Augen ein Stück an mir vorbei, stierten auf etwas neben mir.
Während ich mich nach dem zweiten Sack bückte, sah ich, was Ed meinte. Ein rostiger Eimer stand neben dem Fass.
Noch während ich mich in der Hocke befand und an dem Unterkörper der Leiche zerrte, ertönte ein Schreien.
Erschrocken blickten Ensel und ich zu Ed.
"Fick dich, du verfickter Scheißer", gröhlte letzterer und begann sich wild in seinen Fesseln umherzuwerfen. "Du landest auch in diesen Fickfässern, du Bullenarsch!"
Auch wenn Ensels Lauf weiter auf mich gerichtet war, nutzte ich diesen Moment.
Diesen kurzen Moment der Unaufmerksamkeit.
Hastig packte ich den Eimer und tunkte ihn mit aller Vorsicht in das Fass.
Es brauchte nicht viel der Säure.
"Halt endlich, deine Fresse oder du wirst wieder geknebelt", schrie Ensel.
Er wollte sich wieder mir zuwenden ...
Zisch.
Ein Schwall der ätzenden Flüssigkeit schwappte in seine Richtung.
"Aaaaahhh", jaulte Ensel auf.
Die Kamera schepperte zu Boden.
Scheiße, seinen Pistolenarm hatte ich nicht getroffen.
Gerade wollte ich ihn mit dem Eimer niederschlagen, als sich ein Schuss löste.
Mit einem lauten Knall schlug die Kugel neben mir ein.
Fuck. Er schien härter im Nehmen zu sein als gedacht.
Mit aller Kraft warf ich den Eimer nach ihm.
Er prallte an seiner Schulter ab.
Eine weitere Kugel löste sich aus der Knarre.
Verdammt, ich musste raus aus dem Schussfeld. Nach draußen. Mein Blick fiel auf die Tür, dann auf Ed.
Nein.
Ich rannte auf Ed zu, während unser lädierter Geiselnehmer wieder schoss. Und zu allem Übel nun den Weg zwischen Ed und der Tür nach draußen blockierte.
Mit festem Griff packte ich Ed an den Schultern. Ich hatte keine Zeit, seine Fesseln zu lösen und für Sanftheit ohnehin nicht.
Schwer atmend schleifte ich Ed zur morschen Holztür, die in einen Nebenraum führte. Mit einem Tritt stieß ich diese auf. Ein erneuter Schuss zerschmetterte die Luft.
Ed stöhnte.
Verdammte Scheiße.
Mit letzter Kraft und unter dem lauten Knall eines weiteren Schusses zog ich Ed hinter mir her und knallte die Tür zu. Rasch drehte ich den eisernen Schlüssel im uralten Schloss.
Ein rasselndes Atmen war zu hören und in dem Moment erblickte ich das Blut, das sich in seiner Magengegend bildete. Aber Eds Verletzung musste warten.
Ein Poltern ertönte von draußen. Dann folgte ein lauter Rumps und für einen Moment fürchtete ich, dass das morsche Holz brechen würde. Es hörte sich an, als ob der Irre draußen, sich mit voller Wucht immer und immer wieder gegen die Tür warf. Ein weiterer Schuss ertönte.
Holz splitterte, aber die Tür hielt.
Vorsichtshalber schob ich eine angestaubte Kommode vor diese. Für kurze Zeit sollten wir sicher sein.
Prüfend wandte ich mich endlich Ed zu. "Wo hat er dich getroffen?"
Mit schmerzverzerrtem Blick starrte er mich an. "Verpiss dich, Milan. Bring dich in Sicherheit."
Meine Lippen verzogen sich zu einem schrägen Lächeln. "Ich fürchte Sicherheit gibt's nicht mehr. Er hat uns beide ..."
" ... ganz schön an den Eiern ..." Eds kehliges Lachen erklang, wurde jedoch jäh von einem Hustenfall und qualvollem Jauchzen unterbrochen.
Ich starrte auf seine Hand, die in Blut getränkt auf seinem Bauch lag. Schweratmend lehnte er gegen die Wand, die Beine weit von sich gestreckt, während das Blut sich bereits seinen Weg auf den Boden suchte.
Zu ihm in die Hocke gehend griff ich nach seiner Hand. "Darf ich?"
"Mhm." Ed schien sich auf die Wangen zu beißen, als ich seine Hand wegzog.
Mit geübtem Blick musterte ich die Wunde und tastete seinen Bauch ab.
"Aaahhh", jaulte Ed auf.
"Eyyy, was macht ihr da drin?" Gedämpft, aber hörbar sauer drang Ensels Stimme von draußen herein.
Ich ignorierte ihn und begutachtete die Wunden. Zwei Durchschüsse in Magengegend. Doch bei dem, was aus seinem Körper austrat, schnürte sich mir die Kehle zu.
"Und wie steht's um mich, Herr Doktor?", presste Ed unter größter Anstrengung heraus. "Tut schon scheiße weh. Müssen wir nicht die Blutung stoppen oder so nen Kack?"
Mit ernster Miene sah ich ihn an.
Er wusste sofort, was los war. "Oha, so schlimm doch?"
Meine Hand verweilte auf Eds Oberschenkel. "Er hat dich zweimal in der Magengegend getroffen."
"Das hab ich gemerkt. Jetzt hau schon raus."
Erneut das Rumgeschreie des Bastards vor der Tür ignorierend, beugte ich mich ein Stück runter. "Der Menge des Bluts nach zu urteilen, hat er dabei auch deine Organe getroffen."
Ed runzelte die Stirn. "Welche?"
"Genau kann ich es nicht sagen, aber ich fürchte eine Ruptur der Leber. Und ..." Galle stieg mir hoch. "Der Magen wurde auch verletzt." Ich deutete auf einen Part der Wunde. "Das ist schwarzes Blut, Ed. Das passiert, wenn Blut mit Magensäure reagiert."
"Und das is scheiße?" Ed war mittlerweile aschfahl im Gesicht. Doch nicht nur aufgrund der gravierenden Diagnose. Bei dem hohen Blutverlust drohte ein baldiges Kreislaufversagen.
"Du hast massive innere Blutungen. Selbst wenn wir dich sofort in ein Krankenhaus ..."
Mühevoll winkte Ed ab. "Ja, schon verstanden. Hab mir immer gedacht, dass mich die Leber irgendwann killt, aber nicht so."
Wütend stand ich auf, lief zur Holztür und hämmerte dagegen. "Ich weiß zwar nicht, was dein Plan da draußen ist, aber wenn wir Ed nicht sofort wegen deiner verfickten Rumballerei ins Krankenhaus bringen, wirst du ihn nie vor Gericht sehen."
"Jaja", grölte es von draußen. "Ihr seid kurz vom Krepieren und ich soll jetzt hier Hilfe holen. Verarschen kann ich mich selbst. Aber lasst mich doch mal gerne rein, dann schaue ich, wie schlecht es um ihn steht. Von zwei kleinen Streifschüssen."
Er wusste also, dass er Ed getroffen hatte.
"Keine Streifschüsse, du Idiot", donnerte meine Stimme durch den Raum. "Er hat innere Blutungen. Er muss sofort ins Krankenhaus."
"Lass mich rein und ich schau's mir an. Aber ganz ehrlich meinetwegen könnt ihr beide da drinnen verrecken."
Ein leidvolles Japsen erklang von Ed.
Sofort löste ich mich von der Tür und lief zu ihm zurück. Eigentlich sollte es mir scheißegal sein und ich sollte ihn hier zurücklassen und mich um mich selbst kümmern. Wie immer. Aber ich konnte nicht. Wie damals.
"Hau schon ab, Milan", würgte Ed hervor.
Doch ich setzte mich neben ihn. "Erstmal wüsste ich aktuell nicht wie und wohin. Die einzige Tür hieraus ist versperrt von einem Irren mit Pistole. Außerdem lasse ich dich hier nicht allein."
"Oh, woher diese Sentimentalität, Bruder?" Ed grinste. "Pardon, Halbbruder."
Mit giftigem Blick sah ich ihn an, schwieg jedoch.
Ed hingegen konnte wie so oft nicht den Mund halten, selbst jetzt wo er tödlich verletzt und vor Schmerzen wimmern sollte.
"Tja, so geht's zu Ende mit dieser scheiß Familie", entwich es ihm gurgelnd.
Ich schnaubte. "Der Schlimmste bleibt ja noch übrig. Ich habe aktuell nicht vor den Löffel abzugeben." Die Worte klangen in Anbetracht von Eds Situation hart, aber so hatten wir schon immer miteinander geredet. Früher als Kinder und jetzt als kriminelle Schweine, die wir waren.
"Ich weiß nicht, ob du wirklich der Schlimmste von uns bist", gab Ed zu Bedenken.
Skeptisch zog ich eine Augenbrauche hoch, während Ensel draußen wieder versuchte mit roher Gewalt die Tür aufzubrechen. Jedoch vergeblich.
"Ach komm, Ed. Du hast die Leichen gesehen, die ich hier abgegeben habe. Dagegen waren die Alten ein Witz." Die Alten ... Die Brüder, die niemals hätten Väter werden sollen. Mein Vater. Eds Vater.
"Ja, die alten Schweinehunde", grunzte Ed. "Ein ganzer Morast an Scheiße ist unsere Familie." Er presste kurz die Lippen aufeinander, verzog dann jedoch schmerzvoll das Gesicht.
Laut wimmerte er auf. "Scheiße, tut das weh. Wie lange wird es dauern?"
Ich meinte Tränen in seinen Augen zu sehen.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. "Zu lange ..." Beinahe versagte mir die Stimme. Innere Blutungen bedeuteten ein langes, qualvolles Ende.
Zwischen Tränen blinzelte Ed mich an. "Das pack ich nicht, Milan."
Mein Kiefer spannte sich an. Ich wusste, worauf er hinauswollte. Auf damals.
"Kannst du es nicht machen wie bei ihr?"
Unwohl knetete ich meine Hände. "Ich weiß nicht ..."
"Bitte." Ed jaulte auf. Er musste höllische Qualen erleiden und es gab in dieser Scheißkammer nichts, womit ich ihm helfen konnte.
"Ich wüsste nicht wie." Meine Worte waren ein Flüstern. Bei seiner Frau damals, die Krebs im Endstadium hatte, war die Sterbehilfe problemlos verlaufen. Ich hatte die Mittel gehabt, ihr ein halbwegs würdevolles Ende zu bereiten – auch wenn es illegal war. Aber sie hatte so gelitten.
Mitfühlend sah ich zu Ed, der sich vor Schmerzen wandte, bevor er kraftlos zusammensackte.
So hatte sie damals auch oft geschaut. Die Frau, die es tatsächlich geschafft hatte, Ed ein paar Jahre des Friedens zu bescheren. Wer weiß, vielleicht hätte sie ihn irgendwann sogar auf die richtige Bahn zurückgeführt. Weg vom Alkohol und den Leichen. Aber es traf immer die Guten und nie die Schlechten. Sie war erkrankt und Ed hatte mich angefleht, ihr zu helfen, weil sie das Elend nicht mehr ertrug. Obwohl wir aufgrund unserer ganzen verdorbenen Sippschaft kaum mehr Kontakt gehabt hatten, hatte ich ihm geholfen. So wie er mir danach geholfen hatte, meine Laster zu beseitigen. Sie in Fässern aufzulösen oder den Schweinen zum Fraß vorzuwerfen. Die einzig gute Person auf diesem Hof war damals gestorben und Ed und ich lebten noch. Das Schlechte überlebte immer. Kurz flammte Aylas Bild an meinem inneren Auge vorbei. Nein, ich musste es beiseiteschieben. Sie war fort und das war gut. Allein der Gedanke, sie hier in Gefahr zu bringen, zerfraß alles in mir. Aber sie war in Sicherheit ...
"In dem Schrank dahinten, müsste noch ein Klappmesser liegen." Eds Worte waren begleitet von einem Röcheln.
Fragend sah ich ihn an.
"Bitte, Milan, beende es." Seine Augen wurden groß. "Ich will hier nicht elendig verrecken und du hast den Pisser draußen gehört. Er wird genau das zulassen." Kurz hielt er inne, bevor er meine Hand umgriff. Eine ungewohnte Berührung. Seine Finger waren rau von der schweren Arbeit auf dem Hof und ich fragte mich, ob wir uns jemals umarmt oder auf die Schulter geklopft hatten. Wie Brüder, oder sei es nur Halbbrüder, es normalerweise taten. Einmal hatte er mir einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben, als wir mit Keschern über eine Wiese gerannt waren und ich laut ihm schuld gewesen sei, dass er den größten Falter der Welt hatte entkommen lassen. Wir hatten uns oft geprügelt und geschlagen, taten, was uns unsere Väter tagtäglich vorgelebt hatten.
Wortlos erhob ich mich und lief zu dem alten Schrank. Ein Haufen Kleinzeugs befand sich im Inneren. Aber Ed hatte Recht. Nach etwas Suchen fand ich nicht nur ein Klappmesser. Zwei mittelgroße Jagd- oder besser Campingmesser lagen dort. Ich entschied mich für das Neuere mit stolzer Klinge von acht oder neun Zentimeter. Es war kompakt und geschliffen scharf.
"Geht das?" Eds Stimme war nun mehr ein Rasseln.
Die Klinge würde reichen, aber ich wusste nicht, ob meine Hände es tun würden. Ich bemerkte das leichte Zittern. So oft hatte ich getötet. So leicht fiel es mir. Viel zu leicht. Aber in diesem Moment sträubte sich jede Faser dagegen.
Mit langsamen Schritten lief ich wieder zu Ed und setzte mich neben ihn.
"Du bist doch Eins A im Schneiden." Ein gluckerndes Lachen erklang.
"Ich weiß nicht Ed ..." Vielleicht war es die Hoffnung, die mich zurückhielt. Die dumme Hoffnung, dass er es doch schaffen könnte. Aber als Arzt wusste ich, dass es bereits zu spät war. Seine Kleidung war in Blut getränkt. Alles war in Blut getränkt.
"Bitte, Milan", flehte er kraftlos. Auch seine Finger, die erneut meine Hand umgriffen, waren zu schlaff, um noch richtig zudrücken zu können.
Bitte.
Ich presste meine Lippen aufeinander und nickte.
"Danke", wisperte Ed.
Ich erwiderte den Druck seiner Hand.
"Wenn's dir hilft, kannst du mich auch gerne in eins der Fässer werfen." Ed schmunzelte, aber sein Blick war erfüllt von Schmerz. "Verdient hätt ich's."
"Hätten wir doch alle ...", murmelte ich. Unsere ganze beschissene Familie.
Ein mitfühlendes, geradezu warmes Lächeln, wie ich es noch nie bei Ed gesehen hatte, erkämpfte sich seinen Weg an die Oberfläche.
"Nicht alle", presste er hervor und erneut wurde es nass um seine Augen. Kurz tätschelte er meine Hand, als wäre er tatsächlich mein älterer Bruder – und nicht nur auf dem Papier. Ein älterer Bruder, der seinem kleinen noch eine letzte Weisheit auf dem Sterbebett mitgab.
"Es ist so schade", sprach er matt. "Es ist so schade, dass du unsere Mutter nie wirklich kennengelernt hast."
Ein riesiger Kloß bildete sich in meinem Hals. Nicht das Thema ...
Ein paar kleine Tränen kullerten Ed über die wie immer geröteten Wangen, die jedoch so langsam an Farbe verloren.
"Sie war wirklich eine Liebe. Ganz anders als wir."
Der Kloß wurde immer größer, drohte mich zu ersticken. Ich wollte das nicht hören, schaffte es aber nicht Ed zu unterbrechen.
"Du hättest sie wirklich sehr geliebt." Ed schniefte. "Und sie hat dich auch sehr geliebt. Es ist wirklich schade, dass du sie nie erlebt hast."
Jetzt merkte auch ich die Tränen, die sich still und leise, den Weg nach draußen suchten. Ja, es war schade. Es war schade, dass sie mit unseren Vätern die schlimmsten Männer erwischt hatte, die es gab. Es war schade, dass sie zwei noch schlimmere Söhne hervorgebracht hatte. Und es war so schade, dass ich sie nie hatte kennenlernen dürfen. Als Kind hatte ich es mir gewünscht. Immer wieder hatte ich es mir ausgemalt, wie sie beim Abendessen neben mir sitzen und meinen Vater in die Schranken weisen würde, wenn er wieder laut wurde. Wie sie mich getröstet hätte, wenn seine Hand mal wieder ausrutschte. Und wie sie irgendwann die ordentlich gefalteten Hosen und Hemden in einen Rucksack gepackt hätte und wir bei fortgegangen wären.
Aber es passierte nicht.
Sie war weg und ich war da gewesen. Je älter ich wurde, desto weiter schob ich diese Vorstellung weg. Diesen Wunsch. Dieses Bedürfnis nach etwas, das niemals passieren würde. Und als mein Vater starb, gab es auch keinen Grund mehr an dem Vergangenen festzuhalten. Obwohl der Wunsch, mit ihr wegzugehen, immer blieb.
"Vielleicht siehst du sie auf der anderen Seite", scherzte ich unter Tränen – unfähig mit dieser Flut an uralten Gefühlen umzugehen.
Eds Mundwinkel zuckten. "Auch wenn ich an den Scheiß nicht glaube, würde ich denke ich niemanden von ihnen sehen. Vielleicht unsere Väter." Er grunzte hämisch, wurde dann jedoch sehr bedrückt. "Nein, ich werde sie nicht sehen. Weder sie noch meine Frau. Das ist aber gut so, weißte. Die Guten kommen in den Himmel und Arschlöcher wie wir in die Hölle. Aber das ist okay."
Seine Hand umklammerte so gut es noch ging meine. Er hatte Angst. Angst vor dem, was kam. Ich konnte es ihm nicht verdenken.
Seinen Griff erwidernd, sprach ich: "Vielleicht kommt auch nichts. Einfach nur ein beruhigendes, schwarzes Nichts."
Ed presste wieder die Lippen zusammen, sodass sich kleine Fältchen auf seinen mittlerweile weißen Wangen bildeten. "Das ist auch okay. Ruhig und nichts ist auch ganz gut ..."
Das war der Moment. Ich glitt ein Stück näher an Eds Kopf. Ruhig und nichts bedeuteten ein Ende von Schmerzen und Leid. Und das würde ich ihm geben.
Meine Hand, die vorher gezittert hatte wie Espenlaub, glitt ruhig an seinen Hals. Und ich schnitt. Wie so oft, aber doch war es anders. Dieses Mal nahm ich Schmerz, anstatt ihn zu geben.
Kurz röchelte Ed. Dann schlossen sich seine Augen. Für immer.
Es wurde still. Sein rasselnder Atem erstarb. Und er hatte Recht. Es war wirklich schade. Schade, dass wir uns nie wie richtige Brüder zusammengerauft hatten und es auch nie mehr tun würden.

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