Kapitel 40

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Ayla


Leere. Ich spürte nichts außer diesem hohlen Gefühl in meinem Inneren. Vielleicht hatte ich aufgehört zu existieren und nur mein Geist klammerte sich noch an diesen Körper. Vielleicht würde er sich in den nächsten Sekunden einfach loslösen und emporsteigen. Dann würde ich nur noch die Hülle von mir sehen, die reglos auf dem kleinen Hotelbett saß. Für einen Moment verspürte ich in all dem Nichts den Wunsch, dass genau dies eintreten würde. Dass ich Fee folgen würde.
Mein Magen verkrampfte sich. Nein, ich würde bestimmt nicht dorthin gelangen, wo sie war. Fee mit all ihren Macken und Kanten war ein herzensguter Mensch. Auch wenn ich mir nicht sicher war, ob ein Leben nach dem Tod existierte, wünschte ich es mir gerade so sehnlich. Sie würde in den Himmel hinaufsteigen und dort die wundervolle, erfüllte Ewigkeit finden, die sie verdient hatte. Mich hingegen würde es geradeswegs in die Hölle bringen.
Zu Recht.
Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen. Wie hatte ich das alles nur geschehen lassen können. Ich hatte einfach so den Mord an einem Menschen hingenommen. Mehr noch. Ich hatte zugesehen, wie er gelitten hatte. Ich hatte zugesehen, wie er gequält wurde. Und dann hatte ich auch noch dabei geholfen, die Spuren dieser schrecklichen Tat zu beseitigen. Es hatte mich berührt, aber in Milans Präsenz kaum etwas ausgemacht. Sobald ich in seiner Nähe war, war alles an Werten und Moral, von denen ich dachte, ich würde sie tiefverwurzelt in mir tragen, wie ausgelöscht.
Und jetzt, wo Fee tot vor mir gelegen hatte, brach eine Welt für mich zusammen. Wie heuchlerisch. Wie falsch.
Ich wusste noch immer nicht, wer der gefolterte, tote Mann im Keller gewesen war. Aber auch mit seinem Tod war eine Welt zusammengebrochen und ich hatte es toleriert. Ekel stieg in mir hoch. Vor allem bei dem Gedanken, dass ich der Polizei kein Wort gesagt hatte. Wie eine leblose Marionette hatte ich die Fragen beantwortet, die mir gestellt wurden, als die Beamten den Tatort untersucht hatte.
Wann hatte ich Fee zum letzten Mal gesehen? Hatte sie Feinde? Konnte ich mir vorstellen, wer zu solch einer Tat fähig wäre?
Nein, das konnte ich nicht. Gut, einen Mann gab es in meinem Leben, der dazu fähig wäre. Allerdings hatte er ein Alibi. Wie ich Milan hasste. Wie ich mich hasste. Während Fee womöglich einen Todeskampf geführt hatte, war ich weg gewesen. Während sie verblutete, hatte ich meinen Spaß bei Milan. Einen ekelhaften, mörderischen Spaß. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie schlimm es war, was ich getan hatte. Ein flüchtiger Moment des Vergnügens und der Nähe. Aber sie waren die Konsequenzen nicht wert. Nichts war ein Leben wert. Wie hatte ich das nur verdrängen können?
Ich krallte meine Nägel in die Schläfen. Alles, was die letzten Tage wie verschwunden war, kehrte mit einem Schlag zurück. Der Ekel, die Scham, das Gewissen, die Moral. Und eine noch viel quälendere Frage: Wie hatte ich nicht für Fee da sein können?
Warum war ich nach dem Grauen im Keller nicht direkt geflohen. Wäre ich, nachdem ich den Kellerraum verlassen hätte, direkt in die WG gekommen, dann wäre ich da gewesen. Ich hätte sie beschützen können. Oder zumindest einen Krankenwagen anrufen können, um die Blutung zu stoppen.
Aber ich war nicht dagewesen. Überhaupt war ich in der letzten Zeit kaum für sie dagewesen. Ihre ganzen Besuche in der Heimat, über die sie kaum gesprochen hatte. Wie hatte ich als Freundin nur so versagen können?
Fees totes Gesicht suchte mich heim. Wobei es nicht mehr sie war. Der Todeszeitpunkt, wie ich durch den Schleier, der mich während der Inspektion des Tatorts umgeben hatte, mitbekommen hatte, lag nicht lange zurück. Nicht mal einen Tag. Und doch hatte sie so blass, so fremd ausgesehen. Ich presste meine Hände auf den Mund, als ob dies die Übelkeit stoppen könnte. Dieses Bild würde mich nie wieder loslassen. Die schöne, liebe und manchmal etwas aufbrausende Fee. Tot, blutgetränkt und für immer fort. Nie wieder würde ich mit ihr über Uni und Familie plaudern, nie wieder ein Glas Wein oder Kaffee schlürfen können. Nie wieder in ihren Armen liegen, wenn wir beide mal wieder das Gefühl hatten, alles ginge den Bach runter.
Sie war tot. Weg.
Ich konnte es nicht fassen.
Während ich bei der Befragung und Durchsuchung nichts sehnlicher gewünscht hatte, als die Wohnung zu verlassen, ertrug ich es in diesem Augenblick kaum allein zu sein. Zitternd kauerte ich mich auf das ordentlich bezogene Bett. Wie ein Embryo zog ich die Beine an mich und umschlang sie mit meinen Armen. Aber es war nicht genug. Es ersetzte nicht, die tröstende Umarmung eines anderen Menschen. Zwar hatte ich meine Eltern informiert und sie hatten mir zwischen all den Schluchzern sofort angeboten, dass ich zu ihnen kommen könnte, aber ich konnte es nicht. Mein letztes Erspartes zusammenkratzend hatte ich ein billiges Hotelzimmer genommen. Auch wenn ich es mir eigentlich nicht leisten konnte. Insbesondere in Anbetracht der Kosten, die bei der Auflösung der WG ... Nein, ich konnte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt.
Genau, wie ich jetzt nicht bei meinen Eltern sein konnte. Sie würden über Fee sprechen wollen und das wollte ich gerade nicht. Ich wollte nicht über sie reden. Nicht über die tote Fee. Ich wollte die lebende Fee zurück.
Ein Heulkrampf durchschüttelte mich.
Sie hatte das nicht verdient. Sie war doch noch viel zu jung. Niemand hatte das verdient.
Ich presste mein Gesicht ins Kissen und entließ einen schmerzerfüllten Laut in das menschenleere Zimmer. Die Wände hier waren dünn und trotz des Kummers, der alles erfüllte, wollte ich die anderen Hotelgäste nicht stören. Dabei sehnte ich mich danach, dass jemand auf der Matte stand und mich umarmte. Nicht redete, sondern einfach nur bei mir lag oder zumindest meine Hand griff. Die einzige Person, die dies hätte tun können, war jedoch die, die ich nicht anrufen konnte. Die ich nicht anrufen wollte.
Milan hatte sein wahres Gesicht gezeigt. Gut, er hatte es immer gezeigt. Er und sein krankes Hobby kamen zuerst, alles andere danach. Wobei ich unter der Dusche wirklich dachte, ich wäre ihm wichtig. Meine Bedürfnisse wären ihm ebenfalls wichtig oder zumindest nicht scheißegal.
Wie ich mich geirrt hatte. Wie so oft ich mich in ihm geirrt hatte. Oder hatte ich es still und heimlich immer gewusst? Er kam zuerst. Ich war ihm egal. Fee war ihm egal. Hauptsache er würde nicht in die Scheiße mitreingezogen werden. Wer weiß, vielleicht hat Fees Tod auch mit ihm ...
Nein, ein weiterer Gedanke, den ich nicht zu Ende denken und erst gar nicht in meinen Kopf lassen wollte. Denn es würde bedeuten, dass ich eine Mitschuld trug. Immerhin hatte ich Milan in mein Leben geholt. In unser Leben.
Und das schlimmste. Ich hatte gelogen. Obwohl er mich zurückgelassen hatte, als ich ihn am meisten brauchte, hatte ich ihn geschützt. Der Polizei hatte ich zwar erzählt, dass ich die letzten Tage bei ihm, meiner lockeren Affäre war, aber nicht, dass er beim Auffinden der Le- ... von Fee dabei war. Vielleicht würden sie auf ihn zukommen, aber das konnte mir egal sein. Er konnte mir egal sein. Hoffentlich schlugen sie bei ihm auf, wenn er gerade versuchte, die Leiche zu verladen. Er hatte es verdient, in den Knast zu wandern. Oder schlimmer noch ...
Mit mittelmäßigem Erfolg versuchte ich, meine Atmung in den Griff zu bekommen. Das unkontrollierte Schluchzen und Japsen führten beinahe dazu, dass ich das Gefühl hatte zu ersticken. Ich musste mir überlegen, wie ich nun vorgehen wollte. Was ich tun wollte.
Auf den Rücken liegend starrte ich an die weiße Hoteldecke. Ich musste mit jemanden reden. Jetzt. Mit jemandem der nicht meine Eltern und schon gar nicht Milan war. Jemand Unabhängiges mit Distanz, der die Sachen so klarsah und mir trotzdem vertraut war.
Mit fahriger Hand fischte ich mein Handy hervor und tippte auf den Kontakt, der ganz oben bei meinen Chats war. Ich rief ihn an. Den wichtigsten Vertrauten, den ich noch hatte.
Die Person, die mich nicht im Stich gelassen hatte.

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