Kapitel 30

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Ayla

Nervös knetete ich meine Hände, als ich die Einfahrt zu Milans Haus hinaufwanderte. Zwangsläufig fühlte ich mich an das erste Mal erinnert, als ich diesen Weg hinaufgeschritten war. Damals war ich ebenfalls nervös gewesen, eingekleidet in ein elegantes Kleid und schicke High Heels. Doch war es bei meinem ersten Besuch eine vorfreudige Nervosität voller Aufregung und Erwartung gewesen, könnte es dieses Mal nicht konträrer sein. In Jeans, einem weiten Pulli und Turnschuhen blieb ich vor seiner Haustür stehen.
Angespannt glitt mein Blick zur Klingel. Die imposante Sicherheitsanlage, die mir beim ersten Mal einen Funken Neid entlockt hatte, versetzte mir nun einen Schrecken. Jetzt wusste ich, warum er sein Haus so abgesichert hatte. Wie hatte ich das alles nicht sehen können?
Mein Finger fuhr hoch, aber ich hielt inne. Wollte ich das wirklich? Was erhoffte ich mir?
Während des Festivals, wohlbemerkt etwas benommen durch meinen Trip, hatte sich das Ganze wie eine fantastische Idee angefühlt. Allerdings war schon dort mein Wunsch, noch einmal mit ihm zu sprechen, durchtränkt gewesen von Sehnsucht und Vermissen. Und genau das war falsch. Diese Gefühle waren falsch.
Kurz hatte ich überlegt, mir Abhörgeräte zu besorgen oder mein Handy mitlaufen zu lassen. Aber nachher würde er es bemerken und wer weiß, ob ich dann nicht wieder auf der Pritsche aufwachen würde – dieses Mal gefesselt.
Übelkeit erfüllte meinen Magen. Das war es. Das waren die Bilder und die Gefühle, an die ich mich klammern musste. Angst, Entsetzen und die Vorstellung, was er Menschen in diesem Keller angetan hatte.
Ein wenig mutiger drückte ich die Klingel.
Es dauerte ein paar Sekunden, da öffnete sich die Tür. Hatte er bereits auf mich gewartet ...
"Ayla", grüßte er knapp.
"Milan", erwiderte ich die schroffe Begrüßung, sofern man denn von einer solchen sprechen konnte.
Misstrauisch musterte er mich.
Als er keine Anstalten unternahm, mir Platz zu machen, fragte ich: "Darf ich reinkommen? Oder willst du hier draußen sprechen?" Mein Ton klang bissig.
Wortlos glitt er zur Seite.
Tief einatmend trat ich über die Türschwelle. Hinein in die Höhle des Monsters.
Prompt wanderte mein Blick zu der weißen Tür mit dem blitzenden Schloss. Die Tür, die zu dem Keller hinabführte. Zu dem schlimmsten Raum, den ich jemals gesehen hatte.
"Kannst die Schuhe anlassen", brach Milan mit monotoner Stimme die Stille.
"Mhm", kam es aus meinem Mund. Ich fühlte mich eingeschüchtert. Wahrscheinlich auch kein Wunder. Doch ich wollte nicht wie ein verunsichertes Opfer verloren in dem großen Flur herumstehen.
Den Rücken straffend lief ich in Richtung Wohnzimmer. Mein Blick fiel auf die Ledercouch. Unwillkürlich spürte ich die Röte in meine Wangen steigen bei dem Gedanken, was auf dieser passiert war. Vielleicht doch lieber der Esstisch ... Wobei er mich da auch genommen hatte, nachdem ich ihn überredet hatte, den Studenten mit seiner Umfrage einzulassen und dieser wieder gegangen war.
Zögerlich wanderte mein Blick hin und her. Wahrscheinlich würde es wenig Orte in diesem Haus geben, die für mich nicht sexuell aufgeladen waren.
"Auf die Couch?" Es sollte eine Frage sein, doch aus Milans Mund klang sie wie so oft wie ein Befehl.
Ich nickte und lief auf diese zu. Es war egal, wo wir saßen. Es würde ohnehin das letzte Mal sein.
Vor dem dunklen Sofa blieb ich stehen. Ein Rumpeln erklang.
Ich drehte mich um und sah, wie Milan einen der Esszimmerstühle zum Sofa trug. Dankbar seufzte ich. Ich war froh darüber, nicht mit ihm auf einer Couch sitzen zu müssen und etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
Moment, ich durfte nicht dankbar sein. Schon gar nicht wegen so einer kleinen Geste. Er war ein Mörder.
Ich hatte gewusst, dass es schwierig werden würde. Meine Festival-Bekannschaft Ensel hatte mich davor gewarnt, mit ihm zu sprechen. Auch wenn er nicht wusste, was genau vorgefallen war, schien er äußerst besorgt und meinte, ich sollte mich melden, sobald ich aus dem Haus wieder raus war. Fee hatte ich gar nicht erst eingeweiht. Sie hätte mich an mein Bett gefesselt und die nächsten Tage nicht mehr ohne Begleitung außer Haus gelassen. Hm, es gab irgendwie viele Menschen, die mich fesseln wollten.
"Willst du dich nicht setzen?", entgegnete Milan und riss mich aus meinen Gedanken.
"Doch, doch." Ich ließ mich auf das kühle Leder nieder.
Prüfend betrachtete mein Gegenüber mich, während ich unruhig an einer Haarsträhne friemelte.
In meinem Kopf hatte ich mir die Unterhaltung bis ins kleinste Detail ausgemalt, aber jetzt fühlte sich alles falsch an. Mir fiel keine einzige Frage ein.
Eine Weile starrten wir uns stillschweigend an, wobei ich immer wieder wegschauen musste. Sein Blick kochte mich förmlich.
Da erhielt ich gottseidank eine Erleuchtung.
Mit zittrigen Fingern langte ich in meinen Beutel. Ich musste ein wenig suchen, bis ich den unebenen Klumpen zu greifen bekam.
Entschloss zog ich Gnomi heraus und stellte ihn auf den Couchtisch, direkt vor Milans Nase.
Verwundert betrachtete er die unförmige Figur. Ich hatte ihn tatsächlich aus der Fassung gebracht. Allerdings blieb er weiter schweigsam.
"Das bist du", erklärte ich, bemüht um eine kontrollierte Stimme.
Milans perfekte Hände langten nach dem schrumpeligen Gnom. Aufmerksam betrachtete er ihn.
"Sehr treffend", kam es zurück. Er wusste genau, was diese Figur darstellte. Den abartigen Teil seines Charakters, für den eigentlich noch dieser schlecht geformte Haufen Ton zu gut war.
Sich vorne überbeugend stellte Milan das Werk zurück auf den Tisch. Dabei drehte er ihn nicht in meine Richtung, sondern stellte ihn so hin, dass Gnomis leidend, elendig dreinschauendes Gesicht ihn anstarrte.
"Was genau machst du in diesem Keller?", schoss es aus mir heraus.
Die Hände verschränkend lehnte Milan sich auf dem Stuhl zurück. Ein vertrauter Ausdruck legte sich auf sein Gesicht und ließ mich herumrutschen.
"Zieh den Pulli hoch." Seine dunkle Stimme schlug wie Donnern in die Stille ein.
"Was?" Verwirrt umklammerte ich den Stoff meines Pullis und zog ihn zur Sicherheit noch etwas tiefer.
"Du hast mich schon verstanden, Ayla."
Die Art, wie er meinen Namen aussprach, ließ ein feines Knistern auf meiner Haut zurück. Ernsthaft?
Die Stimmung zwischen uns war bis zum Bersten angespannt. Es war kaum zum Aushalten.
Ich wollte nicht, aber merkte wie meine Hand, die den Stoff hielt, nach oben wanderte. Meine nackte Haut kam zum Vorschein. Und mein BH.
"Okay, das reicht." Mit zwei Fingern bedeutete Milan mir, den Stoff wieder sinken lassen zu können.
"Dachtest du, ich wäre verwanzt?", fragte ich und zog den Pulli rasch wieder runter. Auch wenn dieses Mal zwei Lagen Stoff meine Brüste verhüllten, waren diese dünn. So dünn, dass ich fürchtete, dass sich meine Spitzen wieder verräterisch abzeichnen würden. Vor Kälte natürlich.
"Wäre das so abwegig?"
Sauer blinzelte ich ihn an, packte meinen Beutel und schleuderte ihm diesen entgegen. Er prallte auf seinen Schoß. Wäre ich nicht so sauer, hätte ich mich über diesen präzisen Wurf gefreut.
"Willst du den auch noch durchsuchen?"
Mit einem Seufzen packte Milan den Jutesack und legte ihn auf den Couchtisch neben Gnomi. Aha, es ging überhaupt nicht um ein mögliches Abhörgerät – zumindest nicht nur. Er wollte sehen, ob ich ihm noch immer hörig war. Leider hatte er dieses Mal gewonnen.
"Also, was machst du genau in diesem Keller und warum?"
Milan verengte die Augen zu Schlitzen. "Willst du eine detaillierte Beschreibung?"
Ich nickte, schüttelte dann jedoch den Kopf. Ich hatte eine ungefähre Ahnung, was er dort unten tat. Das Besteck sagte mehr als tausend Worte.
"Missbrauchst du sie auch?", wisperte ich angespannt.
Seine Schläfen zuckten und mein Magen drehte sich um.
"Nein", antwortete er. "Ich zerschneide sie nur, so lange bis sie das Bewusstsein verlieren, wobei ich penibel darauf achte, dass dies möglichst lange ausbleibt."
"Und dann?" Aufgeregt bebte meine Stimme.
"Dann töte ich sie. Bewusstlos bringen sie mir nichts."
Galle stieg meine Speiseröhre hoch. Bringen sie mir nichts ...
"Das sind Menschen, über die du da sprichst", flüsterte ich, aber es verlor sich beinahe völlig in diesem großen, anonymen Wohnzimmer.
"Ich weiß, mit anderem macht es mir auch keinen Spaß." Seine Stimme schwang zwischen Ernsthaftigkeit und ... Belustigung?
"Findest du das lustig", zischte ich.
"Nein, lustig nicht", entgegnete er.
"Und was dann? Turnt es dich an?"
Einen Moment zögerte er, dann wiegte Milan den Kopf hin und her. "Ich fürchte, es wird schwierig, es zu erklären. Ja, es turnt mich an. Aber anders als ..." Er hielt inne. "... als du mich anturnst."
Ich presste meine Lippen aufeinander und das Blut stieg mir in die Wangen.
Er strich sich über das Kinn. "Ich kann es dir wirklich nur schwer beschreiben. Aber der Schmerz, das qualvolle Schreien. Es treibt mich an wie in einem Rausch."
Unwohl blickte ich zur Terassentür und in den Garten. Ein hübscher Garten. Zu hübsch für das, was in diesem Haus geschah. Aber manchmal war der äußere Schein perfekt. Eine vollkommene, makellose Schale, aber die Frucht im Inneren war verdorben. Ich kannte es nur zu gut. Auch wenn ich, abgesehen von meiner Therapeutin vor langer Zeit, mit niemandem darüber sprach. Über mein eigenes verrottendes Inneres. Die falschen Bedürfnisse und Vorlieben.
"Ich mag es auch ..." Ich hielt inne, aber meine Gedanken waren bereits zu weit weg, als dass ich sie zurückholen konnte. Zu lange hatte ich es für mich behalten, aber wie alles im Leben suchte sich auch diese schlechte Seite an mir irgendwann ihren Weg an die Oberfläche, brach den perfekten Schein. Wobei perfekt war ich nie gewesen ...
"Ich mag es auch, wenn Menschen Schmerzen haben. Manchmal schaue ich Filme, wenn ich an mir selbst ..." Selbst jetzt hatte ich ein Problem damit, es auszusprechen. "Es sind Filme, in denen Menschen erniedrigt und gedemütigt werden. Und klar, es ist gestellt. Aber ..." Meine Stimme wurde leise. "... ich suche diejenigen, bei denen ich merke, dass die Darstellerinnen wirklich Schmerzen haben. Wo man es ihnen ihm Gesicht ansieht, dass ihnen wehtut, was ihnen passiert."
Schuldbewusst schnellte mein Blick in meinen Schoss.
In meiner Blase aus Scham und Schuld merkte ich, wie Milan sich vorbeugte.
"Das ist vielleicht auch nicht unbedingt nobel, aber es ist nicht das Gleiche, Ayla." Seine Stimme klang fast schon besänftigend. "Du bist kein schlechter Mensch."
Die Worte hingen im Raum, halfen taten sie jedoch nicht. Wie damals in der Therapie. Wir hatten über die grenzwertigen Filme gesprochen. Solange es nicht illegal ist, hatte die Therapeutin angemerkt. Es war vielleicht auch eine Konsequenz der sehr konservativen Familienverhältnisse, in denen ich groß geworden war. Sie hatte eine Reihe an Gründen am Start gehabt, die meine verkorksten Vorlieben erklären konnten. Aber in dem Fall war es egal, weil das Erkennen möglicher Ursachen nicht dabei half, es in den Griff zu bekommen.
"Wie viele?", fragte ich.
Milan ballte die Fäuste. Einen Moment schien er zu Grübeln. Dann erhob er sich und lief in Richtung Flur. Ich sah seiner hochgewachsenen, wunderschönen Statur dabei zu, wie er verschwand. Nein, so schlecht wie er war ich nicht. Oder? Vielleicht war ich einfach den letzten Schritt noch nicht gegangen ...
Einige unerträgliche Minuten oder vielleicht waren es auch nur Sekunden, die ich mit meinen Gedanken allein war, später, kam Milan zurück. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe.
Dann stand er wieder im Wohnzimmer. In der Hand ein schwarzes Notizbuch.
Er legte das dunkle Leder auf den Couchtisch, neben Gnomi und meinen Beutel.
Automatisch wollte ich danach langen.
"Sicher?", fragte er. "Es sind dann deine Fingerabdrücke dran."
Ich hielt inne, aber es war mir egal.
Bestimmt griff ich zu, nahm das Buch auf den Schoss und öffnete die erste Seite. Sie war leer. Kurz strichen meine Finger über das linierte Papier, bevor ich weiterblätterte. Die kommenden Seiten waren beschrieben.
Jedes Blatt zierte ein Datum in der oberen Ecke sowie ein Name samt Alter in der Mitte.
Ich erstarrte.
Es war nicht komplett gefüllt, aber es waren einige Seiten.
Ich begann zu zählen.
Immer wieder brach ich ab und zählte von neuem. Meine Gedanken krallten sich an den Namen fest.
Jürgen.
Louise.
Annika.
Leon.
Eine Träne tropfte auf das Papier. Ich schlug das Buch zu. Doch die Tränen hielt es nicht davon ab, weiterzulaufen. Ich hatte keine Bilder vor Augen, aber diese Namen. Allein die Vornamen waren schon zu viel. Viel zu viel. Ich konnte nicht mehr. Es war wie eine Aneinanderreihung von Todesanzeigen.
"Elf." Milans Stimme klang ruhig, aber ich kaufte ihm die vermeintliche Gelassenheit nicht ab.
Schniefend sah ich ihn an. Wie konnte er nur? Elf Menschenleben. Ein Ende wahrscheinlich nicht in Sicht.
"Warum?", fragte ich, außer Stande, ein weiteres Wort zu formulieren.
"Ayla ..." Unwohlsein spiegelte sich auf seinem Gesicht ab. Ein quälender Blick, den ich noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte, suchte meinen.
"Warum?", wiederholte ich lauter. "Warum?"
Er senkte den Kopf und starrte auf seinen Schoß. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, aber das war vielleicht auch besser so.
"Wenn das so leicht zu beantworten wäre ..." Ihm fehlten die Worte. Kein Wunder. Es gab keine die ausreichten, diese Ungeheuerlichkeiten in Worte zu fassen oder gar zu begründen.
"Versuch es", befahl ich. Er musste bereits nach Erklärungen gesucht haben, da war ich mir sicher.
"Ich weiß wirklich nicht, was das ändern soll."
Ausflüchte. Er floh, anstatt sich zu stellen. Wie unfair. Hatten die Menschen unten im Keller doch nicht diese Option gehabt.
"Ist das wegen deiner Erziehung?" Ich erinnerte mich an seine Worte damals. Sein Vater hatte ihn bestraft und körperlich misshandelt. War dies die Ursache? Ein verkorkstes, ausgeartetes Ventil, um das Erlebte zu verarbeiten.
Sein Blick hob sich und er musterte mich. "Ich glaube, das wäre etwas zu leicht, oder?"
Fragend erwiderte ich seinen Blick.
"Den Eltern alle Schuld zu geben", murmelte er.
"Oh", unterbrach ich ihn. "Die Schuld trägst allein du. Aber ich will auch keine Entschuldigungen." Meine Stimme zitterte erneut. "Ich will Erklärungen. Verstehen, warum du so etwas tust." Verstehen, warum ich mir alles zwischen uns eingebildet hatte. Warum es mir nicht aufgefallen war. Warum ich es nicht gesehen hatte. Auch wenn ein kleiner Teil in mir wusste, dass ich es vielleicht gar nicht hatte sehen wollen.
Milan faltete die Hände und lehnte sich zurück. Er hatte sich wieder gefangen. Natürlich hatte er das. Es war wie das Umklappen eines Schalters. So oft schwang die Maskerade bei ihm um und ich kam kaum hinterher.
"Bestimmt hat meine Erziehung etwas beigetragen oder vielleicht eher begünstigt." Er hielt inne, strich mit einem Daumen über den anderen. "Vielleicht wäre das alles nicht in der Art und Weise passiert, wenn ich in einer glücklichen, gewaltfreien Familie aufgewachsen wäre. Ohne hungernd im Keller eingesperrt zu werden, wenn ich vergessen hatte, mein Spielzeug wegzuräumen. Ohne Schläge auf meinen Bauch und in die Seiten, die ja vom Pullover bedeckt waren, wenn ich zu spät aus der Schule kam. Ohne stundenlanges, peinigendes Schrubben vom Küchenboden, wo er vorher extra alles eingesaut hatte, weil ich am Tisch zu sehr mit dem Bein wippte. Oder ohne Essig in Wunden geträufelt zu bekommen, die er vorher wieder aufgeschnitten hatte, wenn ich meine Hosen nicht ordentlich gefaltet in den Schrank gelegt hatte." Es versetzte mir einen Stich. Wie nüchtern er die Erinnerungen aufzählte. Und wie perfide die Strafen waren.
"Milan ...", flüsterte ich.
Er hob die Hand. "Kein Mitleid. Es war auch nicht das. Es hat es nur begünstigt."
Ich schüttelte den Kopf. "Wieso begünstigt?"
Sein starrer Blick wanderte aus dem Fenster. "Er war kein guter Vater, aber ich war auch kein einfacher Sohn."
"Das ist doch keine Entschuldigung, sein Kind zu misshandeln", empörte ich mich.
"Ich weiß. Vor allem, weil er von den dunklen Seiten in mir nie etwas mitbekommen hatte. Natürlich nicht, wer weiß, was für drakonische Strafen es dann gesetzt hätte." Ein unheimliches, schräges Lächeln entstellte sein sonst so wunderschönes Gesicht.
"Was meinst du mit dunklen Seiten?", fragte ich, auch wenn ich es bereits erahnen konnte.
"Es hat mich schon immer erfreut, wenn es anderen schlecht ging. In der Schule ist einmal ein Klassenkamerad von einem Trampolin gefallen. Er hat geweint und geschrien, lag mit blutendem Kopf auf dem Schulhof." Er neigte den Kopf, während die indigofarbene brennende Hölle in seinen Augen mich nicht losließ. "Ich habe es genossen. Damals habe ich es nicht ganz verstanden. Wie so oft, wenn andere entsetzt waren, weil sich jemand verletzt hatte oder gemobbt wurde, fand ich es fast schon belustigend."
Unruhig kaute ich auf den Innenseiten meiner Wangen. "Hast du anderen schon damals wehgetan?" Warum sollte er nur zugeschaut haben, wenn es ihm eine solche Freude bereitet hatte.
"Nein, keinen Menschen."
"Tieren", rutschte es mir entsetzt heraus.
Milan wiegte den Kopf. "So wie bei den meisten nicht wahr." Wieder löste sich sein Blick von mir und wanderte in weite Ferne. "Ich war damals öfters bei meinem Onkel, dem Bruder meines Vaters. Immer wenn Ferien waren oder er an langen Wochenenden besseres zu tun hatte."
"War es bei deinem Onkel besser? Also hat er dich nicht geschlagen oder so?", fragte ich hoffnungsvoll.
Doch Milans Augen sagten alles. "Nicht so schlimm wie mein Vater, aber auch kein Engel. Er hatte einen kleinen Bauernhof. Mit Wiesen und Tieren."
Mit flauem Magen lauschte ich ihm. Eine dunkle Vorahnung beschlich mich.
Wie so oft schien Milan mir diese direkt an der Nasenspitze abzulesen.
"Nein, nicht diese Tiere." Er richtete sich ein Stück auf. "Als ich damals neun oder zehn war, hatte er seinem Sohn und mir zwei Kescher, die auf dem Markt ergattert hatte, geschenkt. Es war Frühjahr und wir haben den lieben langen Tag Schmetterlinge und Falter damit gefangen. Jeder hatte am Ende ein paar Gläschen voll. Sein Sohn ließ sie irgendwann wieder raus. Aber ich behielt meine und abends, als ich allein in dem Gästezimmer war, in dem ich immer übernachtete, holte ich sie raus. Einen nach dem anderen. Ich riss ihnen die Flügel raus. Am Anfang schnell, dann langsam. Sie zuckten. Manche länger, manche kürzer. Und ich war fasziniert."
Mit großen Augen starrte ich ihn an.
"So fasziniert, dass ich nichts um mich herum wahrnahm. Auch nicht, wie mein Onkel ins Zimmer kam." Die Anspannung verließ Milans Muskeln. "Er ist ausgerastet. Er hat gewusst, dass etwas nicht mit mir stimmte. Seitdem hatte er immer ein Auge auf mich. Jedes Mal, wenn er das Gefühl hatte, ich würde mit den Tieren nicht gut genug umgehen, prügelte er die fehlende Zuneigung in mich rein. Er liebte Tiere, vor allem seine Hunde. Dass meine sadistischen Neigungen auch auf Menschen überschlagen könnten oder würden, hat er nicht geahnt oder es war ihm egal, weil Menschen ihm egal waren." Seine Mundwinkel zuckten. "Ein Stück weit hat es sogar funktioniert. Tiere habe ich seitdem nicht angerührt."
Ich brauchte einen Moment Ruhe. Natürlich er war ein geborener Sadist. Fast wie er im Buche stand. Hätte man das verhindern können?
"Wann hast du angefangen, Menschen ..." Ich stockte. "... zu foltern?"
"Während des Medizinstudiums. Ich hatte schon vorher probiert, meine sadistischen Züge auszuleben. Anders auszuleben. Aber als ich es dann einmal getan hatte ..." Sehnsucht flackerte in seinen Augen auf. "... wollte ich nie wieder zurück."
"Hast du gar kein schlechtes Gewissen?"
Seine nächsten Worte offensichtlich abwägend, strich Milan seine Hose glatt. "Klar, ich bin kein Psychopath. Ich fühle Reue und ja, auch ein schlechtes Gewissen. Aber mit der Zeit lernt man dieses in den Griff zu kriegen und zu verdrängen." Er tippte sich an die Schläfe. "Der Kopf kommt mit dieser kognitiven Dissonanz auf Dauer nicht gut zurecht und findet seine Wege, die Konflikte zu beseitigen."
Ein lautes Stöhnen entwich mir. Ich wusste nicht, was ich mir von diesem Gespräch erhofft hatte. Hätte es einen guten Ausgang geben können? Nein, natürlich nicht.
Aber hätte es so sein müssen.
Verzweifelt fuhr ich mir durch die Haare. Mein Blick wanderte von der Decke, der Tapete, zur Terrasse, zu ihm und wieder zurück. Eine Lösung fand ich nicht. Es gab ja auch keine.
"Also, Ayla." Seine sonore Stimme schwang wie die dunklen Saiten eines Cellos. "Was wirst du mit diesen Informationen nun machen?"
Unbeholfen zuckte ich mit den Schultern.
Klar, ich sollte zur Polizei rennen. Aber mal davon abgesehen, dass ich wieder nur Worte als Beweise hatte, hielt mich etwas zurück. Kurz streiften meine Augen Milans Anblick. Wie er da saß, fast schon gelassen. Auf seinem hinreißenden Gesicht eine feine Maske. Doch ich erkannte nun, was darunter tobte. Das Graublau seiner Augen war kein ruhiges Mitternachtsmeer, es war ein Abgrund. Er war ein Abgrund. Doch ich konnte mich einfach nicht der Vorstellung erwehren, hinabzusteigen. Ihm auf diesem dunklen Pfad zu folgen. Ja, er war ein Mörder. Ein Sadist. Er folterte, verletzte, tötete.
Und ich war egoistisch. Zumindest in diesem Moment, weil meine Gedanken an ihn nicht diese waren. Sie bestanden aus der gemeinsamen Zeit, dem erfüllenden Gefühl, das er mir im Bett gegeben hatte, seinen Worten, die meine Seele berührt und gestreichelt hatten.
Ich starrte den Tonklumpen an. Warum konnte es nicht so leicht sein? Man nahm diesen schlimmen Teil einfach aus ihm raus, separierte und zertrümmerte ihn.
Aber das war nicht möglich. Es gab keine Lösung. Keine Rettung.
"Ich glaube", wisperte ich. "Ich glaube, ich muss mal ins Bad."
Ein knappes Nicken folgte.
Ich erhob mich. Bevor ich jedoch hinausschritt, blieb ich stehen. Wahrscheinlich wäre ich sonst davon gestürmt.
"Hast du eigentlich Erinnerungen an deine Familie hier? Also Fotos? Irgendetwas aus deiner Vergangenheit?" Irgendetwas Persönliches ergänzte ich still.
Milan räusperte sich, deutete dann jedoch mit dem Finger auf eine der Schranktüren des mächtigen Sideboards, auf dem der Fernseher thronte.
"Darf ich?" Ohne eine Antwort abzuwarten, lief ich zu dem Board, ging in die Hocke und öffnete die Tür. Ein kleines schwarzes Kästchen befand sich in dem sonst leeren Fach. Auch hinter den Türen blieb es aufgeräumt und distanziert. Nicht wie meine Schränke und Schubladen, die vor persönlichem Zeug und Schnickschnack überquollen.
Ich zog die Schachtel heraus und nahm die oben aufliegenden Papiere heraus.
Fotos von einem kleinen Milan strahlten mir entgegen.
Im Kindergarten.
In der Schule.
Es waren die obligatorischen Einzelfotos, die mindestens einmal im Jahr gemacht wurden.
Je genauer ich sie betrachtete, desto deutlicher sah ich allerdings, dass das Lächeln, das der Junge trug, kein fröhliches Kinderstrahlen war. Es war aufgesetzt, fast schon reserviert. Es brach mir das Herz.
Darunter fand sich eine Einladung. Zu einer Hochzeit.
Kurz stolperte mein Puls. Er hatte doch nicht ...
Doch da fiel mir auf, wie vergilbt das Papier bereits war. Die Karte musste schon ein paar Jahrzehnte alt sein. Älter als Milan auf jeden Fall. Und tatsächlich. Als ich sie aufklappte, war ein junges Paar abgebildet. Sie mit gedämpftem Lächeln, ihre Hand mit Verlobungsring in die Kamera haltend. Er den Arm um sie gelegt, aber weniger vertraut, sondern fast, als ob er sie auf Abstand halten wollte. Auch wenn die Ähnlichkeit nicht zu verkennen war, handelte es sich bei dem hochgewachsenen Mann mit den breiten Schultern nicht um Milan. Es musste sein Vater sein.
Wir laden herzlich ein!
Filip & Edine Degard
"Hübsch sieht deine Mutter aus", sagte ich gedankenversunken und meinte es ernst. Ein liebevoll dreinschauendes Gesicht und ellenlange Wimpern, die ihre hellen Augen umrahmten. Sie trug ein cognacfarbenes Kleid und lederne Pumps. Von ihr hatte sich wohl auch das Blond in Milans Haarfarbe eingeschlichen.
Sein Vater war dunkelhaarig und wirkte in seinem schwarzen Anzug – im Gegensatz zu der Frau neben ihm – geradezu einschüchternd. Mir drehte sich der Magen um.
Schnell ließ ich die Karte und Bilder in den Karton fallen und schob ihn zurück in das Fach.
Erst als ich die Tür wieder geschlossen und mich aufgerichtet hatte, sah ich zu Milan.
Er hatte sich kaum gerührt, nur leicht zur Seite gedreht, und taxierte mich wie eine Sicherheitskamera.
"Sie ist wirklich sehr hübsch gewesen", wiederholte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. "Und sie sah sehr nett aus."
Gespielt gleichgültig schnalzte Milan mit der Zunge. "Kann ich nicht beurteilen. Habe sie wie gesagt, nie kennengelernt. Sie starb an Krebs, als ich zwei war."
Ich nickte. Schade, ich war davon überzeugt, dass sie nicht wie sein Vater war. Vielleicht hätte sie ihren Sohn vor all dem bewahren können. Bei den ersten Schmetterlingen einen Termin zur Therapie gemacht und dort einen Weg ebnen können, wie man trotz dieser Veranlagung nicht zur Tat schritt.
Vielleicht irrte ich mich aber auch.
"Ich gehe mal eben ins Bad." Mit schnellen Schritten lief ich zu dem Gäste-WC.
Drinnen angekommen schloss ich die Tür. Meine Finger zitterten, als ich sie unter das kalte Wasser hielt. Gottseidank wurde es schnell warm – im Gegensatz zu den Hähnen in unserer WG.
Ich blickte in den Spiegel. Noch immer komplett überfordert mit allem. Was sollte ich tun?
Direkt die Polizei rufen? Nein, das hatte ich bisher nicht getan und würde es wahrscheinlich auch jetzt nicht tun.
Ratlos betrachtete ich mein Gegenüber, das mir allerdings auch nicht weiterhelfen konnte. Ohne Antwort stierte sie mich ebenso überfordert an, wie ich mich fühlte.
Ich könnte den Kontakt abbrechen und das alles hier vergessen. Einfach von dannen ziehen. Er würde mich lassen.
Mein Magen verkrampfte sich. Ich wollte nicht, dass er mich ließ. Dafür fühlte ich mich ihm zu verbunden. Wie lange würde ich es ruhen lassen können, bevor ich ihm wieder schrieb?
Um Beruhigung bemüht strich ich meine Haare glatt.
Was sollte ich machen?
Nein, was wollte ich machen?
Ein wohlbekanntes Lächeln legte sich auf das Gesicht meines Spiegelbilds. Nein, bitte nicht. Doch ich wusste es bereits. Ich wollte, schlecht sein. Schwach sein. Ungeachtet der Konsequenzen auf all das hier einlassen. Es war doch eh alles egal, oder?
Eine unbeantwortete Frage hatte sich außerdem immer noch fest in meinen Gedanken gekrallt. Wie weit würden meine dunklen Triebe gehen, wenn ich sie nur ließ?
Seit meinem ersten Mal wusste ich, dass es die Macht war, die mich reizte und antrieb. Das Gefälle, das mich erregte. Ich liebte es, mich im Bett unterzuordnen ... Milan unterzuordnen. Macht begann im Kopf. Es hatte keine Fesseln gebraucht. Keine Worte. Die Vorstellung reichte.
Doch was wäre, wenn sie real werden würde. Nicht mit mir, sondern mit der gefesselten Person auf seiner Pritsche. Mit das Äußerste an Macht und Gewalt, das ein Mensch an einem anderen ausüben konnte.
Es war die eine Frage, die mich umhertrieb:
Würde mir gefallen, was ich sah?

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