Kapitel 46

14 0 0
                                    

Ensel


Die Frau fiel mit einem dumpfen Prall zu Boden. Scheiße. Das konnte doch nicht sein. Ich hatte auf den Türrahmen gezielt.
Aber meine Schulter, mein Körper, meine ganze Wahrnehmung war im Arsch.
"Fickscheiße", entfuhr es mir und ich krabbelte mit der wiedererlangten Pistole nach vorne. Der Körper der Frau lag reglos auf dem Boden. Sie war vorne über direkt in diesen Horror hineingefallen. Eine Blutlache bildete sich unter dem dunklen Schopf.
"Wer ist das?", stammelte ich fassungslos und sah Mörder-Milan an, der ähnlich geschockt zu sein schien.
"Meine Arzthelferin. Famke."
"Wer?"
"Meine Arzthelferin", schrie er. "Wie viel Leute willst du hier eigentlich noch niederstrecken?"
Wütend hielt ich ihm meine Knarre entgegen. "Halt mal schön die Fresse, du Serienmörder." Mühevoll erhob ich mich und zog die Frau hinein. Die Bewegung entblößte die Wunde am Kopf. Ein glatter Durschuss. Sie musste augenblicklich tot gewesen sein.
Vorsichtig blickte ich mich draußen um. Doch auf dem stockdusteren Hof war niemand zu sehen. Allerdings hatte sich ein weiterer PKW zu dem Fuhrwerk gesellt. Der blaue Opel von eben stand auf dem Gelände. Wie hatte ich ihn nicht hören können?
Ach ja, die Kettensäge.
"Warum ist sie hier?", kreischte ich aufgebracht in Richtung des Arztes, dem ich beinahe das Bein abgesägt hätte. Mir wurde es hier langsam eindeutig zu blutig und voller Leichen. Wobei ich die mit meinen Beweisen problemlos alle Mörder-Milan zuschieben konnte.
"Gute Frage." Er schien nachzudenken. "Ich habe keine Ahnung. Wir hatten mal was miteinander, aber ..."
War das sein verfickter Ernst?
"Willst du mich verscheißern? Taucht hier Ayla also gleich auch noch auf?"
Mit einem Schlag weiteten sich seine Augen. "Ayla?"
Fickscheiße, ich hatte mich verplappert. Aber was machte es schon.
"Ja, ich weiß von deinem Bumshäschen", keifte ich, "und dass du sie bedrohst und zwingst, dein grausames Geheimnis zu hüten."
"Sie ist nicht mein Bumshäschen", kam es zähneknirschend zurück.
Auch wenn er mit dem angesägten Bein schachmatt gesetzt war, wich ich kurz zurück. Sein Blick jagte mir für einen Moment einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Es war der Blick eines Mörders, den man besser nicht provozierte. Aber ich schluckte das ungute Gefühl runter.
"Natürlich ist sie das nicht", provozierte ich ihn. "Es ist die ganz große, wahre Liebe, nicht wahr?"
Ein Knacken ertönte.
Nervös fuhr ich herum. Sah jedoch nur die Leich vor der angelehnten Tür. Prüfend beäugte ich sie. Ihr Arm lag anders als zuvor ... oder vielleicht auch nicht? Meine Erinnerungen verschwammen, wie das Elend um mich herum, zu einem blutigen Einheitsbrei zusammen. Einen Moment wartete ich ab, aber nichts tat sich. Natürlich nicht. Sie war tot.
Da knackte es erneut.
Mein Blick schnellte zu Milan. Mit verbissener Miene zog er sich auf den Armen in Richtung Wand. Sein blutiges Bein hinter sich her schleifend.
"Also, wo waren wir stehen geblieben. Dein Bumshäschen ... ach nee, große Liebe." Ich schmunzelte bei dem Anblick, wie er sich abmühte.
"Es geht dich einen Scheißdreck an. Aber ich schwöre dir, wenn du Arsch ihr etwas angetan hast ...", erwiderte Mörder-Milan bissig. Schau mal an, da wurde der Arzt vulgär.
Es gefiel mir, seinen wunden Punkt getroffen zu haben.
"Dann glaube ich, wirst du ihr in deiner aktuellen Situation wenig helfen können. Aber keine Sorge, wir haben uns lediglich ein wenig unterhalten und ... angefreundet."
"Und sie hat dir erzählt, dass ich sie unter Druck setze, um mein Geheimnis zu wahren?"
Auch wenn er es zu verbergen versuchte, erkannte ich die Unsicherheit, die in seiner Stimme mitschwang.
"Nun", antwortete ich genüsslich. "Vielleicht hat sie das. Vielleicht hat sie mir sogar dein kleines Geheimnis verraten."
Kurz glomm Zorn in seinen Augen auf, dann lehnte er sich gelassen gegen die Wand. "Du lügst genauso schlecht wie sie."
Ich rotzte etwas Spucke und Blut auf den Boden, aber ärgerte mich im nächsten Moment, dass ich es nicht in seine Richtung getan hatte.
"Vielleicht ist sie nicht ins Detail gegangen. Aber du hast sie gegaslighted, isoliert und bedroht."
"Ist das so?" Gleichmütig musterte Milan mich.
Es machte mich rasend. "Ja, das ist so, du Fickfresse. Du hast ihre Schwächen ausgenutzt, sie dir gefügig gemacht. Ich kenne solche Typen wie dich, suchen sich schwache, naive Frauen raus, mit denen sie alles machen können. Und die arme Ayla konnte sich nicht wehren. Ich habe sie gewarnt, dich aufzusuchen, du mordender Scheiß-Psycho- Serienkiller."
Ein kaltes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. "Dann willkommen im Club. Ich glaube, ab zwei ist man dabei."
"Ed hast du gekillt", brüllte ich.
"Ich meinte auch nicht Ed."
Er spielte mit mir. Dieser Dreckssack. Mein Blick glitt durch den Raum und blieb an der Klinge hängen, die er verloren hatte und nun unweit von mir lag.
"Nein?" Ich fletschte die Zähne. "Denn ich zähle hier nur eine Person, die auf mein Konto geht."
"Fee hast du auch getötet."
Fee ... Aylas Mitbewohnerin. Für einen flüchtigen Augenblick gingen mir seine Worte durch Mark und Bein. Fee hast du auch getötet. Aber ich fing mich wieder.
"Das weißt du woher?", blökte ich.
"Ach komm, du bist Ayla anscheinend genauso auf der Schliche gewesen wie mir. Du bist bei ihr eingebrochen und hast sie niedergeschlagen mit Gnomi."
Gnomi? Wtf?
Milans Blick fixierte mich. "Du hast sie eiskalt niedergeschlagen und ermordet."
"Das stimmt nicht", schrie ich ungehalten, so langsam hatte ich die Schnauze gestrichen voll. "Ich habe ihr einen Schlag verpasst. Einen verfickten Schlag. Woher sollte ich wissen, dass sie Hämophilien oder was auch immer hatte."
"Hämophilie", korrigierte mich der Besserwisser-Kackarzt und brachte mich damit noch mehr auf die Palme. "Das ist übrigens immer noch Totschlag und meine Arzthelferin hast du mit einem gezielten Kopfschuss getötet."
"ICH WOLLTE DAS NICHT." Meine Worte donnerten durch den Raum, als ich zu seiner Klinge griff und sie hochhob.
"Natürlich nicht und Ed wolltest du auch keine inneren Blutungen verpassen."
"HALT ENDLICH DEINE SCHNAUZE." Ich sah rot. Er sollte endlich seine verfickte Fresse halten.
Mit dem Messer lief ich auf ihn zu.
"Du bist ein Mörder, Ensel." Seine Stimme wollte einfach nicht schweigen. "Wie ich ..."
"NEIN", schrie ich und ehe ich mich versah, war ich bei ihm und stach zu.
Er riss sich zur Seite, aber es reichte nicht. Das Messer schnitt ihm seitlich in den Bauch.
Er sollte endlich seine Fresse halten. Ich riss die Klinge heraus und hielt sie empor.
Dann raste sie erneut in sein Fleisch. Dieses Mal in den Oberschenkel.
Ein schmerzvoller Laut war zu hören, aber es interessierte mich nicht. Wenn es die Worte in seinem Mund erstickte, würde ich ewig weitermachen. Denn ich war nicht wie er. Ich war nicht wie er. Und ich war auch nicht wie mein Vater. Und ich war kein Mörder. Und ich war ...
"Ensel?"
Eine helle Stimme brach meine Raserei.
Ich hielt inne und blickte zur Tür. Ayla stand dort und blickte entsetzt in unsere Richtung. Sie war so leise gewesen, dass ich sie nicht hatte kommen hören. Fast schon unreal verweilte sie im Türrahmen.
Panisch sah ich mich um. Milans Blut klebte an meinen Händen. Nicht nur seins. Auch das dieser jungen Frau mit dem schwarzen Haar, die vor Aylas Füßen lag. Das war so nicht geplant. Verfickte Scheiße. Das war so alles nicht geplant.
"Ayla?", kam es röchelnd von Milan.
Maßlos überfordert stand sie auf dem verdreckten Boden. Ihr Blick war an Milan gehaftet, der verletzt vor mir lag. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, während seine Hand noch versuchte, die Blutung an seinem Bauch zu stoppen. Wobei nein ... es war etwas, das ich zum ersten Mal an diesem Abend in seinen Augen sah.
Es war Angst.
Er wollte etwas sagen, aber ich kam ihm zuvor: "Hey, Ayla. Oh mein Gott. Was machst du hier?"
"Was ist passiert?", wisperte sie. Doch in der Stille waren ihre Worte fast ein Schreien.
Ich erhob mich und ließ die Klinge zu Boden gleiten. Die Pistole, die ich wie in Trance auf den Boden hatte fallen lassen, kickte ich weg. Auch wenn Milan schwerverletzt und wahrscheinlich bald genauso tot war wie Ed, wollte ich nichts riskieren.
Mit langsamen Schritten, wie ich es in der Ausbildung gelernt hatte, wenn man mit Zeugen einer traumatischen Tat zu tun hatte, ging ich auf sie zu. Immer noch versteinert klebten Aylas Augen an der Szenerie, die wohl jedes Beispiel aus der Polizeischule getoppt hätte. Der tote, verdrehte Körper von Ed. Die Frau mit dem schwarzen Haar in einer Blutlache liegend.
Mittlerweile war ich bei Ayla angekommen und wollte nach ihrem Arm greifen, aber sie lief an mir vorbei auf Milan zu. Ernsthaft?
Entsetzt ließ sie sich neben ihm nieder. "Was ist passiert?"
Verzweifelt versuchten ihre Hände auf seine Wunde zu drücken.
"Das ist so viel Blut. Was soll ich machen?" Ihre Stimme war ein hilfloses Flehen.
Kurz umfassten seine rot verschmierten Finger ihr Handgelenk und sein Blick suchte ihren.
"Was soll ich tun?", flüsterte sie.
Ich verdrehte die Augen und warf den Kopf in den Nacken. Das konnte doch wohl nicht sein. Es war zu absurd. Sie stand noch immer unter seiner Kontrolle.
"Das reicht jetzt", rief ich und trat auf die beiden zu.
In dem Moment drückte er sie von sich weg. Doch Ayla umkrallte weiterhin sein Handgelenk.
Verdammte Scheiße. Wütend marschierte ich auf die beiden zu.
Energisch packte ich Ayla am Oberarm. "Du brauchst diesem Killer nicht mehr zu helfen, okay. Wir müssen hier weg." Und zur Polizei oder so ...
Ich brauchte dringend einen Plan, wie ich das Chaos erklären sollte. Aber erstmal musste Ayla wieder klar im Kopf werden und mir helfen.
Meinem starken Ziehen folgend glitt sie nach oben.
Ich packte ihre Schultern und schüttelte sie. "Komm zu dir, Frau."
"Wieso?" Immer noch verwirrt blinzelte sie umher und die Tränen weg, die bereits ihre Wangen runter rannen. Auch wenn ich auf hundertachtzig war, musste ich mich beruhigen. Es war klar, dass dieser Anblick sie in Panik versetzte. Zwei, bald drei Leichen in einem Raum waren kein guter Eindruck. Und die im Fass hatte ich noch gar nicht mitgezählt.
Wobei dieser Mistkerl Milan eigentlich nicht abnippeln durfte. Deshalb mussten wir auch schnell die Polizei und den Krankenwagen rufen. Dieses Arschloch würde geradestehen vor Gericht und der ganzen Welt für den Mord an meinem Bruder und allen anderen. Vor allem aber für Finn.
"Okay, hör mir zu, Ayla. Wir müssen hier raus und die Polizei rufen. Dein Macker ist ein Scheißkiller, aber das weißt du bereits. Wir müssen hier raus und ihn und wer weiß wen noch verhaften lassen. Dann kannst du als Zeugin gegen ihn aussagen."
"Was hast du mit ihm gemacht?"
Gott, war sie schwer von Begriff. "Notwehr", raunzte ich. So mehr oder weniger.
Aylas Blick ruhte noch immer auf Serienmörder-Milan, der den Kopf schüttelte.
"LÜG NICHT", schrie ich. Mir brannte hier wirklich langsam die Zündschnur durch.
"Und dann?", fragte Ayla und blickte endlich mich an.
"Wie und dann?"
"Was passiert, wenn die Polizei kommt?"
"Na, Knast. Erst U-Haft und dann gibt's n bisschen Seifenaction für ihn im echten Bau."
Sie biss sich auf die Unterlippe. "Aber die Beweise?"
Ah, daher wehte der Wind. Sie hatte Angst, dass wir nicht genug Beweise hatten und er in Nullakommanix wieder draußen wäre. Als Kronzeugin wäre sie natürlich die erste auf seiner Todesliste 2.0.
"Keine Sorge", sprach ich einfühlsam. "Ich habe Fotos von seinem letzten Opfer."
"Und von denen davor?"
Mein Gesicht erhellte sich. "Von denen kannst du dann berichten."
Ihre Fäuste ballten sich. "Ich habe aber nur Worte."
Jetzt ging dieses weinerliche Selbstbemitleiden wieder los. "Ja, aber mit meinen Fotos von seiner letzten Tat werden sie ausreichen."
"Du hast Fotos?"
"Jaha, sagte ich doch. Auf meiner Digitalkamera sind zig Fotos von seiner Tat."
"In einer Cloud?", fragte sie verunsichert.
"Natürlich nicht." Ich zog sie ein weiteres Stück in Richtung Tür.
"Aber dann haben wir keine Sicherheitskopie."
Angespannt rieb ich mir die Schläfen. "Müssen wir das jetzt ausdiskutieren?"
Sanft legten sich ihre schmalen Finger um mein Handgelenk. "Bitte, ich habe wirklich Angst."
Ich seufzte und hielt inne. Ihre Augen blickten sorgenvoll drein und für einen Augenblick erweichten sie mein Herz.
"Keine Sorge", antwortete ich sachte. "Ich habe Sicherheitskopien auf meinem Laptop im Auto. Wir haben genügend Beweise, ihn für immer hinter Gittern zu bringen. Dir wird nichts passieren. Er kann dir nichts mehr tun. Also komm jetzt."
Ein zaghaftes Lächeln der Erleichterung ließ ihre Lippen erbeben. "Danke", wisperte sie.
"Ist schon gut."
Tränen liefen ihre geröteten Wangen hinab. Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Eine Welle von Mitleid überrollte mich.
"Es ist okay, Ayla", raunte ich und zog sie ein Stück näher an mich heran. "Es wird alles gut. Versprochen."
Ihre dünnen Ärmchen legten sich um mich. Ihre Atmung ging stoßweise. So viel Druck und Angst, die in diesem Moment von ihr abfallen mussten.
"Keine Sorge." Ich strich über ihren Rücken und atmete den Duft nach Jasmin ein. "Ich passe auf dich auf, okay. Ich helfe dir und beschütze dich."
Ein leises Wimmern erklang an meiner blutgetränkten Jacke. Ich drückte sie ein Stück näher an mich,
als ich ein Stechen am Rücken spürte.
Ein Stechen so stark, dass ich beinahe das Gleichgewicht verlor. Ich stolperte ein Stück nach hinten.
Ein weiterer Schmerz durchzuckte mich. Dieses Mal am Hals.
Ich realisierte gar nicht, was passiert war. Erst als rasselnde Würgegeräusche aus meinem Mund entfleuchten, begann ich zu begreifen ...
Dieses Brennen.
Dieser Schmerz.
Ich hustete.
Da erblickte ich Aylas Gesicht vor mir. Sie löste sich von mir.
In der Hand das Jagdmesser.
Blut tropfte von der Klinge.
Benommen packte ich an die Seite meines Halses.
Es war nass.
Meine Hand lösend sah ich es. Es war Blut. Mein Blut.
"Was ..." Gurgelnd würgte ich immer mehr der dunkelroten Flüssigkeit hervor.
Langsam sank ich auf die Knie.
"Ich brauche keinen Schutz. Und auch keine Hilfe. Ich treffe alle meine schlechten Entscheidungen allein." Aylas leere, grüne Augen starrten mich an. Nein, es war kein Grün. Es war Gift. Jadefarbenes Gift. Wie der hässliche Stein, der den Siegelring meines Vaters geschmückt hatte und mit dem er seinen Abdruck in Finns und mein Gesicht geprügelt hatte.
"Du ..." Ein weiterer Hustenschwall durchschüttelte mich. "... Fotze."
Das Messer noch immer umklammernd betrachtete sie mich. "Das war für Fee."
Mit weit aufgerissen Augen starrte ich sie an.
Langsam ging sie vor mir auf die Knie. Fast schon sanftmütig blickte sie mich an.
"Und das ist für Milan."
Ich konnte gar nicht so schnell schauen, wie ihre Hand nach vorne schnellte. Sie traf erneut meine Kehle. Dieses Mal die andere Seite.
Hustend und blutspuckend sackte ich zu Boden. Auf diesen hässlichen, dreckigen Lagerboden. Dann wurde es langsam schwarz.
Nein, eine Erinnerung streifte noch mein inneres Auge. Ich sah Finn, der nach der Schule mit einem Blech halbverkohlter Muffins vor mir stand. Mit einem Grinsen, das seine Zahnlücke entblößte, hielt er mir sein Kunstwerk entgegen. Auf jedem Muffin befand sich ein bunter Buchstabe. "Besta Brudher". Natürlich war es falsch geschrieben. Aber das war okay. Es war alles okay. Versprochen, Finn.

Down our Darkest PathsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt