Kapitel 10

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Ensel

"Hallo?", krächzte eine hohe Männerstimme aus der Sprechanlage.
"Ja, hallo hier is Ensel", murrte ich. "Wir hatten telefoniert."
"Hänsel?"
"Ensel." Wie ich den Namen, den mir meine Erzeuger gegeben hatten, manchmal hasste.
"Hä?"
"ENSEL", brüllte ich in die Gegensprechanlage.
"Denzel Washington?"
"Alter, verarschst du mich gerade?" Der Pisser spann doch.
Ein Lachen ertönte. "Beruhig dich, Alter. Wer warste jetzt nochmal?"
"Scheiß egal, okay. Wir hatten wegen des Wagens gesprochen. Machste jetzt mal die verfickte Tür auf."
"Ey, das geht auch freundlicher."
Ich zwang mir ein Lächeln auf, dass der kriminelle Dreckssack natürlich nicht sehen konnte. "Machen Sie jetzt mal die verfickte Tür auf. BITTE."
"Jaja, entspann dich."
In dem Moment ertönte der Summer. Endlich.
Wenn es in dem Tempo weiterging, würde ich meinen Bruder erst als beschissener Geist wiederfinden.
Wütend marschierte ich ins Innere des Hauses und stieg die steilen Stufen hinauf. Es roch nach Pisse und dem typischen Gestank, den ich auch damals bei einem meiner Einsätze in nem Wohungslosenheim nur schwer hatte aushalten können. Glücklicherweise hatte es da irgendwann nur noch nach Rauch gestunken, weil einer von den Bewohnern nach zwei Packungen Tetrawein meinte, sein Zimmer anzuzünden zu müssen. Inklusives seines Zimmergenossens wohlbemerkt.
Hier blieb der Mief allerdings bestehen. Passte aber auch zu der rissigen Tapete und dem verdreckten Boden.
"Jo, hier oben, Denzel."
Dieser Ficker konnte es nicht lassen. Kaum hatte ich die letzten Stufen erklommen, erblickte ich einen jungen Mann im Türrahmen mit einer Jogginghose samt merkwürdigen Flecken und schütterem braunem Haar. Seine Augen waren so rot, als ob er den gesamten Grasvorrat Hollands weggekifft hätte.
Daher gab ich es auf, ihn zu korrigieren.
"Kann ich reinkommen?", fragte ich, obwohl ich es nicht wollte.
"Klaro, ich bin übrigens Jacko."
Als ob ich das nicht wüsste. Im Gegensatz zu ihm hatte ich mir nicht das letzte bisschen Gedächtnis weggeballert.
Jacko trat zur Seite und ließ mich in die muffige Bude, in der der Rauch so dicht war, dass man ihn hätte durchschneiden können. Vielleicht war es auch ganz gut, dass ich diese ranzige Hippiebude nicht genauer unter die Lupe nehmen konnte. Lediglich ein Regal vollgepackt mit Glasbongs stach mir in den Blick.
"Setz dich." Seine Hand deutete vage in den Wohnbereich.
Da das Sofa mir aufgrund der undefinierbaren Flecken auf seiner Jogginghose suspekt war, nahm ich auf einem der Klappstühle Platz. Dieser quietschte. Wie auch immer das möglich war.
Jacko ließ sich auf die Couch fallen und langte nach seiner Bong auf dem vollgepackten Couchtisch. Vor ein paar Wochen hätte ich ihn dafür in Handschellen abführen können.
"Bist eigentlich irwie n Nazi oder so?"
Fragend starrte ich das Häufchen Bodensatz an. "Was?"
"Na, wegen der blonden Haare, blauen Augen und so ... Siehst ziemlich arisch aus."
Ich packte mir an die Stirn. "So wurde ich geboren. Hab mir das nicht ausgesucht."
"Weiß ich ja nicht. Kann ja sein, dass du dir die Haare gefärbt und Kontaktlinsen drinne hast, oder so." Er nahm einen tiefen Zug.
"Ja, stimmt Haarefärben is ja bei denen ganz großer Trend da", spottete ich. Wie mir das Gespräch schon jetzt auf'n Sack ging. Ich war nicht hier, um mir blöde, sinnbefreite Fragen anzuhören, sondern ich wollte wissen, was er mit dem Verschwinden meines Bruders zu tun hatte.
"Also, wegen des Wagens ..." Ich beschloss ich diese Scheiße hier mal voranzubringen.
"Jo, du hast gesagt, du brauchst da was."
Schien ja langsam doch was in Gang zu kommen da oben.
"Genau, brauch einen unauffälligen Wagen mit falschem Nummernschild. Vielleicht noch getönte Scheiben für die Rückbank."
Jacko nickte. "Stauraum?"
"Kofferraum reicht."
"Farbpräferenz?" Er entblößte bei seinem Lachen ein paar gelbe Zähne. Ob er nach'm Durchziehen Teer schmatzte.
Ich legte den Kopf schräg. "Is das wichtig?"
"Nee, aber schwarz oder dunkelblau ist vielleicht ganz passend, wenn's unauffällig sein soll."
"Grau vielleicht?", hakte ich vorsichtig nach.
Jacko fletschte die Zähne. "Müsste mal schauen, ob wir da was haben. Der is vielleicht schon ... anderweitig verliehen."
"Wo kommen die Wagen eigentlich her?" Lässig lehnte ich mich zurück, ohne den Scheißer auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen.
"Warum willst' das denn wissen?" Auch wenn seine Stimme weiterhin leiernd und träge klang, schwang ein misstrauischer Ton mit.
"Falls es später Stress gibt."
"Und da willst' mich dann verpfeifen, oder was?" Er wurde mir eine Spur zu aggressiv, es wäre besser zurückzurudern.
"Nee", erwiderte ich mit verschränkten Armen. "Aber will wissen, worauf ich mich einlasse."
"Fahr dich runter, Bruder." Jacko lachte. "War nur ne Frage. Über wen biste eigentlich an mich gekommen?"
"Verpfeife nicht."
"Freut mich." Jacko beugte sich ein Stück nach vorne. "Dann würde ich sagen, wird's mal Zeit über die Bezahlung für deine illegale Fahrgelegenheit zu sprechen. Nehme nur Bitcoin. Kein Cardano oder andere Shitcoins."
Ärgerlich ließ ich mich darauf ein. Ich hatte gehofft, etwas mehr über den Typen und sein Geschäft herauszufinden. Besonders einen seiner Kunden. Stattdessen durfte ich mir jetzt sein beschissenes Krypto-Gelaber anhören.
Als er fertig war, stand ich frustriert auf und wollte hinausgehen.
"Warte mal", ertönte Jackos kaputte Stimme. "Wie biste denn jetzt wirklich auf mich gekommen, Ensel?"
Mein Name ließ mich aufhorchen. Vor allem weil sich sein Ton um 180 Grad gedreht hatte.
"Sagte doch ..." Ich drehte mich um und blickte auf Jacko, der noch immer auf der Couch hockte. Allerdings hielt er eine Pistole in der Hand.
Die direkt auf mich zielte.
Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. "Was soll das, Mann?"
Jacko wiegte den Kopf. "Weißte, ich bin schon n bissel weg gerade, aber merke immer, wenn jemand n bisschen komisch is."
Ich presste die Lippen aufeinander. "Was soll das heißen?"
"Niemand will wissen, wo meine Wagen herkommen." Er entsicherte die Knarre. "Und dann auch noch der Name. Ensel. Miesester Covername. So heißt doch keine dumme Sau."
Ein Hauch von Wut keimte in mir auf. Das war mein echter Name.
Jacko erhob sich und lief langsam auf mich zu. "Jetzt gehste erst Mal n bisschen von der Tür weg. Da rüber."
"Okay, okay." Mit erhobenen Händen lief ich hinüber.
"Wer hat dich geschickt? Und komm mir nicht mit dem Verpfeifen-Scheiß, sonst baller ich dir deine stinkenden Hängehoden weg."
"Also, ich ...", setzte ich an, griff jedoch blitzschnell zu einer seiner Bongs im Regal.
"EY", schrie Ensel und schoss.
Die Kugel schlug neben mir ein. Schmerz zuckte durch meinen Oberschenkel.
Ein Streifschuss.
Mit voller Kraft schmiss ich die Bong auf Jackos Kopf zielend.
Natürlich traf sie. Scheppernd sackte Jacko zu Boden.
Ich eilte zu ihm.
Mit voller Wucht trat ich auf seine Hand.
Der Ficker schrie wie am Spieß. Seine Finger, von denen mindestens einer gebrochen war, lösten sich von der Knarre.
Grinsend pflückte ich sie aus seiner Hand.
Mit geübten Händen verkeilte ich seinen Arm auf dem Rücken und fixierte ihn mit dem Knie. Mit der freien Hand presste ich seinen Kopf auf das Holz und hielt die Pistole an seine Schläfe.
"Du bis'n scheiß Bulle", jaulte Jacko auf.
Ich zog die Nase hoch. Fast.
"Was willste von mir?" Jacko versuchte sich zu befreien. Keine Chance.
"Ein paar Infos."
Ein röchelndes Lachen erklang aus seiner Kehle. "Ich verpfeife nicht."
"Ist das so?" Ich verstärkte den Druck meines Knies. Es knackte unangenehm. "Auch wenn ich dir deine stinkenden Hoden abballer?"
"Hängend haste vergessen." Der Ficker gluckste.
"Pass mal auf. Wir können das hier ganz geschmeidig über die Bühne bringen. Du verrätst mir einen Namen und deine Hoden bleiben dran. Oder du machst weiter dumme Sprüche, und verlierst mehr als deine scheiß Eier."
"Du bist ganz schön launisch." Jacko hustete. "Und auf meine Eier fixiert."
"ICH BIN ÜBERHAUPT NICHT LAUNISCH", schrie ich und schoss in sein Bein.
Jacko heulte auf.
"Keine Sorge", erwiderte ich einen Tick ruhiger. "Ich bin ein guter Schütze. Das war ein sauberer Durchschuss in deinen Unterschenkel. Das kriegt selbst einer deiner kriminellen Freunde gefixt."
"Das ist aber keine erlaubte Verhörmethode", krächzte Jacko.
"Anderes Bein auch?"
"Nein, nein." Er knickte ein. "Welcher Name?"
"Wer hat vor drei Monaten einen grauen Fiat mit falschem Kennzeichen bei dir geliehen."
"Drei Monate?"
"Ja, grauer Fiat."
"Da müsste ich mal in meine Kundenkartei schauen ..."
Erneut schoss eine Kugel aus dem Lauf.
Jacko jaulte auf. "Fick dich, Mann!"
"Ja, du dich auch. Gleiches Bein, glatter Durchschuss. Nächstes Mal sind deine Eier dran."
"Is ja gut, Bruder."
"Ich bin nicht dein scheiß Bruder", zischte ich gereizt.
"Okay. Ich weiß es nicht."
"Wenn du meinst ..." Ich begann mich umzupositionieren, um ihm in sein Gemächt zu ballern. Zur Not würde ich seinen Mikropimmel gleich mitwegschießen.
"Nein, nicht meine Juwelen." Jacko zuckte. "Ich weiß es wirklich nicht. Den direkten Kunden kenn ich nicht. Ging über nen Kumpel."
Ich musterte ihn. "Wie heißt der Kumpel?"
"Boah, das kann ich dir nicht sagen. Der is n echt übler Scheißer. Also wirklich."
"Was soll das heißen?"
"Na, ich bin nur n kleiner Schmuggler. Der hingegen is in wirklich schlimmen Scheiß verwickelt."
"Was für Scheiß?" Mir drohte wieder der Geduldsfaden zu reißen. Ein Temperament, das ich von meinem Vater geerbt hatte. Im Gegensatz zu meinem sensiblen Bruder, der ganz klar nach meiner Mutter kam.
Jacko schien zu merken, dass meine Stimmung wieder kippte. "Also ich weiß es nicht genau. Aber der lässt wohl Menschen verschwinden."
"Menschenhändler?"
"Nee, nicht mehr lebende Menschen. Der beseitigt Leichen." Jacko scheuerte seine Wange gegen das Holz. "Glaub mir, da willste lieber nicht tiefer rein."
Ich schnaufte. "Name und wo finde ich ihn?"
"Red ich unklar, Bruder?"
Ich drückte mit dem Knie zu.
"Sorry, kein Bruder, Alter. Da willste nicht rein. Da geht's uns beiden an die Eier."
"Rück endlich raus."
"Ich kann nicht. Dann bin ich am Arsch."
"Hör mal zu, Jacko. Wenn du nicht langsam redest, bist du ohnehin ziemlich am Arsch. Und wie ich sagte, ich verpfeife nicht. Dein Leichenficker-Freund interessiert mich nicht. Ich will an den Fahrer von dem grauen Fiat ran. Wenn dein Kumpel das war Pech. Aber so oder so, dein Name wird nicht fallen."
"Du bist ja irre."
Ich schoss. In Jackos Arm.
Ein mattes Wimmern erklang.
"Also wir können das gerne ewig weiter machen, bis dir das Blut ausgeht."
"Ed", kreischte Jacko.
"Ed?"
"Ja, das is sein Name. Kein Plan, wie er mit Nachnamen heißt. Ich weiß nur, dass er einen kleinen Hof oder so hat."
Na bitte, es ging doch. Nachdem er mir einen ungefähren Standort beschrieben hatte, aus Infos von Dritten, erhob ich mich.
"Vielen Dank dir, Jacko." Ich steckte seine Knarre ein. "Die behalte ich mal. Musste meine abgeben."
"Wieso? Was willste du überhaupt mit dem Fiat?"
"Das geht dich n Scheiß an."
"Und warum biste nicht mit deinen Bullenfreunden angerückt?"
Ich massierte mir den schweißnassen Nacken. "Ich ermittle privat. Aber gutes Stichwort. Meine Freunde kommen sehr gerne vorbei und nehmen dein Geschäftsmodell und Grasbestand unter die Lupe. Auch wenn letzteres legal ist, denke ich, dass du ein klein wenig über den Grenzwerten liegst."
"Erpresst du mich?"
"Scheiß mich nicht an, dann scheiß ich dich auch nicht an." An der Tür hielt ich inne und richtete meine Jacke. "Und glaub mir, ich kann dein ganzes Leben ficken."
Hustend richtete Jacko sich auf. "Jaja, is klar. Kenn euch Bullen und eure Methoden. Fallste aber doch mal nen Wagen brauchst, kannst ja vorbeikommen ... Bruder."
Die Augen verdrehend lief ich hinaus. Jetzt wo ich die benötigten Infos hatte, verspürte ich zum ersten Mal seit Wochen einen Hauch der Gelassenheit.
Als ich aus der Baracke von Mehrfamilienhaus trat, blickte ich auf mein Handy.
Ein entgangener Anruf und eine Nachricht leuchteten auf dem Display auf.

Hey Prickard, hatte versucht anzurufen. Hoffe bei dir ist soweit alles okay. Tut mir mega leid mit deiner Suspendierung:/ Wegen deines Bruders gibt's nichts neues. Melde mich nochmal, wenn ich was höre.

Schnaufend schob ich das Handy in die Hosentasche. War klar, dass der Saftladen, für den ich arbeitete, nichts geschissen bekam. Zumal die einzige Person, die sich für das Verschwinden meines Bruders interessierte, suspendiert war.

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