Kapitel 20

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Ensel

Was für eine Drecksarbeit. Und Ed war der beschissenste Chef der Welt. Frühmorgens stand er verkatert und gereizt auf dem Hof und schrie herum wie ein Oberfeldwebel. Ab mittags setzte dann endlich sein Rausch ein und er stolperte sternhagelvoll durch die Gegend. Dann gab es ein kleines Nachmittagsschläfchen und am Abend funktionierte er wieder. Halbwegs. Da hatte ich allerdings bereits Feierabend, was mich natürlich nicht davon abhielt, auf seinem Hof herumzuschleichen und ihn zu beschatten.
Zu meinem Ärger war das Lagerhaus mit den blickdichten Scheiben weiter verschlossen. Während der gesamte Hof bautechnisch und auch menschlich gesehen vor die Hunde ging, waren die Schlösser an der massiven Tür neu eingebaut worden. Sofern ich nicht an den Schlüssel käme, würde ich beim Aufbrechen einen Haufen Spuren an dem Metall hinterlassen. Auch wenn Ed sonst extrem nachlässig war, in puncto illegaler Nebentätigkeit war er penibler als ein Sachbearbeiter beim Amt.
"Jo, Prick", schrie Obermeister-Besoffski. Wie ich es hasste, wenn er meinen Nachnamen derart abkürzte. War ja nicht so, dass ich mir diese unglaublich lustige Umwandlung meines Namens in eine Beleidigung nicht schon in der Schule früher hatte ständig geben müssen.
"Was gibt's?", antwortete ich genervt.
"Kannst Feierabend machen."
Misstrauisch zog ich eine Augenbraue hoch. "Jetzt schon? Was is mit ..."
"Ja, jetzt schon."
Kurz beäugte ich Ed. War er jetzt schon wieder voll? Zu meiner Überraschung wirkte er verhältnismäßig nüchtern.
"Ok", murmelte ich und ließ den Spaten fallen.
"Ey", grölte Ed. "Den kannste ja wohl noch ordentlich wegräumen. Wie das sonst aussieht hier."
Ich ließ meinen Blick schweifen. Wollte er mich verarschen? Überall lag Scheiß rum. Aber ich wollte keinen Stress mit ihm beginnen und hob den Spaten auf, um ihn irgendwo anders auf den Boden zu knallen, wo Ed ihn nicht sah. Immerhin war ich immer noch abhängig von diesem Job.
Auch wenn meine Ermittlungsarbeiten nur schleppend vorankamen. Dass Ed illegalen Scheiß in seiner dunklen Lagerhalle trieb, wusste ich. Die Verbindung zu meinem Bruder jedoch erschloss sich mir nicht. Selbst als ich Ed meinen Nachnamen verraten hatte, hatte er nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Entweder er erinnerte sich nicht an Finn oder man hatte ihm lediglich – und hierbei drehte sich mir der Magen um – seinen Körper gebracht. Wobei ich es immer noch nicht glauben konnte, dass man Bruder tot sein sollte. Hätte ich es nicht spüren müssen. Oder irgendein Beweis auftauchen müssen.
Ich schnaubte. Was ist herausgefunden hatte, war, dass Ed die illegalen Autos für seine "Kunden" anmietete. Der Mann oder die Frau, die den grauen Fiat mit dem gefälschten Kennzeichen gefahren hatte, musste ihn über Ed bezogen haben, gehörte zu seiner Kundschaft. Zwei hatte ich bei meinen nächtlichen Beschattungen kennengelernt. Ein gedrungener Typ, der ebenso ein Auto mieten wollte, für welche kranken Zwecke auch immer. Ed hatte freundlich, wie eh und je, abgelehnt und gemeint, dass er aktuell keine Autodeals "im Angebot" hätte. Kein Wunder, nach meinem "freundlichen" Besuch bei seinem zugekifften Dealer.
Der andere "Kunde" ein paar Tage später hatte tatsächlich einen schweren Sack bei Ed abgeladen. Wie ich bei dem Gespräch belauschen konnte, handelte es sich um eine junge "abgewrackte" Dame, die er entsorgen wollte. Am liebsten hätte ich ihm den Schädel mit einem der herumliegenden Spaten zertrümmert. Doch ich musste die Füße stillhalten. Nachdem der Typ abgehauen war, hatte Ed den Sack mühevoll in die Lagerhalle verfrachtet.
Nach ein paar Nachforschungen fand ich heraus, wer sein Kunde war. Ein Zuhälter der übelsten Sorte. Die junge Frau in dem Sack wahrscheinlich eine seiner illegalen Sexarbeiterinnen. Auch wenn es mir naheging, konnte ich mich daran nicht aufhalten. Dieser Mann schien mit dem Verschwinden meines Bruders wohl nichts zu tun zu haben. Ich kannte Finn und er verkehrte – trotz seiner Laster – nicht in solchen Kreisen.
Nachdem ich in einem Imbiss zu Abend gegessen hatte, machte ich mich wie jeden Tag, sobald es dunkel war, wieder auf in Richtung Hof. Mit den Öffentlichen fuhr ich so weit wie möglich raus und nahm dann das Fahrrad. Ein Auto wäre viel zu auffällig gewesen. Der Hof war zwar nicht weit von der Stadt entfernt, aber gerade nachts war die Gegend so verlassen, dass selbst ein kleines Moped aufgefallen wäre.
Ich schlich mich in ein Gebüsch nahe des Lagerhauses und wartete. Glücklicherweise hatten Eds Hunde sich an mich gewöhnt. Die faulen Säcke ignorierten meine Anwesenheit wie auch tagsüber.
Es blieb still. Wie fast jeden Abend. Wenigstens regnete es dieses Mal nicht, während ich mir auf dem Boden kauernd den Arsch abfror. Gelangweilt spielte ich an einem der Halme, pisste ein paar Meter weiter in die Sträucher und widmete mich wieder den Halmen, als plötzlich ein dunkler Wagen auf den Hof bog.
Bingo. Deshalb wollte Ed, dass ich früher Schluss machte und mein Zeug wegräumte. Heute war Business Day.
Das Auto hielt. Es stieg jedoch niemand aus.
Erst als sich die Tür des Herrenhauses öffnete und Ed, halbwegs nüchtern, wie ich an seinem Gang erkennen konnte, herausgetapst kam.
Da öffnete sich auch die Wagentür. Leider war mir die Beifahrerseite des Autos zugewandt, sodass ich nicht sehen konnte, wer ausstieg.
Ed schien ähnlich ratlos zu sein. Mit einem verwunderten Gesicht blieb er stehen und kratzte sich am Kopf.
"Was machste hier?" entfuhr es ihm. Gottseidank hatte dieser Mann keine Kontrolle über die Lautstärke seiner Stimme.
Sein Besuch hingegen antwortete ihm so leise, dass ich natürlich nichts verstand. Falls er ihm überhaupt antwortete.
"Ja, nee. Ich bekomm gleich noch ..." Ein kehliges Lachen ertönte. " ... Kunden. Also nur kurz."
Okay, der Typ schien kein Kunde zu sein? Aber er musste eingeweiht sein, wenn Ed so entspannt mit Andeutungen umherschleuderte.
Ich musste näher ran. Fix streifte ich die Schuhe ab und schlich im Sichtschutz des Bonzenautos auf Socken ein Stück vorwärts. Auf dem Hof gab es wenig, wohinter ich mich verstecken könnte. Der Wagen war meine einzige Chance.
Blitzschnell rannte ich in gebückter Haltung hinter die schwarze Karosserie.
"Hast du noch etwas von dem Freund aus Amsterdam gehört?", erklang eine fremde, tiefe Stimme.
Wer sagte es denn. Ich kauerte mich an das schwarze Metall. Hoffentlich kamen die beiden Ficker nicht auf die Idee, einen kleinen Spaziergang einzulegen. Ich setzte all mein Glück auf Faulbacke Ed.
"Nee, alles ruhig. Geht weiter seinem Geschäft nach." Ed grunzte. "Brauchste wieder nen Wagen?"
Euphorisch ballte ich meine Fäuste. War er doch ein Kunde? Und noch viel besser. Er bezog Autos von Kiffer-Jacko.
"Nein, danke. Ich kümmere mich dieses Mal selbst drum. Die aktuelle Lage ist mir zu angespannt."
Ich konnte ein Grinsen nicht verbergen. Ich war der Grund, dass die Lage angespannt war. Aber schön zu wissen, dass dieser Jacko es überlebt hatte. Nen Mord wollte ich definitiv nicht aufm Gewissen haben.
"Wenn de meinst." Das Klacken von Eds Feuerzeug war zu hören.
"Wenn es allerdings um den letzten Part geht, bräuchte ich deine Hilfe."
"Klar, du weißt, dass du bei mir für immer einen Stein im Brett hast, Milan."
Milan. Slawischer Name. Ein ehemaliger Arbeiter von Ed? Wobei er keinen Akzent hatte. Auch wenn ich nur ein paar Fetzen gehört hatte, klang sein Sprachstil deutlich geschliffener als Eds. Er musste gebildet sein oder zumindest aus wohlhabendem Hause stammen. Der Wagen sah auch nigelnagelneu und teuer aus. Ich musste mir unbedingt später das Nummernschild notieren.
"Ich habe getan, was nötig war."
Ed kicherte – es klang grotesk. "Der vorbildliche Arzt. Es geht auch darum, was du nicht getan hast."
Ein Arzt? Führte er etwa kranke Experimente für Ed durch?
"Sonst hätte ich mir auch ins eigene Fleisch geschnitten." Auch bei dem Besucher schien sich ein Lachen unterzumischen.
"Wird's denn dieses Mal, wieder ne junge leichte?"
"Du weißt, dass mein Vorgehen zwar geplant, die Auswahl aber immer zufällig ist." Ein kühler reservierte Unterton schwang in dem Gesagten mit.
"Jaja, aber der letzte Typ war schon nervig. Hat ewig gebraucht sich aufzulösen."
Mir wurde klamm. Sie sprachen über Opfer. Über Leichen. Jetzt wurde mir klar, was dort in der Lagerhalle lauerte. Substanzen, in denen Ed die Mitbringsel seiner Kunden auflöste. Dieses kranke Schwein.
"Ist alles beseitigt?" Dieser Milan schien Ed nur bedingt zu vertrauen.
"Klar Mann, was denkste denn." Kurz schwieg Ed. "Ich hab auch nichts behalten. Wobei seine Uhr mit dem ledernen Band und goldenem ... na hier dings ... Rahmen oder so. Die hat mich schon gereizt. Keine Rolex, aber Tudor. Schon was schickes."
Meine Augen weiteten sich.
Nein ...
Das konnte nicht sein. Finn hatte eine solche Uhr. Es war ein Geschenk gewesen, von meinen ersten richtigen Polizistengehältern nach der Ausbildung.
Dieser verfickte, verkackte Scheiß-Drecks-Arsch.
"Du kennst die Abmachung. Keine Andenken", mahnte die dunkle Stimme.
Am liebsten würde ich aus meiner Deckung springen und sie beide zu Tode prügeln. Auf sie einschlagen, bis ihre Schädel brachen und nur noch eine Pampe aus Blut, Fleisch und Knochen blieb. Wutgetränktes Blut rauschte in meinen Ohren.
"Ja, ich weiß", murrte Ed. Nie habe ich seine Stimme mehr gehasst. Wobei der wahre Täter ...
"Okay, ich fahre jetzt. Du meintest ja, du bekommst noch Kundschaft." Die Wagentür wurde geöffnet.
Panisch blickte ich mich um. Fickscheiße. Ich musste hier weg. Wenn er den Wagen wegfuhr, saß ich hier wie ein Bratenschwein aufm Silbertablett vor Ed.
Mucksmäuschenstill kroch ich in Richtung Gebüsch.
Da startete der Motor. Schnell hechtete ich los und warf mich in den Busch. Zusammengekrümmt wie ein Embryo verharrte ich auf der kalten Erde.
Shit, ich wollte mir doch das Nummernschild merken. Vorsichtig lugte ich hinaus. Doch es war sinnlos. Zu viele Äste, zu dunkel, zu weit weg.
Mir entfuhr ein resignierendes Seufzen. Schnell hielt ich mir Mund und Nase zu. Doch durch das Dickicht sah ich wie Ed bereits auf dem Weg zurück ins Haus war.
Auch der Wagen war nicht mehr zu hören.
Gerade ließ ich die Hand wieder sinken, als ich etwas auf der Wange spürte.
Es war nass.
Ich tastete höher zu der vermeintlichen Quelle.
Tränen.
Es waren stumme Tränen, die aus meinen Augen liefen. Für einen Moment hielt ich inne – jetzt, wo das Adrenalin nachließ.
Es war so still. Und ich spürte, wie der unausstehliche Schmerz in mir emporkroch. Damit war es wohl gewiss.
Finn lebte nicht mehr.
Die Tränen strömten mittlerweile über mein ganzes Gesicht. Mein Bruder. Mein kleiner, lieber Bruder, der mir mit Wattebäuschchen den Rücken abgetupft hatte, als unser Vater mich in einem Tobsuchtsanfall in den Glastisch gedonnert hatte. Der mit gerade einmal neun Jahren das Backen für sich entdeckt hatte und jeden Tag nach der Schule einen Teller voll mit Muffins aus dem Ofen gezaubert hatte, die außen halbverbrannt und innen noch roh waren.
Mein kleiner, lieber Bruder, der irgendwann die Schule geschmissen und verwahrlost mit komischen Leuten auf Parkbänken und Bürgersteigen im Bahnhofsviertel rumgelungert hatte.
Ich hatte ihn damals nicht retten können.
Ich hatte ihn heute nicht retten können.
Er war für immer weg.
Für eine Weile ließ ich die Trauer und Leere über mich hinwegfegen. Doch dann ballte ich die Fäuste.
Finn war weg. Aber sein potenzieller Mörder war noch hier. Und er würde bereuen, was er getan hatte.
O ja, er würde es so sehr bereuen.
Milan. Dieser Pisser.
Unter all den Tränen schlich sich ein Grinsen auf mein Gesicht. Eine Weile badete ich mich in der Vorstellung, ihn in den Knast wandern und dort zugrunde gehen zu sehen. Auch wenn ich nicht wusste, wie er aussah. Noch nicht.
Am liebsten wollte ich mich direkt an die Recherche machen. Allerdings erwartete Pissnelke-Ed, der mit Pissbacke-Milan in den Knast wandern würde, noch Besuch. Und wer wusste schon, wer hier heute Nacht noch aufschlagen würde.
Jetzt, wo ich Finn nicht mehr retten konnte, keine Uhr mehr in meinem Hinterkopf tickte, hatte ich Zeit.
Viel Zeit.
Ich konnte warten ...

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