Milan
Fuck! Wie hatte ich nur so unvorsichtig sein können? Wie hatte ich sie nur einsteigen lassen können? Wie hatte ich mich überhaupt nur mit ihr treffen können? Am liebsten hätte ich mit voller Wucht auf das Lenkrad geschlagen. Doch ich hielt mich in Anbetracht meines Tachos zurück. Ein tödlicher Autounfall wäre zwar eine Lösung, aber keine, die ich besonders bevorzugte.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Meine zum Bersten gespannten Gliedmaßen entspannten ein wenig. Ich musste mich beruhigen. Blinde Wut war nie ein guter Berater.
Sie hatte das Fläschchen gesehen. Allerdings schien sie ihrer Frage nach zu urteilen, die falschen Schlüsse zu ziehen. Das war gut. Oder vielleicht auch nicht.
Ich kannte diese Frau kaum, wusste nichts über ihre Wertvorstellungen. Sollte sie davon ausgehen, dass ich drogenabhängig war, und dies bei der Ärztekammer oder sogar Polizei melden, wäre es aus. In mir brannte das starke Verlangen, mitten auf der Straße umzudrehen – ungeachtet des spärlichen Verkehrs – und zu ihr zu fahren. Ich würde bei ihr klingeln, sie betäuben und verschleppen. Meine Hand betätigte bereits den Blinker und ich sah in den Rückspiegel, bereit, einen U-Turn hinzulegen. Doch im nächsten Moment schaltete ich den Blinker wieder ab. Mein eigener Anblick im Spiegel verpasste meinem Vorhaben einen rettenden Dämpfer.
Ich war von Raserei benebelt. Es wäre absolut idiotisch, bei ihr aufzukreuzen. Nachbarn könnten mein Auto sehen. Ihre Mitbewohnerin, von der sie zwischen dem zweiten und dritten Drink berichtet hatte, wusste eventuell von unserer Verabredung.
Sie war meine Patientin. Es gäbe wahrscheinlich mehr als ein Dutzend Hinweise, die die Polizei direkt auf meine Türschwelle befördern würden. Außerdem verspürte ich erneut den leisen Spross Widerwillen in mir aufkeimen, der sie ungern massakriert auf meiner Pritsche sehen wollte. Gut, ich müsste sie nicht verstümmeln. Ein schneller Tod wäre ebenfalls möglich. Doch auch dieser Gedanke behagte mir nicht. Ich musste mich beruhigen.
Ein Stück gelassener bog ich den Wagen in eine Seitenstraße. Keine fünf Minuten später stand ich auf dem Parkplatz eines verlassenen Busbahnhofs. Spärliches Licht erhellte den grauen Asphalt und ließ die wenigen abgestellten Busse lange Schatten werfen.
Ich knetete meine Finger. Vielleicht sollte ich die Sache mit Ayla vorerst ruhen lassen. Sollte sie doch denken, dass ich medikamentenabhängig war. Eventuell würde sie sogar Verständnis aufbringen. Sie wirkte wie jemand, dessen Lebensweg ebenfalls nicht geradlinig verlaufen war. Ihre Hypochondrie rührte bestimmt auch nicht von purer Glücksseligkeit in der Vergangenheit her. Und was Familiendrama konkret bedeutete, konnte ich sehr gut erahnen.
Außerdem schien ihr meine harsche Art am Ende Angst gemacht zu haben. Wahrscheinlich würde ich sie nach heute nie wieder sehen. Weder privat noch in der Praxis. Meine Zähne malten aufeinander. Schade, hatte sich doch ihre zarte Haut so verlockend, ihr Duft so verführerisch und ihr gehauchtes "Bitte" so verdammt erregend angefühlt.
Ich schlug auf das Lenkrad, hielt jedoch prompt inne.
Eine Gestalt mit großem Rucksack stand unter einer der Laternen.
Ich starrte sie an.
Weiblich, mittelgroß, sportliche Statur. Das blonde Haar war zu einem hohen Zopf gebunden. Sie friemelte an ihren neonblauen Kopfhörern.
Wie eine lockende Attraktion stand sie im Lichtkegel der Straßenlaterne. Wie auf einem Präsentierteller wurde sie mir dargeboten. Wie ein versöhnliches Angebot, das mir geschenkt wurde, weil ich das andere nicht haben konnte.
Mein Gehirn schaltete auf Autopilot. Wie ein Impuls langte meine Hand nach dem Handschuhfach. Mit einem Klick sprang das Plastik auf.
Ich griff nach der Flasche Chloroform.
Ayla hatte ich angelogen.
Es gab einen Lappen in diesem Auto. Ein weißes Stofftuch lag hinter der Flasche.
Wie ferngesteuert öffnete ich die Autotür. Prüfend streifte mein Blick die Umgebung. Keine Menschenseele außer der Frau, die wahrscheinlich auf einen Fernbus wartete.
Überwachungskameras waren hier nicht installiert. Das wusste ich. Obwohl dieser Parkplatz die Definition eines Angstraums war, ließ sich eine Überwachung rechtlich nicht durchsetzen. Das hatte ich vor einiger Zeit in einem Onlineartikel gelesen.
Langsam lief ich auf sie zu. Ich hasste diesen Part.
Jede Entführung barg ein ungemeines Risiko. Diese besonders.
Doch mein Kopf blendete die Contra-Argumente aus. Er blendete sie aus für den beglückenden Rausch, der folgen würde. Das High, das bereits wie eine Versprechung in der Luft lag, wenn sie sich erst einmal auf meine Pritsche geschnallt im sicheren Keller befand. Wenn mein Messer sich in das weiche Fleisch senkte, das Blut herausquoll und in tiefroten Bahnen über die samtene Haut hinabperlte. Wenn sie schrie und sich vor Schmerzen wandte, ihr Leid mein Vergnügen wurde.
Ich hatte meinen Schritt beschleunigt.
In dem Moment schaute sie auf. Fixierte mich.
Ein falsches Lächeln aufsetzend setzte ich meinen Weg fort.
"Kann ich Ihnen helfen?" Eine kratzige Stimme erklang.
Eigentlich plante ich ihre Frage zu ignorieren und das Ganze schnell hinter mich zu bringen.
Doch plötzlich sprang mir etwas ins Auge. Brach den Tunnelblick, der auf mein Ziel gerichtet war. Ein dunkler Schatten huschte ein Stück weit entfernt an einem der Busse vorbei.
Ich kniff die Augen zusammen.
Ein Fußgänger mit Hund.
"Was wollen Sie?" Unruhe schwang in der Frauenstimme mit.
In diesem Augenblick wurden meine Gedanken klar.
Mein Lächeln aufrechterhaltend sprach ich mit fester Stimme: "Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken." Ich blieb stehen. "Ich kenne mich hier nicht aus und mein Akku ist abgeschmiert. Wissen Sie, wo hier die nächste Tankstelle ist?"
"Ach so, ja klar", kam es erleichtert zurück.
Nach ihrer Beschreibung, der ich nicht zuhörte, bedankte ich mich und lief zu meinem Auto zurück.
Kaum hatte ich auf meinem Sitz Platz genommen, rieb ich mir keuchend die Schläfen.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Ich hätte beinahe, den größten Fehler meines Lebens begangen. Eine Entführung in der Stadt, in der ich wohnte, mit dem Auto, das auf meinen Namen zugelassen war, ohne einen Mundschutz oder Sonstigem, was mein Gesicht verbarg.
Was war nur los mit mir?
Ich war leichtsinnig. Emotional.
Vor allem war meine letzte Tat nicht lange her. Ich zerrte immer noch von der vergangenen Euphorie. Die frischen Erinnerungen nährten mich. Auch Wochen danach. Es war zu früh. Noch ...
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...