Ensel
"Ayla?", blaffte ich verwundert in den Hörer, der sich eingeklemmt zwischen meinem Ohr und Schulter befand, während ich versuchte, die Fesseln enger zu ziehen.
"Hallo, passt es dir gerade?"
"Mmmhhhmm", wollte mein Gefangener mir scheinbar die Beantwortung der Frage abnehmen. Mit einem Ruck zog ich die Fußfessel fester. Die Reibung des rauen Seils entlockte meinem Gegenüber ein schmerzverzerrtes Stöhnen.
Sehr schön.
"Jo, passt. Alles gut bei dir?" Nachdem ich mein Werk beendet hatte, erhob ich mich wieder von dem Boden der Lagerhalle und hob vorsichtshalber die Brechstange neben meinem gefesselten Opfer auf. Auch wenn seine Hand- und Fußgelenke verbunden waren, konnte man nie wissen, was der Hosenscheißer im Schilde führte. Ich durfte nichts dem Zufall überlassen. Am liebsten hätte ich Kabelbinder benutzt, aber durch die Automieterei, das Pensionszimmer und meinem beschissenen Lohn, knapste ich aktuell an den Grenzen meines Dispos herum.
Ein leises Wimmern am anderen Ende der Leitung riss mich aus meinen Gedanken zu meinem finanziellen Desaster.
"Was ist passiert? Soll ich kommen?" Im nächsten Moment biss ich mir auf die verdammte Zunge. Immerhin hatte ich Ayla erzählt, ich würde am anderen Ende von Deutschland wohnen. In einer Penthouse Wohnung. Wenn der reale Ensel schon pleite wahr, konnte der fiktive doch ein beschissen reicher Ficker sein.
"Nein, nein. Ich ..." Aylas Stimme zitterte und brach. "Nein."
Erschrocken hielt ich inne. Auch wenn es nur zwei Wörter waren, klangen sie nach einem mentalen Zusammenbruch. Hatte Milan dieses Schwein ihr etwas angetan?
"Was ist passiert?", fragte ich bemüht ruhig.
"Es ist ... es tut mir so leid, dich damit belästigen zu müssen."
Alter, musste sie immer so rumeiern.
"Du belästigst mich nicht. Hau raus!" Ich war gereizt, zumal ich sah, wie der Dreckssack zu meinen Füßen wieder probierte mein Fessel- und Knebelwerk zu zerstören. Letzteren versuchte er anscheinend mit seiner Zunge aus seinem Mund zu schieben.
Ein Stöhnen folgte.
Drohend hob ich die Stange als Andeutung, dass diese als nächstes folgen sollte, wenn er nicht parierte.
"Fee", erklang Aylas Stimme.
Ich verstand kein Wort.
"Meine Mitbewohnerin ist tot."
Mit einem Knall schepperte die Stange zu Boden.
"Alles in Ordnung?", fragte sie unter einem weiteren Schluchzer besorgt.
Fickscheiße. Scheiße. Scheiße. Nichts war in Ordnung. Das konnte doch nicht sein ...
"Wie meinst du das?", hakte ich nach wie ein bedepperter Vollidiot, während ich versuchte, meine Gedanken zu sortieren.
"Sie ist ... gestorben." Eine Heulattacke schien Ayla zu erschüttern.
Ja, so viel hatte ich auch verstanden.
"Wie?" Am liebsten hätte ich geschrien, aber in dem Moment wurde mir klar, dass mich dies äußerst verdächtig erscheinen ließ. "Also ich meine mein Beileid. Das tut mir sehr leid."
Meine Geduld hielt nicht lange, als Ayla nach einem geschnieften "Danke" wieder schwieg.
"Aber wie ist es passiert? Sie war doch noch mega jung?", hakte ich drängend nach.
Ayla schnäuzte offenbar in ein Taschentuch. "Sie wurde ermordet."
FUCK! Das hatte ich befürchtet.
"Aber wie? Wieso?", stotterte nun auch ich und rieb mir nervös die Stirn.
"Ja, ich weiß, es ist absolut unfassbar."
"Was ist denn passiert?", fragte ich erneut. "War ... war die Polizei schon da?"
"Mhm", kam es zurück.
"Und was sagt sie?" Jetzt rede doch endlich, du Bitch!
Der gefesselte Pisser am Boden lächelte mich an. Ihn schien meine Beunruhigung zu erfreuen. Ich war jedoch zu abgelenkt, um ihm eine angemessene Bestrafung zu erteilen.
"Also sie lag am Boden mit einer Kopfverletzung, als wir ... als ich nach Hause gekommen bin."
Wir ... Mörderdoc und sie?
Ayla, mittlerweile etwas gefasster, fuhr fort: "Ich bin in unsere WG gekommen und dort lag sie in einer Blutlache. Jemand hat ihr einen Schlag auf den Kopf verpasst."
Ja, das war meine Wenigkeit. Aber es war hundertpro kein Schlag, der tödlich war. Ich verstand die Welt nicht mehr.
"Ich habe die Polizei gerufen. Ein Krankenwagen kam auch. Sie haben nur noch den Tod festgestellt." Erneut brach ihre Stimme und sie weinte.
"Hey, hey, nicht weinen", versuchte ich sie zu trösten, wobei ich – selbst, wenn ich nicht mit den Gedanken ganz woanders wäre – nicht besonders gut darin war. "Das wird." Wow.
"Und durch den Schlag ist sie gestorben?", fragte ich.
"Ja ... nein ... jein."
Was denn nun?
"Sie litt an Hämophilie."
Hämo was? War das so ne sexuelle Störung? Was hatte das verfickte Scheiße mit ihrem Tod zu tun?
"Das ist eine Blutgerinnungsstörung", erklärte Ayla gefolgt von einem lauten Schniefen. "Die Wunde an sich war wohl nicht tödlich, aber bei ihr ... sie ist verblutet."
Oha, daher rührte die Scheiße. Das war in der Tat ungünstig. Allerdings dürfte ich keine Spuren in der Wohnung hinterlassen haben. Krampfhaft nachdenkend rieb ich mir die schwitzige Stirn. Nein, ich war mir sicher, dass ich keine hinterlassen hatte. Immerhin hatte ich die ganze Zeit Handschuhe getragen. Meine Finger streiften meinen Haaransatz.
Kacke, natürlich könnte ich einzelne Strähnen dort verloren haben. Verfickter Scheiß. Wobei es jetzt ohnehin egal war. Das Spiel ging zu Ende. Und wenn ich wegen Mordes angeklagt werden würde ... naja, strenggenommen wusste ich nichts von ihrer Krankheit. Also vielleicht würde es nur als Totschlag gewertet werden. Ganz ruhig, Ensel. Es war ja noch überhaupt nicht gesagt, dass sie mir auf die Schliche kamen. Vielleicht wurde das Ganze als schiefgegangener Einbruch gewertet. Diese Fee hatte den Räuber überrascht und er hat sie niedergeschlagen, bevor er etwas hatte mitgehen lassen können. Aufgrund ihrer blöden Krankheit war sie dann ausgeblutet. Doof gelaufen, aber so war das Leben manchmal. Oder der Tod ...
"Du hattest übrigens recht", zischte Ayla.
Ich meinte einen Funken Zorn in ihrer Stimme zu hören.
"Womit?", fragte ich. Ich hatte in so vielen Dingen in letzter Zeit Recht.
"Mit Milan."
Jetzt wurde ich hellhörig. "Wieso?"
"Er hat sein wahres Gesicht gezeigt." Ayla schluckte.
"Hat er das?" Ich bleckte mir die Zähne. O welch wunderbare Nachrichten. Hatte er es also endgültig bei Ayla verkackt. Was er wohl getan hatte? Vielleicht sich vor ihren Augen einen auf Fees Leiche runtergeholt.
"Er hat mich im Stich gelassen."
Okay, das war ... weniger interessant.
"Im Stich gelassen?", wiederholte ich.
"Ja, ich hatte dir doch erzählt, dass er Mist gebaut hat. Und seine erste Reaktion bezüglich Fee war es, die Flucht zu ergreifen und mich allein zu lassen."
Natürlich wollte der Ficker seinen Schwanz retten. Am liebsten hätte ich gesagt, mach dir keine Sorgen, liebe Ayla, ich werde ihm schon bald höchstpersönlich sein bestes Stück abhacken. Im metaphorischen Sinne natürlich. Es sei denn, er wollte nicht zugeben, dass er Finn auf dem Gewissen hatte. Dann würde auch sein Stummelschwanz und, wie Autodealer Jacko es damals ausgedrückt hatte, seine stinkenden Hängehoden das zeitliche Segnen.
"Das tut mir leid für dich", erwiderte ich halbehrlich. "Allerdings habe ich dir doch gesagt, dass der Typ ein Mistkerl ist und du dich besser fernhalten sollst. Du hast da wirklich jemand besseren verdient. Vertrau mir." Ich meinte es ehrlich mit der armen Ayla.
"Danke dir", wisperte sie. "Ich hätte es wissen müssen. Ich meine ... ich wusste es ja eigentlich. Aber es tut trotzdem so unheimlich weh."
"Kann ich verstehen. Ist ziemlich bitter, wieder so enttäuscht zu werden." Apropos weh tun. Die Brecheisenstange nehmend schlug ich damit auf das Bein meines Gefesselten, der langsam etwas aufzumucken schien.
Ha, da winselte er. Es tat so gut. Nach allem tat es so gut. Der erste Schritt der Gerechtigkeit. Und es würden noch einige heute folgen.
"Ensel?" Aylas Stimme zitterte.
"Ja?"
"Ich bin so wütend auf Milan. Ich glaube, ich muss das nochmal loswerden."
"Okay, kannst hier gerne ein bisschen auf ihn schimpfen", antwortete ich. Vielleicht würde ich miteinstimmen.
"Danke, aber ich muss das bei ihm loswerden. Ich glaube, ich fahre nochmal hin und rede mit ihm."
"Nein!", entfuhr es mir prompt. Shit.
"Ich ähm", ruderte ich zurück. "Ich glaube, das ist keine gute Idee."
"Wieso?"
"Na, du hast doch jetzt schon so oft ihm gesprochen und ihm doch bestimmt auch gesagt, dass sein Verhalten kacke ist. Als ob das jetzt etwas ändern würde. Du solltest ihn am besten ignorieren."
"Hm, aber ich würde das so gerne nochmal rauslassen. Diese Wut und ... Enttäuschung." Ein Räuspern ertönte. "Aber vielleicht hast du recht."
"Auf jeden Fall." Das letzte, das ich gebrauchen konnte, war ein aufgescheuchtes Huhn Ayla, das mir meinen Plan, meinen Sieg versaute.
"Es hat ja bisher auch nie etwas gebracht", wisperte sie resignierend.
Gottseidank. Diese Frau musste man wirklich vor sich selbst beschützen.
"Weißt du was, du machst dir jetzt erst einmal einen Tee", befahl ich. "Der beruhigt die Nerven ein wenig und wir können ja morgen nochmal telefonieren." Da fiel mir noch eine Sache ein. "Oder natürlich, du hast wieder den Drang heute Abend bei ihm aufzukreuzen, dann ruf mich sofort an."
"Du hast wohl Recht", kam es aus der Leitung.
Natürlich hatte ich das.
"Vielen Dank, dass wenigstens du für mich da bist."
"Kein Problem", antwortete ich. So war sie mir auf jeden Fall etwas schuldig. Beispielsweise eine Aussage gegen Killer-Milan vor Gericht.
"Also, du bleibst brav im Bettchen und wir schreiben nochmal, wenn ich nicht mehr ... am Arbeiten bin, okay?", ging ich auf Nummer sicher.
"Ja, mache ich." Da schien Ayla noch etwas einzufallen. "Oh, und tut mir leid, dass ich dich bei der Arbeit gestört habe."
"Macht nix. Wofür hat man denn Freunde?"
"Das stimmt." Ein Ticken Fröhlichkeit hatte sich in ihre Stimme gelegt. "Danke dir nochmal, Ensel."
"Kein Problem und bis denne", säuselte ich.
"Bis dann."
Ein Tuten ertönte.
"So und jetzt zu dir, du scheiß Ficknudel." Ich beugte mich runter und gab meinem nervigen Opfer eine Backpfeife. "Kannste mal endlich aufhören, hier so rumzuzappeln."
"Mmhmmhhh." Die Laute wurden durch den Knebel gedämpft.
Ich grinste. "Ja Mensch, Ed, haste Scheiße Maul, dass da kein Ton rauskommt."
Er grunzte. Ja, bei unserem ersten Treffen hatte er die Schnauze ganz schön vollgenommen. Wie auch während meiner Arbeit auf dem Hof. Aber das Blatt hatte sich gewendet.
"Ah nee, du hast ja n Knebel im Maul." Ich lachte. "Hoffe es ist okay, wenn du so deinen besten Kunden und Bumsfreund Milan empfängst?"
Eds gerötete Augen verdunkelten sich. O ja, du Scheißer. Ich wusste alles. Und wenn mich mein Gefühl nicht trog, sollte der Mörder meines Bruders den Brief, den ich ihm nett und freundlich vor der Haustür hinterlassen hatte, bereits gefunden haben.
"Jup, der gute Herr Doktor ist wahrscheinlich schon auf dem Weg hierher", rieb ich es Ed unter die Nase. "Und wahrscheinlich hat er auch wieder eine kleine Lieferung dabei."
Ed schwieg.
Schade, ich hatte gehofft, er würde sich noch an ein paar Widerworten probieren. Dann hätte ich ihn in die Schranken weisen können. Es war ohnehin ein leichtes gewesen, ihn zu überrumpeln. Sturzbesoffen war er mal wieder herumgetorkelt. Lediglich einen feinen Schlag auf den Hinterkopf hatte es gebraucht. Gut, dass er keine Hämo- ... Hämoph- ... ach scheiß egal. Er lebte noch und war bereit fürs Finale. Auch wenn dies noch etwas auf sich warten ließ.
Aber das war okay, ich hatte lange gewartet. Mein Blick glitt zu den Fässern. Wie viele Personen sie wohl darin aufgelöst hatten? Ich würde es bald erfahren. Die beiden würden heute ihre Geständnisse ablegen und damit ihre eigenen Urteile unterschreiben. Es würde endlich Gerechtigkeit geben. Für Finn. Für Ayla. Für mich. Für alle namenlosen Opfer dieser Pisser.
Aber vor allem für Finn ...
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...