Kapitel 6

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Ayla


Ich hatte es geschafft. Triumphierend zog ich in dem kleinen WC der Arztpraxis den Zettel aus meinem BH.

Freitag, 19 Uhr
Velvet

Yes! Ich kannte das Velvet. Die schicke Szenebar lag mitten in der Innenstadt. Fee und ich hatten sie vor ein paar Semestern besucht. Nach jeweils einem Cocktail, der teurer war als unser gesamter WG-Wocheneinkauf, waren wir weitergezogen. Das würde Freitag eine finanzielle Herausforderung werden. Vor allem wenn ich vorher noch ein passendes Outfit shoppen wollte. Vielleicht würde ich bei unserem Date, unserer Verabredung korrigierte ich mich vorsichtig, sonst einfach beim Wasser bleiben müssen. Ob es eine Happy Hour gab? Oder einen Studentenrabatt? Bestimmt nicht.
Aber egal, darum würde sich die zukünftige Ayla kümmern müssen. Die heutige Ayla hatte einen Volltreffer gelandet.
"Juhu", quiekte ich vergnügt und hätte meinem Spiegelbild am liebsten ein High Five gegeben. Doch bei meinem Anblick hielt ich zögerlich inne. Hätte es wirklich einen derartigen Aufzug gebraucht? Ich sah aus, als ob ich zu einem Galaempfang und nicht in eine Arztpraxis gehen wollte. Außerdem schmerzten langsam meine Zehen in den Pumps.
"Alles in Ordnung da drin?", drang eine Stimme von außen herein. Oje, ich blockierte schon wieder das Bad.
"Ja, ich bin gleich fertig", erwiderte ich rasch und verstaute den Zettel. Dieses Mal in der Tasche meiner hautengen, schwarzen Hose.
Immer noch auf Wolke sieben stolzierte ich hinaus zum Empfang. Nachdem Arzthelferin Famke hineingestolpert war, hatte Doktor Degard mir neben einer Packung Wärmepflaster auch noch eine Überweisung zum Orthopäden ausgestellt. Eventuell hatten die Kopf- und Nackenschmerzen haltungsbedingte Ursachen.
Ich bezweifelte es. Die Schmerzen hatten sich mehr oder weniger in Rauch aufgelöst, seit ich meinen Plan gefasst hatte. Der Leberfleck machte mir zwar immer noch Sorgen und letzte Nacht hatte mich eine Magenkrebsdiagnose wachgehalten, da mein Bauch herumrumort hatte und mir leicht übel gewesen war. Fee hatte gemeint, es wären die Pizza und eine ganze Packung Cookie-Dough-Eis gewesen. Doch vollständig überzeugt war ich nicht.
"Milan, der Patient in der vier wollte noch einmal mit dir wegen der Impfung sprechen." Eine der Arzthelferin wuselte mit einem Haufen Zettel hinter den anderen Empfangsdamen herum.
"Ich kümmere mich gleich um ihn. Habt ihr seinen Impfpass hier vorne?", erklang die dunkle und doch so glasklare Stimme meines Hausarztes. Während ich am Empfang auf das Ende des zähen Telefonats der Empfangsdame wartete, um meine Überweisung für den Orthopäden zu erhalten, beugte sich Doktor Degard über den Tresen und reichte einen Hefter an eine der Damen.
Milan.
So lautete sein Vorname. Verzückt betrachtete ich sein wunderschönes Profil. Die markanten Wangenknochen und der scharf definierte Kiefer. Trotzdem wirkte sein Gesicht nicht grob. Es war eine perfekte Komposition aus jugendlicher Weiche und wohl akzentuierter Reife. Wäre ich begabter mit dem Pinsel, hätte ich am liebsten eine Leinwand aufgestellt und dieses attraktive Gesicht für alle Ewigkeiten festgehalten. Oje, ich klang wie ein verliebtes Schulmädchen, das zu viele New-Adult-Romane verschlungen hatte.
Während Milan wartete, strich er sich mit den Fingern über das Kinn. Eine dunkles Verlange brach sich zwischen meinen Beinen bahn und ich bekam weiche Knie bei dem Gedanken, wie diese Finger über meinen Körper, meine Haut immer tiefer strichen bis ...
"Hallo, Frau Sapor? Was kann ich für Sie tun?"
Erschrocken fuhr ich aus meinen Träumen, die beinahe etwas zu feucht geworden wären.
"Ähm ...", stammelte ich ratlos. Was wollte ich nochmal.
"Ihre Überweisung." Es war Milans Stimme, die sich einschaltete.
Verwirrt sah ich zu ihm.
Er langte über den Tresen und griff das rosafarbene Papier neben der Empfangsdame.
"Oh ja, danke, Mi- ... Herr Doktor." Ich sollte mich dringend besser in den Begriff bekommen. Unter seinem sengenden Blick nahm ich die Überweisung entgegen.
"Kein Grund zu danken", erwiderte er eindringlich. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, die Worte würden nicht auf die Überweisung abzielen. Ein dunkler Schatten hatte sich für den Bruchteil einer Sekunde in seine Augen geschlichen, verschwand jedoch so schnell, wie er gekommen war.
Ich schluckte.
Fee hatte mich heute Morgen noch von dem Unterfangen abbringen wollen. Spätestens als sie mein Outfit gesehen hatte, hatten bei ihrer alle Alarmglocken geschrillt. Nach einer kurzen Kabbelei hatte sie jedoch aufgegeben.
"Dann renn doch sehenden Auges in dein Verderben", hatte sie, melodramatisch wie immer, geraunt, bevor sie zu ihrem Seminar aufgebrochen war. War das hier vielleicht doch keine gute Idee? Fee kannte meinen desaströsen Männergeschmack. Ich war wie ein Supermagnet für penistragende Redflags.
"Wie man sich bettet, so liegt man", hatten meine Eltern gesagt. Wie lustig, trugen sie doch einen Großteil der Schuld an diesem Dilemma bei.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, es war keine schlechte Idee. Milan war zwar mein Arzt – aktuell zumindest noch – aber gerade, weil er Arzt war, sollten sich die üblichen Redflags in Grenzen halten. Er wirkte reif, verantwortungsvoll und ... ach Mann, es ging doch eh nur um ein erstes Treffen. Auch wenn ein leiser Part in mir schon wieder viel weiter war, zwang ich das Kopfkino, in dem bereits Hochzeitsbilder und Trauungsmontagen liefen, beiseite.
Ich hatte nichts zu verlieren. Fee hatte Unrecht. Er war bestimmt nicht mein Verderben.

Down our Darkest PathsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt