Kapitel 26

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Ayla


Benommen blinzelte ich. Doch das Licht war zu grell, sodass ich meine Augen direkt wieder schloss.
Schwer. Ich fühlte mich so unglaublich schwer. Meine Glieder wogen Tonnen und auch das Atmen war eine Herausforderung. Es war, als ob ein Brocken Blei auf meinem Brustkorb lastete und meine Lungen zerdrückte.
Erneut unternahm ich schweratmend den Versuch, die Lider zu öffnen. Dieses Mal fiel es mir ein Stückchen leichter. Aber es war immer noch zu hell.
Was war passiert? Wo war ich?
Ich konnte mich an nichts erinnern.
War ich überhaupt wach?
Ich fühlte mich merkwürdig dösig. Wie in einem verschwommenen Dämmerzustand zwischen Erwachen und Traum. Doch letzterer war leer und schwarz. Hatte ich überhaupt geträumt?
Wenn ja, ich wusste nicht wovon.
Mein letztes bisschen Kraft mobilisierend versuchte ich mich zu bewegen. Doch ich war zu schwach. Unter meinem Rücken spürte ich etwas Hartes. Es war nicht mein Bett oder eine weiche Matratze, auf der ich lag. Meine Hände neben mir ertasteten ... Holz?
Wie merkwürdig.
Außerdem spürte ich einen leichten Kälteschauer, der meine Beine streifte. Waren sie nackt?
Ja, das mussten sie. Auf meinem Bauch spürte ich allerdings einen seidigen Stoff. Natürlich, mein rosafarbenes Satinnachthemd.
Ich öffnete wieder die Augen. Dieses Mal ging es besser.
Ich erkannte grau. Ein Grau mit Rissen. Es war Beton. Eine Decke.
Die Decke eines Kellers.
Wie bei dem Anstoß des ersten Dominosteins in einer langen Kette brachen die Erinnerungen schlagartig auf mich ein – noch unscharf, aber mit der Zeit immer klarer.
Milan.
Sein Keller.
Skalpelle.
Angst.
Panik.
Ein weißes Tuch.
Ich japste nach Luft. Unbeholfen richtete ich mich auf. Kurz rutschte ich ab, aber konnte mich fangen. Wie im Wahn raste mein Blick umher.
Ich lag auf einer Pritsche in Milans Keller. Dem Keller, in dem er Menschen folterte.
Und da erblickte ich ihn. Ganz ruhig, geradezu gelassen lehnte er mit verschränkten Armen an der Theke und musterte mich.
Ich krallte die Nägel ins Holz. War das die Ruhe vor dem Sturm? Wäre ich die nächste, die er ... Ich wollte das Wort nicht einmal denken. Vor allem hätte ich ihm Nichts entgegenzusetzen.
Da fiel mir auf, dass die ledernen Fesseln zu meinen Füßen nicht festgezogen worden waren. Auch meine Hände waren frei. Er hatte mich nicht gefesselt.
Aber das musste nichts heißen. Eines hatte mich die Intimität mit ihm gelehrt. Es brauchte keine Fesseln für ihn, um mich in Schach zu halten und zu unterwerfen.
"Was hast du mit mir vor?" Meine Stimme flatterte vor Furcht.
Milan schwieg.
"Bitte", flehte ich. "Töte mich nicht. Bitte, Milan."
Ich meinte, einen Funken Verachtung über sein Gesicht huschen zu sehen. Doch was wusste ich schon.
Wie hatte ich so blind sein können?
Milan ließ seine Arme locker. Augenblicklich zuckte ich zusammen und zog meine Beine zu mir.
Während er sich mit den Händen an der Kante der Theke aufstützte, deutete er mit einem Nicken zur Seite.
Auch wenn ich ihn nicht aus den Augen lassen wollte, folgte ich seinem Blick.
Meine Sachen lagen auf der hölzernen Kommode. Wieso ... hatte er sie runtergebracht?
Da stach mir etwas Glänzendes ins Auge. Direkt neben meinen Habseligkeiten befand sich das silberne Tablett mit dem Besteck. Ich hatte es zu Boden fallen lassen. Jetzt lagen die Geräte wieder ordentlich aufgereiht nebeneinander.
Ich schluckte. Das konnte nur eines bedeuten.
Bemüht unauffällig warf ich einen Seitenblick auf Milan. Letztes Mal war ich wie gelähmt gewesen, jetzt würde ich nicht so dumm sein.
Blitzschnell sprang ich von der Pritsche. Mir wurde kurz schwindelig.
Egal, zu der Kommode war es nicht weit.
Ich stolperte nach vorne und griff das erstbeste Skalpell. Benommen wandte ich mich um und hielt es empor in Milans Richtung.
"Komm mir nicht zu nahe", schrie ich, während ich mich mit der anderen Hand noch an der Kommode abstützen musste. In meinem Kopf hämmerte es, als sei ein Presslufthammer außer Kontrolle geraten.
Erst jetzt fiel mir auf das Milan sich keinen Millimeter bewegt hatte. Was hatte er vor?
Ich wusste es nicht. Das Einzige, dessen ich mir sicher war, war, dass er viel näher an der Tür stand als ich. Ich musste ihn da wegbekommen. Fliehen.
Mochte sein, dass ich ihm körperlich nicht viel entgegenzusetzen hatte, und auch das Skalpell nur einen mickrigen Schutz bot, aber vielleicht könnte ich ihn austricksen. Der Zufall im Plan. Ich müsste nur einen Moment der Ablenkung schaffen und an ihm vorbei in Richtung Freiheit stürmen. Es wäre meine einzige Hoffnung.
"Was hast du jetzt vor?" Es waren seine ersten Worte, seit ich wieder wach war. Gefestigt und gelassen klangen sie und erfüllten die angespannte Luft zwischen uns.
Mein Körper reagierte sofort auf das tiefe Timbre seiner Stimme. Allerdings nicht auf eine Art und Weise, wie es für diese Situation angemessen wäre. Im Gegenteil. Ein vorfreudiges Kribbeln wanderte durch meinen Körper, wie jedes Mal. In diesem Augenblick hasste ich ihn dafür. Als ob er mich konditioniert hätte.
"Ich werde hier unten nicht sterben", versuchte ich mit fester Stimme zu sprechen.
Milan stieß sich nach vorne.
Ich umkrallte fester das Skalpell.
"Und was wirst du dann tun?", fragte er mit einer Monotonie, die mich rasend machte.
"Du hast mich betäubt!", schrie ich, während ich mir den Kopf zermarterte.
Wie könnte ich ihn ablenken? Wenn ich auf ihn zuraste, hätte er mich in Sekundenschnelle zu Boden gerissen. Etwas, das mir früher sehr gefallen hätte. Ein ekelhaftes Gefühl krabbelte meine Schenkel hoch, als ich daran dachte, mit wem ich die letzten Wochen geschlafen hatte. Die Reue blieb allerdings aus.
Ich schüttelte den Kopf. "Du bist ein Mörder! Du folterst hier unten Menschen. Wie viele?"
"Das werde ich dir nicht sagen können."
Waren es etwa so viele?
"Leg das Skalpell weg, Ayla."
"Niemals. Erst wenn du mich hier rauslässt."
"Und dann? Läufst du zur Polizei?"
"Was soll ich denn anders tun? Du ..."
Bevor ich reagieren konnte, lief er auf mich zu.
Panisch schleuderte ich ihm das Tablett mit dem Besteck neben mir entgegen.
Es knallte gegen seinen Körper.
Er schnaufte und krümmte sich.
War das meine Chance? Mein Zufall im Plan? Wobei es gab keinen Plan. Nur die Erkenntnis, dass ich jetzt handeln musste.
Entschlossen stürzte ich mich auf ihn, hob das Skalpell an und zielte auf seinen Hals.
Mit voller Wucht stach ich zu.
Meine einzige Chance ...
Aber in dem Moment spürte ich, wie meine Bewegung vereiste. Keinen Millimeter kamen die Klinge und meine Hand voran.
Stattdessen umkrallten Milans Finger mein Handgelenk.
Er hatte den Stoß abgeblockt. Meine einzige Chance.
Wie eine Fessel schloss sich seine Hand fester um mein Gelenk, als er sich aufrichtete.
Ich kreischte auf. Er packte so fest zu, dass ein höllischer Schmerz mein Handgelenk durchzuckte.
Das Skalpell glitt aus meiner Hand.
Ich wimmerte, hörte noch nicht einmal mehr, wie es auf dem Boden aufschlug. Es war vorbei. Ich hatte meine Chance vertan.
Milan griff nach meinem zweiten Handgelenk. Grob dirigierte er mich gegen die Holzkommode.
Tränen kullerten über meine Wangen. Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nicht hier sterben. Ich wollte nach Hause.
"Ich werde dich nicht töten." Seine Stimme, die ein Stück ihrer Contenance eingebüßt hatte, echote durch meinen Kopf.
"Hm?" Ich konnte nicht sprechen.
"Ich sagte, ich werde dich nicht töten."
Ich verstand nicht.
Meine Augen wurden groß. "Du willst mich hier unten gefangen halten?" Ein Schicksal schlimmer als der Tod.
Milan schüttelte den Kopf, wie ich durch den feuchten Schleier aus Tränen erkennen konnte.
"Du kannst deine Sachen nehmen und gehen."
Wie bitte? Er scherzte doch. Fassungslos versuchte ich den Ausdruck auf seinem Gesicht zu deuten, aber lediglich verwässert nahm ich seine Züge wahr.
"Wie?", entfuhr es mir verwirrt. "Aber ..."
Ein grausames Lächeln legte sich auf sein Gesicht und er ließ mich los. "Willst du darüber etwa diskutieren?"
Dieses Mal schüttelte ich meinen Kopf. Vehement.
"Es ist nur ..." setzte ich an, wurde jedoch jäh unterbrochen.
"Warum sollte ich, Ayla?" Während für ihn die Antwort anscheinend so klar war, blieb sie für mich weiterhin im Dunkeln. Wie alles, was er tat.
"Geh", befahl er. "Und meinetwegen auch ruhig zur Polizei."
Unsicher blickte ich zu meinen Sachen.
"Ich meine es ernst. Verlass mein Haus."
Wieder wanderte seine Aufmerksamkeit zu mir. Ein schwerer Kloß bildete sich in meinem Hals.
O Gott. Der Kloß, die Atembeschwerden eben.
"Hast du mich vergiftet?", krächzte ich und griff mir an die Kehle.
Milan verdrehte die Augen. "Nein, mach dich nicht lächerlich."
Ich ließ die Hand sinken. Ich verstand ihn nicht.
"Wieso tust du das? Hast du keine Angst, dass ich die verpfeife? Verfolgst du mich?" Zu einer sinnvollen Reihenfolge von Fragen war ich nicht imstande. Dazu war ich zu aufgebracht.
Einen tiefen Atemzug nehmend trat Milan zurück. "Ich bin kein Stalker. Wie gesagt, geh ruhig zur Polizei. Aber was willst du ihnen berichten?"
Ich breitete die Arme aus. "Von all dem hier."
"Hm." Milan nickte. "Von einem Keller."
"Mit einer Folterbank und Mordbesteck."
"Ein bisschen Mobiliar also, das nicht mehr hier sein wird, wenn die Polizei kommt. Das Besteck werde ich sofort, nachdem du weg bist, entsorgen. Und dieser Keller ist in Nullkommanix ein Handwerkerraum."
"So schnell bist du nicht."
Sein Finger deutete auf mein Handy. "Es wird eventuell etwas dauern, bis du Hilfe holen kannst. Ich habe den Akku entladen. Das ist Zeit genug, den Keller hier umzugestalten. Es wäre nicht das erste Mal."
Ich stieß ein höhnisches Lachen aus. "Er ist gedämmt. Das ist sehr verdächtig."
"Natürlich, wenn ich hier werkele und säge, will ich doch die lieben Nachbarn nicht stören."
"Die Schlösser ..."
"Wie du gemerkt hast, ist hier alles sehr sicher bei mir. Wohlhabende Gegend und wenig Lust auf Einbrecher."
Dieser Mistkerl.
"Ach und wenn du schon dabei bist", fuhr er fort. "Wie dir aufgefallen ist, ist es hier immer sehr sauber. Insbesondere dieser Raum. Selbst mit UV-Lampe würde man hier keinen Tropfen Blut, kein Stück Fleisch finden. Souvenirs von meinen Opfern behalte ich ohnehin nicht."
Mir wurde bei letzterem speiübel. Die anderen ... Ich umklammerte meinen Magen. Wobei es vielleicht erst einmal gar nicht um sie gehen musste, wenn ich ihn anzeigte.
"Du hast mich betäubt und hier festgehalten", klagte ich.
"Die Sedierung tut mir sehr leid."
Meinte er das ernst?
Milan kratzte sich das Kinn. "Allerdings baut sich der Wirkstoff rasch ab und dürfte bereits jetzt nicht mehr nachweisbar sein."
"Aber ..."
"Und festhalten? Du bist frei zu gehen."
Ich schüttelte den Kopf. "Du kannst nicht alle Spuren verwischen. Und vielleicht funktioniert mein Handy nicht, aber wenn ich so bei deinen Nachbarn aufkreuze und ihnen alles erzähle ... sie werden auf jeden Fall die Polizei rufen und irgendwelche Spuren gibt es immer." Davon war ich fest überzeugt.
Wut glomm in Milans Augen auf. "Provozier mich nicht, Ayla. In diesem Haus wird es keine Spuren geben. Und auf die diejenigen, die außerhalb vielleicht noch existieren, wird die Polizei nicht stoßen. Dafür fehlen ihnen und dir die Informationen. Aber wenn du es unbedingt herausfordern willst, frag dich doch einmal, welchen Eindruck du gerade erweckst."
Nervös funkelte ich ihn an. Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte.
Ruhig fuhr Milan fort: "Du rennst also so zu den Nachbarn rüber und erzählst, dass du festgehalten wurdest. Keine körperlichen Anzeichen von Abwehr oder Gewalteinwirkung, keine Substanzen im Blut nachweisbar. Stattdessen eine junge, verwirrte Frau im Nachthemd, die von einem merkwürdigen Keller und Folter schwafelt."
Seine Augen verdunkelten sich. "Und glaub mir, Ayla, solltest du dich an die Polizei wenden, dann werde ich alles nutzen, um dich zu diskreditieren. Die psychisch labile Patientin mit Wahnzuständen. Noch nicht mal in der Lage, harmlose Symptome als solche zu erkennen. Und ich wette, ich brauche nicht lange zu suchen, um einen Haufen von Kollegen zu finden, die dich kennen und diese Einschätzung teilen."
Seine Worte schnitten schlimmer, als die Skalpelle es könnten. Ich war nicht labil. Erneut spürte ich Tränen in meinen Augen.
Doch Milan hörte nicht auf. "Ein kaputtes Elternhaus, eine gestörte Beziehung zur eigenen Sexualität. Und ganz neu selbstverletzendes Verhalten." Ein perfides Lächeln zierte seine Lippen, als er zwischen meine Beine deutete.
Ich keuchte. Es waren die Schnitte, die er mir zugefügt hatte. Aber wie sollte ich es beweisen?
"Genau", murmelte er seelenruhig. "Viele Probleme, von denen eines in einer beinahe Besessenheit von deinem Arzt gipfelte, an den du dich immer wieder rangeschmissen hast."
"Du wolltest es aber doch auch", wisperte ich unter Tränen, die endgültig aus mir herausbrachen.
"Ein großer Fehler. Du hast mich belagert und ich bin darauf eingegangen. Auf eine psychotische, mental kranke Frau."
Mein Hals schnürte sich zu. "Nein, ..."
Doch seine Stimme hatte sich schon in meinem Kopf verkeilt. "Besessen von Fake-Diagnosen und Männern. Es gab keine Chance, dich abzuschütteln. Du bist hier aufgekreuzt, hast dir mehr eingebildet, obwohl ich dich immer wieder abgewiesen habe. Aber du warst ... du bist besessen. Und als ich es mit dir endlich beenden wollte, haben sich in diesem hübschen, aber doch sehr krankhaften Kopf Rachepläne zusammengeschmiedet. Lügenkonstrukte, um es mir heimzuzahlen, weil du ein kranker Mensch bist."
Ich versuchte mir die Tränen von den Wangen zu streichen. Ich war doch nicht krank oder böse oder wahnhaft.
Milan beugte sich ein Stück hinunter. "Ich werde alle so hinstellen und zerren, dass du als kein bisschen vertrauenswürdig mehr dastehst. Und du froh sein kannst, wenn du am Ende nicht in einer geschlossenen Einrichtung landest." Er holte zum finalen Schlag aus. "Ich brauche gar kein Skalpell oder Messer, um dich zerstören. Du bist so schwach hier oben, dass ein paar Worte und Gutachten reichen werden, dich zu brechen. Deshalb brauche ich heute auch keine Straftat an dir zu begehen. Aber ich werde dich zugrunde richten, wenn du auf die Idee kommst, gegen mich aufzubegehren. Also lauf, du armes krankes Mädchen." Die letzten Worte hatten einen angewiderten Unterton, der fast härter traf als der Inhalt.
Schluchzend lief ich zu meinen Sachen, griff meine Kleidung, Schuhe, Tasche und das Handy.
Ich torkelte an ihm vorbei raus. Raus aus diesem Horrorraum.
Auf nackten Füßen erklomm ich die Treppe. Nur in mein Nachthemd gehüllt. Doch die Kälte spürte ich nicht.
Eigentlich sollte ich dankbar sein, dass er mich lebend entkommen ließ, aber ich fühlte mich so elend. Seine drohenden Worte hallten durch meinen Kopf. Die nackte Angst und Zweifel donnerten in einem nicht enden wollenden Unwetter auf mich ein. Ich war doch nicht so krank oder so eine schlimme Person, wie er es dargestellt hatte. Oder doch?
Nachdem ich hörte, dass er mir nicht folgte, streifte ich mir im Flur meine Sachen über. Es war kaum möglich, da mein ganzer Körper wie Espenlaub zitterte.
Ich hatte noch nicht einmal einen Beweis in der Hand gegen ihn. Nur Worte, die aus meinem Mund nichts wert wären. Dass ich noch lebte, war seinen Launen geschuldet, nicht meiner Stärke. Vielleicht war ich tatsächlich schwach. Zu schwach, mich selbst zu verteidigen und erst recht zu schwach, das Richtige zu tun. Das Richtige für alle anderen, die dort unten weniger Glück gehabt hatten als ich.

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