Kapitel 19

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Ayla


Resignierend ließ ich meinen Stift auf den Collegeblock vor mir fallen. Ein Haufen sinnloser Notizen in unleserlicher Handschrift erstreckte sich auf dem karierten Papier.
Ich warf einen letzten hoffnungsvollen Blick auf meinen Laptop. Mindestens zwanzig Tabs rund um die frühen Kunstwerke von Kandinsky waren im Browser geöffnet. Doch die Hoffnung, eine neue Idee oder einen roten Faden für meine Hausarbeit zu finden, wurde zerschmettert. Es war zu viel und ich hatte keinen Bock mehr.
Seit Stunden saß ich an meinem Schreibtisch und versuchte, voranzukommen. Während mein Browser und Collegeblock vor neuen Informationen überquollen, erstreckte sich in meinem Worddokument vor mir gähnende Leere. Gerade einmal das Wort "Einleitung" hatte ich niedergeschrieben.
"Kacke", fluchte ich, sprang vom Stuhl auf und ließ mich auf mein Bett plumpsen. Wie automatisch langten meine Finger nach dem Handy und ich tippte den Namen meiner Hausarztpraxis ein. Natürlich brauchte ich nur die ersten Buchstaben einzugeben, da ploppte dieser direkt an vorderster Stelle in meinem Verlauf auf. Auf der Website der Praxis tippte ich direkt auf die Rubrik Team und da war er:
Dr. Milan Degard
Facharzt für Allgemeinmedizin
Es folgten ein paar Stichpunkte zu seinen Schwerpunkten und Fortbildungen.
Ich seufzte. Er hatte ein gesamtes Studium, die Promotion sowie Approbation samt Weiterbildungen abgeschlossen und ich schaffte es, noch nicht einmal eine Hausarbeit mit fünfzehn Seiten und mickrigen drei Credit Points – wenn überhaupt – fertigzustellen.
Nein, ich schaffte es, noch nicht einmal anzufangen.
Mein Blick wanderte zu Milans Foto. Er trug ein hellblaues Polohemd, wie seine Kollegen und Kolleginnen. Doch es war sein Gesicht, das mich gefangen hielt. Diese indigoblauen Augen, perfekten Wangenknochen und vollkommenen Lippen. Bei dem Gedanken, wie letztere über meine Brüste gestrichen und sich um meine Nippel gelegt hatten, schoss mir die Hitze in die Wangen. Der Anblick, wie er an ihnen gesaugt hatte, sorgte für ein erregtes Kribbeln in meinem Unterleib.
Meine Hand langte wie fremdgesteuert zu meiner Nachttischschublade, in der mein Vibrator lag. Eine Zeit lang schwelgte ich in den Erinnerungen aus der Praxis und im Park. Ich war diese die letzten Abende und morgens immer wieder durchgegangen und jedes Mal gekommen. Doch ich hatte das Gefühl, dass die Stimulation mit der Zeit nachließ. Wie bei so vielem nutzte sich die Wirkung, wenn man sie zu oft heraufbeschwor, irgendwann ab. Dies galt leider auch für die Bilder mit Milan. Wie unfair ... kommen wollte ich trotzdem. Um jetzt aufzuhören, war ich bereits zu feucht und erregt.
Die Vibration an meiner intimsten Stelle spürend, öffnete ich eine der Pornoseiten. Ich scrollte durch die Videos, bis ich – befeuert durch die emporsteigende Erregung – bei einem passenden angekommen war. Es dauerte nicht lange und ein tosender Orgasmus fegte über mich weg. Mein Körper erzitterte und Milans Gesicht tauchte begleitet von unzähligen Glückshormonen vor meinem inneren Auge auf. Sämtliche Muskeln meines Körpers spannten sich an, während das berauschende Gefühl durch meine Adern pumpte und mein Kitzler pochte. Einen Moment schloss ich die Augen, blendete aus, was um mich herum war. Alles war so egal ...
Als das intensive Gefühl abebbte, blickte ich auf mein Handy. Ein schmerzvolles Stöhnen ertönte aus dem Lautsprecher. Schnell schloss ich den Tab.
Ein Gefühl aus Scham und Schuld machte sich in mir breit. Es gefiel mir nicht, was ich mir da angeschaut und was mich zum Kommen gebracht hatte. Im Rausch der Lust war es genau das Richtige. Doch sobald sich die Vernunft wieder einschaltete, fühlte es sich schlecht an. Es war nicht illegal, aber es war moralisch auch nicht einwandfrei. Zumindest nicht nach meinen Vorstellungen.
"Ayla?" Fees Stimme hallte durch die Wohnung und riss mich aus meinen Gedanken.
"Öhm ja", haspelte ich lautstark, schob den kleinen Vibrator schnell wieder in die Schublade und zog die Jogginghose hoch. "Was gibt's?"
"Ich bin wieder zurück aus der Heimat und hab Törtchen von einer dieser mega niedlichen Konditorei mitgemacht. Magst du auch welche?"
Das schlechte Gewissen verdrängend grinste ich. "Klaro, ich komme sofort."
Nachdem Fee und ich es uns mit einer Tasse Kaffee und einem Teller geteilter Köstlichkeiten auf der Couch gemütlich gemacht hatten und ich ihr über mein Hausarbeiten-Desaster geklagt hatte, hakte sie mit verschmitztem Gesichtsausdruck nach: "So, und jetzt mal zu den wichtigen Sachen. Wie läuft's mit deinem Arzt?"
Ich schluckte und starrte auf mein halbaufgegessenes Törtchen. "Gut."
"Gut?" Fee lachte. "Was soll das denn heißen? Gut im Sinne von keiner Katastrophe? Oder gut im Sinne von bester Sex und Mann deines Lebens?"
"Feehee", mahnte ich.
"Aha." Sie kniff die Augen zusammen. "Also letzteres."
"Wir haben nicht ..." Ich schüttelte den Kopf bei dem Gedanken, dass wir zwar nicht miteinander ... verkehrt hatten. Allerdings wäre es beinahe so weit gekommen. Eigentlich waren wir auch am Mittwoch, als ich ihn in der Praxis besucht hatte, sehr keusch geblieben. Nachdem uns seine Arzthelferin Famke, was mich immer noch sehr wurmte, überrascht hatte, waren wir einen Kaffee trinken gegangen und hatten über dieses und jenes geredet.
Mein Studium, sein Studium, meine WG, sein Haus. Für letzteres hatte ich ihm sogar eine Einladung abringen können. Zu Beginn hatte ich das Gefühl, er wolle partout nicht, dass ich mich seinem Heim auch nur auf hundert Meter näherte. Kurz schrillten meine Alarmglocken auf. Nicht dass er ein heimliches zweites Leben mit Ehefrau und Kindern führte. Vielleicht sogar mit Famke. Allerdings hatte er sich dann doch dazu durchgerungen, mich einzuladen. Es war immer ein Kampf mit ihm. Aus mir unerfindlichen Gründen wollte er mich auf Abstand halten. Fast so als würde er etwas verbergen ...
"Aber ein bisschen rumgemacht habt ihr ja schon?" Fee schob sich eine vollgepackte Gabel in den Mund. Sie spielte auf das Treffen an, wo sie uns in flagranti vor der Haustür erwischt hatte.
"Joa, ein bisschen." Ich konnte nicht vermeiden, wie meine Mundwinkel nach oben wanderten wie bei einem Honigkuchenpferd.
"Ein bisschen, soso." Neugierig musterte Fee mich. "Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen. Wie weit seid ihr schon gegangen?"
"Ja also, wir waren nach unserem Date am Samstag tatsächlich noch in einem Park sparzieren und da ist vielleicht mehr passiert als etwas Rumgemache." Unter mehrmaligem Nachfragen erzählte ich Fee von unserer "Baumaction".
Kaum war ich fertig, wurde ihre Miene kritisch. "Du hast ihm einen Blowjob an einem Baum gegeben und dir auf den Bauch spritzen lassen?"
O Mann, warum musste sie immer alles so explizit auf den Punkt bringen.
Ich schwieg und stocherte in dem bisschen Sahnecreme auf meinem Teller herum. "Und?"
"Das ist schon krass." Ihr Ton wurde ernst. "Warum erniedrigst du dich so?"
Ihre Worte schnitten tief.
"Tue ich doch gar nicht", empörte ich mich rasch.
"Also hat es dir gefallen?"
"Ja, ich habe es ja auch freiwillig gemacht."
"Wirklich? Manchmal ist es schwierig, seine Lust nicht mit der des anderen gleichzusetzen. Gerade bei dir, habe ich das Gefühl, dass du manchmal deine Vorlieben sehr an dem festmachst, was dem anderen gefällt."
Langsam wurde ich sauer. "Ernsthaft? Erstmal bin ich auch gekommen und zweitens habe ich dir schon mehrfach gesagt, du sollst deine Therapieübungen nicht an mir trainieren." Als nächstes fing sie wieder mit meiner Familie und Kindheit an ...
"Naja, du weißt schon, dass deine Mutter da ein gewisses Bild vorgelebt hat, in dem sie alles auf deinen Vater ausgerichtet hat und sogar seine Fremdgeherei geduldet hat ..."
" O mein Gott, Fee!" Mit ein Rumps stellte ich den Teller auf den Tisch. "Ich weiß, wie meine Familie tickt, okay. Darf ich dich daran erinnern, dass ich bereits eine Therapie durchlaufen habe. Bei einer richtigen, ausgebildeten Psychologin und keiner Bachelorstudentin."
Fee lehnte sich zurück. "Ich will dir doch nur helfen ..."
"Die Therapie hat mir geholfen. Und wenn ich Probleme habe, dann suche ich mir PROFESSIONELLE Hilfe. Aber ich komme aktuell sehr gut zurecht."
"Wirklich?" Ihre Stimme wurde deutlich milder. "Und was war mit dem Sonntag, an dem du mich nachts um vier Uhr angerufen hast, weil du dachtest du hast Morbus Crohn? Und deiner letzten Beziehungskiste, wo du dich erst lösen konntest, nachdem der Typ, um Stoff zu kaufen, dein halbes Zimmer leergeräumt hat und abgehauen ist? Und diese ganze sexuelle Neigungskiste mit Dominanz und Co, auf die du stehst?"
Ich funkelte sie an. "Da war ich betrunken, als ich das erzählt habe."
"Ach ja? Das klang für mich schon so, als ob da ein Funken Wahrheit drinsteckt. Und diese Sache im Park zeigt ja wohl auch, dass da mehr dahintersteckt."
Man konnte Fee nichts vormachen.
"Und wenn?", raunzte ich. "Leute haben halt Kinks. Was ist so schlimm daran?"
"Wenn die im Bett oder, wo auch immer man sich austobt, bleiben, dann ist es ja in Ordnung. Aber wenn es die ganze Beziehung prägt, dann nicht. Und ich habe das Gefühl ..." Sie räusperte sich. "Du bringst dich gerne in solche Partnerschaften, wo du dich ... unterwirfst und vor allem deine Bedürfnisse zurückstellst."
Ich spürte einen Kloß, der sich in meinem Hals bildete. "Was ist los mit dir? Warum sagst du das?"
"Ich mache mir nur Sorgen."
"Aber warum denn?"
"Ich finde diesen Arzt einfach keine gute Partie ..."
Ich verstand die Welt nicht mehr. Jeder, eingeschlossen meiner Mutter, wäre begeistert von einem Mediziner als Schwiegersohn in spe – natürlich nicht, dass wir beziehungstechnisch bereits so weit wären.
"Aber warum denn?", jammerte ich. "Du kennst ihn doch gar nicht."
"Naja, ich habe ihn ... euch ja schon vor der Haustür getroffen."
"Einmal getroffen, toll. Das bedeutet aber nicht kennen. Außerdem war er doch sehr nett zu dir."
"Nett?" Fee entfuhr ein höhnisches Lachen. "Er war mega kalt und distanziert. Ach ja, und er wollte noch nicht einmal auf einen Kaffee hochkommen."
"Milan hat halt viel zu tun und ist oft erschöpft von der Arbeit."
"Ist er das?" Fee strich sich durch das aschblonde Haar. "Ich glaube, mit ihm stimmt etwas nicht. Allein schon, dass er etwas mit seiner Patientin und noch dazu blutjungen Studentin anfängt."
"Das haben wir geklärt", schob ich dazwischen, aber hatte das Gefühl, dass egal, was ich sagte, es bei Fee unterging.
"Wenn es nur was Sexuelles zwischen euch ist, wäre ja auch alles fein." Wie erwartet ignorierte Fee meinen Einwand und fuhr fort: "Aber ich habe gesehen, wie du ihn anschaust. Du bist schon wieder über beide Ohren verschossen und er ist ein super schräges Buch mit sieben Siegeln für mich."
"Es reicht." Ich stand auf. "Ich habe keine Lust mehr auf dieses Gespräch. Vielleicht weht daher auch der Wind. Weil du ihn nicht direkt lesen kannst, projizierst du deine eigenen Unsicherheiten auf ihn." Sollte sie mal ihre eigene Medizin zu schmecken bekommen.
Fee verdrehte die Augen. "Netter Versuch, Ayla, aber so funktioniert das nicht."
"Natürlich, ich soll alles, was du mir hinknallst, schlucken, aber du bist mal wieder komplett kritikresistent und über alle Fehler erhaben."
"So war das auch nicht gemeint." Fee klopfte auf den freien Platz neben sich. "Jetzt fahr dich wieder runter und setz dich hin. Ich verlier auch kein Wort mehr über ihn. Versprochen."
Schweigsam hielt ich still. Ich glaubte ihr kein Wort.
"Och Ayla." Fee verdrehte die Augen. "Ich will dir wirklich nur helfen. Der Typ hat mir vor der Haustür mega komische Vibes gegeben und, weil dein Radar da nicht besonders sensibel für ist, will ich dich nur beschützen. Also setz dich bitte wieder hin. Ich wollte mit dir eh noch wegen des Festivals in zwei Wochen sprechen. Wir müssen immerhin noch die Rückfahrt buchen."
"Ich weiß gerade nicht, ob ich Lust habe, überhaupt noch irgendwo mit dir hinzufahren", zischte ich geladen und rauschte in mein Zimmer. Ihre Rufe ignorierend knallte ich die Tür hinter mir zu. Die spann doch. Auch wenn ich Fee sonst liebte wie eine Schwester, die ich nie hatte, ging sie mir mit ihrer Art manchmal so auf den Kecks. Es war wie die überfürsorgliche 2.0-Version meiner Mutter, nur mit Psychologie-Background und jünger.
An die Tür gelehnt atmete ich tief ein. Ich musste mich beruhigen. Eigentlich hätte ich es mir auch denken können. Sobald Fee aus der Heimat kam, war sie immer so. Ich wusste, dass ihre Familie ähnlich dysfunktional war wie meine. Stiefvater Choleriker, Mutter halbe Alkoholikerin. Und ähnlich wie bei mir wurde alles unter den Teppich gekehrt. Auch mit ihren älteren Geschwistern konnte sie kaum darüber reden. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie probierte bei mir etwas geradezurücken, was sie bei ihrer Familie nicht konnte. Und nach ihren Besuchen war es besonders schlimm.
Auch wenn ich ihr nicht böse sein wollte, hatte ich für heute die Schnauze voll. Vor allem wie sie über Milan gesprochen hatte. Als ob er ein gefährlicher Psychopath wäre. Ich vertraute ihm. Auch wenn es holprig war und ich davon überzeugt war, dass er – familienbedingt, wie er es selbst angedeutet hatte – ebenfalls ein paar Abgründe in sich trug, genoss ich die Zeit mit ihm. Nicht nur die körperliche Nähe, sondern auch die Gespräche. Mein Herz machte einen Hüpfer, bei dem Gedanken, dass wir uns kommendes Wochenende bei ihm trafen.

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