Kapitel 27

23 0 0
                                    

Milan


Kaum, dass ich die Tür zuknallen hörte, schlug ich mit beiden Händen auf die Theke. Am liebsten wollte ich schreien, aber ich nahm mich zurück. Es brachte nichts, laut zu werden. Es brachte nichts, sich aufzuregen. Es brachte noch nicht einmal etwas, zu weinen. Und doch spürte ich, wie sich die Tränenflüssigkeit hinter meinen Augen sammelte und hinausdrücken wollte.
Nein. Ich hatte ewig nicht mehr geweint und würde es auch nicht jetzt tun. Es gab nichts zu beweinen. Nichts zu betrauern.
Und doch hatte ich das Gefühl, etwas so Essenzielles verloren zu haben, dass ich mich am liebsten, wie als kleiner Junge damals, auf den Boden sinken, den Kopf in den Armen vergraben und die salzigen Bäche aus Schmerz einfach laufen lassen würde.
Aber ich war kein kleiner Junge mehr. Ich war erwachsen und hatte, so falsch es sich anfühlte, das einzig Richtige getan.
Während sich meine Finger zu Fäusten ballten und die blauen Venen auf meinen Handrücken hervorstachen, bemühte ich mich, meine Atmung zu kontrollieren.
Es war das Richtige gewesen. Das Richtige im Falschen. Alles, was ich hier unten tat, war falsch. Aber damit es nicht herauskommen würde, hatte ich handeln müssen. Denn Ayla, so folgsam sie bisher an meinen Lippen gehangen hatte, wäre schnurstracks zur Polizei gerannt. Davon war ich überzeugt.
Ich hatte Macht über sie, ja. Aber keine Macht, die zwanzig Jahre anerzogene Moralvorstellungen brach. Und das war gut so. Das hatte mir an ihr gefallen. Hörig, aber doch eigen.
Die Erinnerung an letzte Nacht streifte meine Gedanken. Es war ihr Wunsch gewesen, dass ich das Messer holte. Und verdammt, ich wäre beinahe gestorben, wie perfekt es sich angefühlt hatte. Wie perfekt sie zu mir zu passen schien. Wie perfekt, wir uns ergänzten. Für einen Moment war die Hoffnung in mir aufgeglommen, dass diese Art der sexuellen Befriedigung eventuell für mich ausreichen könnte. Und ja danach wäre ich fast so leichtsinnig gewesen, das Wort Liebe in den Mund zu nehmen.
Als ich das Frühstück, das sie für mich zubereitet und welches halbfertig in der Küche gestanden hatte, gesehen hatte, war mir tatsächlich warm ums Herz geworden. Zum ersten Mal hatte sich in diesem Haus ein Anflug von Geborgenheit und Zuhause eingeschlichen. In diesem Moment war das Bild einer friedlichen Normalität so greifbar gewesen, dass ich fast geneigt war, es als wahrhaftig anzunehmen.
Aber die Erkenntnis folgte auf dem Fuße, als ich die offene Kellertür gesehen hatte. Sie zerschlug das Bild. Noch während ich die Treppe runtergegangen war, wurde mir bewusst, dass all die Wünsche, die ich an dieses und eine andere, bessere Zukunft geknüpft hatte, nichtig waren. Und auch die letzte Nacht war nur ein blasser Schatten. Denn hatte das sadistische Spiel mit dem Messer das ersetzen können, was ich in diesem Keller fühlte?
Nein, hatte es nicht. Auch wenn es mich schier in den Wahnsinn getrieben hatte, in ihren von Lust und Schmerz durchtränkten Augen zu versinken, als ich die feinen Schnitte auf ihrer Haut hinterlassen hatte, war es etwas anderes als das, was ich fühlte, wenn ich richtig schnitt. Es waren zwei Sachen, die von außen so ähnlich, aber innerlich nicht widersprüchlicher für mich sein könnten. Ayla könnte ich niemals das antun, was ich den Personen in meinem Keller antat. Die Grausamkeiten. Oft beiseitegeschoben, zeigte es sich jetzt wieder so klar vor mir.
Mein wahres Ich.
Ich war ein Mörder, ein Folterer, ein Sadist.
Und ich würde es bleiben.
Daran änderten auch Ayla und diese neue erfüllende Erfahrung der letzten Nacht nichts.
Ich atmete tief ein. Selbst wenn es etwas geändert hätte, die Leichen hinter mir würden dadurch nicht verschwinden. Und der selbstsüchtige Egoist, der ich war, hatte ich Ayla davon abbringen wollen, mich zu verraten.
Als sie bewusstlos auf der Pritsche gelegen hatte, hätte es eine weitere Lösung gegeben. Kurz und tödlich, ohne Leid. Doch sie wäre dumm gewesen. Der vernünftige Teil in mir prophezeite, dass ich als neuer Mann in ihrem Leben bei ihrem Verschwinden Verdächtiger Nummer eins wäre.
Außerdem hatte ich es nicht übers Herz gebracht, sie zu töten. Wie immer. Und wie albern in Anbetracht dessen, dass es mir sonst geradezu leichtfiel.
Es hatte Stunden gedauert, bis sich ein anderer Weg gezeigt hatte. Auch wenn ich ihr körperlich kein Haar mehr krümmen würde, galt dies nicht für ihre Psyche. Ich würde sie dort zerlegen, wo sie am verletzlichsten war. Das Werkzeug dafür hatte sie mir bereitwillig in die Hände gelegt. So offen hatte sie ihre Unsicherheiten mit mir geteilt. Ich hatte diese nur noch nutzen müssen. Beweise für die Massaker in meinem Keller hatte sie kaum welche. Aber natürlich wäre es eine Gefahr gewesen, wenn sie zur Polizei gerannt wäre. Doch nach meinen Worten ging ich nicht davon aus, dass sie dies tun würde.
Ich hatte sie gebrochen. Nicht auf ewig, aber für den Moment und lange Zeit danach. Und das war das Schlimmste. Es wiegte fast schlimmer als die Furcht davor, aufzufliegen. Ihr Blick, die zitternde Stimme, die Tränen. Es hatte mir ein Messer ins Herz gestoßen. Ich wollte sie nicht verletzen und doch hatten diese zerstörerischen Worte meinen Mund verlassen. Sie getroffen, verwundet und manipuliert.
Wie sehr ich mich in diesem Augenblick selbst hasste. Doch was geschehen war, war geschehen. Ja, ich war schlecht und schwach, hatte so viel schlimme Dinge getan. Eine altbekannte hämische Stimme meldete sich mit der so wohlvertrauten Frage: Warum also aufhören?
Ayla war endgültig aus meinem Leben entschwunden. Etwas, das ich von Anfang an antizipiert hatte. Der Weg war wieder frei für neues. Eine neue Aufgabe. Ein neues Ziel.
Kraftvoll stieß ich mich von der Theke ab und betrachtete den Raum, den ich so sehr liebte und hasste. Der Sturm an Gefühlen ebbte langsam ab. Der dichte Wald aus Gedanken lichtete sich. Und auch Aylas Bild verschwand langsam, glitt in die dunklen Abgründe, in die hintersten Ecken meines Gehirns hinab, wo es wie alle anderen verfaulen und mit der Zeit vergessen würde.
Mein Kopf war klar und ich wusste, was ich wollte. Ein wenig musste ich noch abwarten. Auch wenn ich davon ausging, dass meine ehemalige Patientin stillhalten würde. Aber Sicherheit ging vor und ich würde die schützenden Mauern nie wieder runterlassen. Für das, was kam, brauchte ich sie definitiv. Ein Hauch von Vorfreude machte sich breit. Und diese war mit das Schönste an dem Ganzen. War die bisherige Planung teilweise ins Stocken geraten und beinahe anstrengend, da mich der Schein einer normalen Beziehung Aufmerksamkeit und Kraft gekostet hatte, würde ich sie nun in vollen Zügen genießen.
Eine neue Stadt lockte. Ein neues Opfer. Ein neuer Quell erfüllenden Schmerzes.
Mein Blick fiel auf das silberne Besteck. Es war schon zu lange ungenutzt geblieben.

Down our Darkest PathsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt