Kapitel 2

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Ayla


Keuchend schloss ich die Badezimmertür hinter mir. Mit der Hand fächerte ich mir Luft zu und betrachtete mich im Spiegel.
Mist, warum hatte ich nicht ein wenig Makeup aufgelegt? Ich sah aus wie der Tod auf zwei Beinen. Oder zumindest wie seine kleine Schwester. Eigentlich war das auch mein Ziel gewesen. Ich hatte ernsthaft krank wirken wollen, damit man mich endlich für voll nahm. Die halbe Nacht hatte mich der Knubbel im Bauch wachgehalten, den gesamten gestrigen Tag die Kopfschmerzen.
"Hypochonderin" hatte mein letzter Arzt mir attestiert. Aber ich bildete mir das alles doch nicht ein. Natürlich waren meine bisherigen Online-Diagnosen nicht unbedingt immer eingetroffen, aber das war doch kein Garant dafür, dass sie es nicht in Zukunft taten.
Zerknirscht betrachtete ich mein Antlitz im Spiegel
Ob mein neuer Arzt mir glaubte? Herr Doktor Degard. Er sah so wunderschön aus. Wie konnte ein Mensch so gut aussehen. Ein Halbgott in Weiß.
Ich schnaubte. Kein Halbgott, er war ein vollständiger Gott, hinabgestiegen vom Olymp, um den kranken Menschen auf dieser Welt zu helfen.
Okay, ich übertrieb mal wieder maßlos. Aber insgeheim war ich fest davon überzeugt, dass selbst Michelangelo diese markanten Züge nicht besser hätte meißeln, kein Künstler der letzten Jahrhunderte dieses perfekte Gesicht hätte malen und keine Farbe diesen beißenden blauen Augen hätte gerecht werden können. Kein helles, strahlendes Blau. Sie waren wie indigofabenes Aquarell. Ein Blau voller Schatten.
Am liebsten wäre ich über den Tisch gestiegen, hätte mich auf seinen Schoss gesetzt und meine Finger in seinem dunkelblonden Haar vergraben. Auch wenn das Hemd und der weiße Kittel gut verbargen, was sich darunter befand, verwettete ich meinen mysteriösen Knubbel im Bauch darauf, dass es ein gestählter Körper wie der einer Marmorstatue aus der Hochrenaissance war.
Und da war ich. Ein Häufchen Elend mit mindestens zwei Tumoren. Wobei er meinte, dass meine Symptome asymptotisch waren. Das war doch gut. Außerdem wollte er mich abtasten. Mehr als mein letzter Arzt nach meinem zigsten Besuch im letzten Quartal getan hatte.
Ich legte den Kopf schräg. Vielleicht wäre das meine Chance, meinen schlechten ersten Eindruck wieder wettzumachen. Den Oberkörper straffend fixierte ich mein Gegenüber im Spiegel. War es illegal seinen Arzt zu verführen?
Aktuell hatte ich allerdings nicht viel zu bieten. Ich drehte und wandte mich, als mir zwei kleine rundgeformte Argumente ins Auge stachen. Natürlich, Brüste zogen doch immer. Doch wie konnte ich seine Aufmerksamkeit dorthin lenken. Ich öffnete einen weiteren Knopf meiner Bluse. Einen, noch einen.
Okay, das war zu tief.
Aber wenn ich ihn wieder schloss, sah man nichts.
Ich stöhnte. Das ewige Dilemma.
An meiner rechten Brust befand sich ein Leberfleck. Auch wenn meine Hautärztin bereits Entwarnung gegeben hatte, könnte es doch nicht schaden, wenn er auch einen Blick riskierte. Wobei er dann vielleicht meine Brüste auf ewig mit Krankheit assoziierte.
"Aarghhh." Es ging wieder los. Dieses nervige Kopfkarussell, das angeworfen wurde, wenn ein Mann den Schalter betätigte.
"Alles in Ordnung da drin?" Es war die Stimme der Arzthelferin. Mist, ich war schon viel zu lange hier drin.
"Ja klar, ich komme sofort", flötete ich und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Am liebsten hätte ich meinen Kopf dagegen geschlagen, als mir ein wohlbekanntes Grinsen entgegenstrahlte. Es war ein Teil von mir, den ich lieber verdrängte, in einen tiefen Brunnen in den hinteren Ecken meines Gedächtnisses hinabwarf und ein Gitter oben draufschraubte. Doch ich fürchtete dafür war es bereits zu spät.
Ein Bruchteil, ein winziges Fragment von Besessenheit hatte sich bereits in meinem Kopf zementiert und wollte sich dem Mann auf den Schoss setzen, der nur durch den Flur getrennt im gegenüberliegenden Zimmer saß. Am besten nackt.
Kopfschüttelnd verließ ich das Bad. Nein, ich musste mich am Riemen reißen.
"Da sind Sie ja wieder." Ich konnte nicht erkennen, ob Herr Doktor Degard erfreut oder genervt war, mich wiederzusehen. Im Gegensatz zu meinem alten Hausarzt, verbarg er seine Empfindungen mir gegenüber perfekt. Wie eben war seine Stimme ein monotoner, sonorer Wasserfall. Den ganzen Tag hätte ich sein tiefes Timbre auf mich herabprasseln lassen können. Ein Schauer lief über meine Haut bei der Vorstellung, wie er meinen Namen, nicht hart wie eben bei der Vorstellung, sondern sanft in mein Ohr raunen würde. Oder stöhnen.
Meine Wangen wurden heiß, während ich auf dem Stuhl Platz nehmen wollte.
"Sie können sich ruhig schon auf die Liege legen und den Bauch freimachen." Einen kurzen Blick aus seinen tiefblauen Augen konnte ich erhaschen, als ich mit weichen Knien zu der Liege lief.
Die Arzthelferin nickte mir aufmunternd zu. "Den Cardigan können Sie auch gerne mir geben."
"Danke", wisperte ich, streifte ihn ab und überreichte ihn.
Kaum hatte ich mich auf die Liege gesetzt, grübelte ich, ob ich meine Bluse nur hochschieben oder aufknöpfen sollte. Welchen BH trug ich heute? Könnte es zu offensichtlich sein, wenn ich mich hier mit entblößtem Oberkörper verführerisch auf der Liege räkelte.
Ja, definitiv. Außerdem erspähte ich bei kurzem Blick in mein Dekolleté, dass ich einen faden, weißen Baumwoll-Oma-BH trug. Nächstes Mal wäre ich besser vorbereitet und würde lediglich einen Hauch schwarzer Spitze tragen.
"Gut, dann wollen wir mal." Herr Doktor Degard desinfizierte sich die Hände und kam auf mich zu. Zum ersten Mal erblickte ich ihn stehend. Er war groß. Neben ihm stehend würde er mich ein gutes Stück überragen. Seine Silhouette glich einer Meisterkomposition. Breite Schultern, schmale Hüften. Auch wenn die typisch weiße Hose nicht eng anlag, ließ sich anhand seiner Bewegungen auf durchaus trainierte Oberschenkel schließen. Doch keinesfalls erweckte er den Eindruck, sich mit Steroiden zu zuballern. Ein kraftvoller Körper, ohne aufgepumpt zu wirken. Einfach makellose Vollendung. Wie sein wunderschönes Gesicht.
Mit zittrigen Fingern schob ich Bluse hoch und entblößte meinen Bauch. Warum war ich so nervös? Er wollte mich nur abtasten, nicht aufschlitzen.
"Sie sagen, wenn es schmerzt." Seine Stimme war weich geworden und ich betrachtete sein perfekt geschwungenes Profil.
Seine Finger, die in diesem Moment meine Haut berührten, waren kühl, aber nicht unangenehm. Sachte drückte er unterhalb meines Bauchnabels. Ich erschauerte. Bitte tiefer, wollte es mir entweichen, aber ich hielt mich zurück. Diese verdammte dunkle Seite.
Einige Stellen weiter, wiederholte er. "Sie sagen, wenn es schmerzt, okay?"
"Mhm", kam es über meine Lippen und ich blickte auf seine Hände. "Darf ich?"
Fragend sah er mich an.
Behutsam legte ich meine Finger auf seinen Handrücken und schob, ihn ein Stück weiter zur Seite. "Hier müsste der Knubbel sein."
Für einen kurzen Moment verkeilte sich sein Blick mit meinem. Mein Herzschlag beschleunigte. Doch kaum löste ich meine Finger von seinen, taten es seine Augen gleich.
"Und?", fragte ich.
"Nun." Er rümpfte die Nase und ließ mich los. "Sie können sich wieder aufsetzten."
"Ist es ernst?" Die Panik verdrängte die Lust zwischen meinen Beinen, die auch nach seiner Berührung noch aufschwellte.
"Es handelt sich um Luft."
"Wie bitte?"
"Der Knubbel sind Gase, die durch ihren Darm wandern. Daher ist er auch nicht ständig ertastbar."
Meine Wangen fingen Feuer. "Ein Pups?"
Kurz zuckten seine Mundwinkel. "Ja, nur Luft im Darm."
Wie peinlich. Und unattraktiv obendrein.
Er wollte sich wieder zum Schreibtisch begeben, doch ich schoss dazwischen. "Können Sie noch meine Bronchien abhorchen?"
Verwundert blickte er auf mich herab. "Haben Sie Atembeschwerden?"
"Ja", log ich.
Dieses Mal meinte ich ein Seufzen zu hören. Er hielt mich bestimmt für übergeschnappt. Anstelle von Widerstand drehte er sich wieder zu mir und schob meine Bluse hoch. Das kalte Stethoskop legte sich auf meine Haut. Das tiefe Ein- und Ausatmen sorgte für etwas Klarheit in meinen Gedanken.
"Vielleicht hätte ich auch Medizin studieren sollen, dann könnte ich meine Probleme selbst auskurieren", fachsimpelte ich. Oder mich in den Wahnsinn diagnostizieren.
"Warum studieren Sie Kunstgeschichte?"
Ich meinte Interesse aus seiner Stimme zu hören.
"Für Kunst hat es leider nicht gereicht", scherzte ich.
Er streifte das Stethoskop ab. "Eine Malerin also."
"Bildhauerin", verbesserte ich.
"Und was für Skulpturen formen Sie so?"
Ich hob meinen Blick, der auf seinen traf. "Phallusse." Die Antwort hatte meinen Mund verlassen, bevor ich sie hatte aufhalten können. Ein angespanntes Schweigen erfüllte den Raum und seine unergründlichen Augen brachten mein Herz beinahe zum Stillstand. Sie fixierten mich. Nein, es war mehr. Es waren wie unsichtbare Fesseln und für einen Moment hatte ich das Gefühl, splitterfasernackt vor ihm zu sitzen. Unfähig mich zu bewegen. Darauf wartend, dass er mich zurück auf die Liege drückte und ...
"Höhö."
Verwundert sahen wir beide zu den Medizinschränken.
"Penisse", giggelte die Arzthelferin.
"Am besten probieren Sie einmal beim Lernen Ihren Nacken zu entlasten." Herr Doktor Degard lief zu seinem Bürotisch. "Den Bildschirm korrekt einstellen, gegebenenfalls einen neuen Stuhl kaufen, der ihre Sitzposition verbessert. Außerdem sollten Sie zwischendurch Pausen machen und die Rücken- und Nackenmuskulatur durchlockern mit entsprechenden Übungen. Sport kann ebenfalls helfen."
Ich konnte ihm nur bedingt folgen.
"Falls die Kopfschmerzen nicht besser werden oder sich verschlimmern, werden Sie noch einmal vorstellig."
Die Arzthelferin drückte mir meinen Cardigan in die Hand, während ich aufstand.
"Okay?" Unschlüssig blieb ich im Raum stehen.
"Gut, haben Sie sonst noch Fragen?" Seine Worte klangen ruppig. Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Ich hatte es vergeigt. Dabei hätte ich schwören können, dass wir einen Moment hatten.
"Nein, alles gut." Ich streifte meine Jacke über. "Vielen Dank für Ihre Zeit."
"Kein Problem, dann wünsche ich Ihnen gute Besserung." Ein falsches Lachen zierte sein Gesicht.
"Ja, danke, Ihnen auch", stammelte ich. "Also nicht gute Besserung, aber einen guten Tag ... oder so."
"Danke, Ihnen auch, Frau Sapor." Einen letzten Blick erhaschte ich noch auf seine hochgewachsene Statur, bevor die Arzthelferin mich mehr oder weniger aus der Tür schob. Ganz großes Kino, Ayla.

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