Ayla
Nachdem ich meiner Blase Erleichterung verschaffen hatte, wusch ich mir die Hände und prüfte mein Spiegelbild. Ich biss mir auf die Unterlippe. Meine Wangen waren gerötet. Kein Wunder. Ich fühlte mich berauscht. Nicht durch den Cocktail – okay, vielleicht auch – sondern viel mehr durch Milans Berührung eben. Seine Finger, die über meinen Hals gestrichen hatten. Erst sanft, dann bestimmend. Mein Herz wäre beinahe explodiert. Wäre bloß nicht dieser nervige Kellner gekommen. Wobei vielleicht war es nicht schlecht gewesen. Wir befanden uns immerhin noch an einem öffentlichen Ort.
Natürlich hatte ich nicht vor, ihn in aller Öffentlichkeit zu besteigen, aber ich spürte, wie mir Stück für Stück die Kontrolle entglitten war. Wie ich tief in mir gewünscht hatte, er würde fester zudrücken, mich zu sich ziehen und mir ...
Ich schüttelte den Kopf. Die Vorstellungen, die in mir aufkeimten, waren nicht gut. Zu dunkel und erniedrigend.
"Wenig emanzipiert" hatte Fee einmal kommentiert, als ich ihr sekttrunken von meinen Vorlieben erzählte. Nicht in Gänze natürlich.
"Das ist so patriarchal geprägter Pornoshit. Du musst dich davon lösen", hatte sie gemeint. "Oder zumindest mal hinterfragen, warum du darauf stehst?"
Sie hatte Recht. Auch wenn ich mich manchmal gerne diesen Neigungen – heimlich mit dem Vibrator unter der Decke – hingab, schlich sich danach stets ein schlechtes Gewissen ein. Vielleicht sollte ich sie ein für alle Mal verbannen. Jedoch hatte ich das Gefühl, dass meine Verabredung ebenfalls etwas Dunkles umtrieb. Vielleicht war es genau das, was mich an ihm so anzog ...
Meine rechte Pobacke vibrierte.
Ich schreckte auf.
Wieder geistig anwesend, zog ich mein Handy aus der Hosentasche.
Mama leuchtete es mir auf dem Display entgegen.
Ernsthaft? Sie schaffte es auch immer, die ungünstigsten Momente für ihre Kontrollanrufe abzupassen.
Kurz überlegte ich ranzugehen, entschied mich jedoch dagegen. Ich würde mir den Abend nicht vermiesen lassen. Stattdessen tippte ich in mein Handy.Ayla: Kann nicht rangehen. Hab ne Verabredung.
Keine zehn Sekunden später vibrierte es erneut. Kein Anruf, sondern eine Nachricht.
Mama: Eine Verabredung mit einem Mann?
Ich seufzte.Ayla: Ja, mit einem Freund.
Mama: So spät noch?
Ayla: Ja, aber die machen hier gleich zu und wir gehen. Melde mich später.
Mama: Zusammen nach Hause?
Mama: Du lässt den aber nicht zu dir rein, oder?
Mama: Du weißt, dass sowas keinen guten Eindruck macht.
Mama: Du solltest wirklich auf deinen Ruf achten. So findest du nie einen guten Mann. Meint Papa auch.
Sauer schaltete ich mein Handy auf stumm und schob es wieder in meine Hosentasche. Jaja, die guten Männer und alle Frauen waren Schlampen. Ich kannte das Narrativ, das meine Eltern wieder anstoßen würden. Das war doch der wahre patriarchal geprägte Shit, wie Fee es so schön ausgedrückt hatte.
Heute würde ich mich davon nicht runterziehen lassen. Außerdem okkupierte ich ohnehin schon wieder viel zu lange das Bad.
Als ich das WC verließ, stand Milan bereits in seinen Mantel eingekleidet am Eingang.
Nervös schritt ich auf ihn zu. Wie würde es nun weitergehen? Die Spannung, die zwischen uns in der Luft lag, war geradezu tödlich. Eigentlich sollte es nur eine Frage geben: Zu dir oder zu mir?
Oder war das zu schnell? Wütend schob ich den Gedanken beiseite. Hatte es meine Mutter doch wieder geschafft, ihren langen Schatten auf den Abend zu werfen.
"Sorry, dass es ein wenig gedauert hat", murmelte ich entschuldigend.
"Alles in Ordnung?", fragte Milan und hielt mir meinen Mantel hin.
Überrascht sah ich ihn an. War ich wirklich so ein offenes Buch?
"Ach nichts." Ich winkte ab und schlüpfte in meinen Mantel. Sein Blick ruhte weiter aufmerksam auf mir.
"Okay." Ich knickte ein. "Es gibt ein wenig Familiendrama."
"Ein wenig?"
"Ja, bei uns ist immer ein wenig Drama."
Milan verschränkte die Arme. "Klingt auf Dauer nach viel Drama."
Prüfend musterte ich ihn. Mir schien, dass er wusste, wovon ich sprach. Allerdings hatte ich nicht vor, bereits beim ersten Date mein Seelenleben, geschweige denn Kindheitsthemen offenzulegen. Die Konversation zur Hypochondrie war mir schon zu nahe gegangen.
"Wo wollen wir noch hin?", lenkte ich ab, während wir aus dem Restaurant in die kalte Nacht schritten. Ich zog meinen Mantelkragen zusammen.
"Ich fürchte, für mich endet die Nacht heute schon." Sein Blick fixierte mich. "Leider habe ich nicht mehr den Studenten-Rhythmus und die Woche war ziemlich anstrengend." Aus einem unerfindlichen Grund hatte ich das Gefühl, dass dies nur die halbe Wahrheit war. Dennoch versetzte es mir einen Stich.
"Sicher, dass ich dich nicht doch noch überzeugen kann?", säuselte ich.
"Überzeugen wovon?"
Ich überlegte kurz. "Einem Mitternachtsspaziergang vielleicht."
Ein höhnisches Lachen erklang. "Es ist arschkalt."
Mist, er hatte natürlich Recht. Allerdings wollte ich auch nicht, dass sich unsere Wege jetzt schon trennten. Dennoch fühlte ich die Distanz, die plötzlich wieder zwischen uns herrschte. Auch wenn er dicht neben mir stand, fühlte es sich meilenweit entfernt an.
Ob er sich anders überlegt hatte, als ich auf Toilette war? Hatte ich etwas getan, weshalb er das Interesse verloren hatte?
"Ich kann dir ein Taxi rufen", kam es knapp zurück. Sein Gesicht lag in Schatten, jedoch ließ mich das Gefühl nicht los, dass er mich hier gerade subtil abservieren wollte.
Doch so leicht gab ich mich nicht geschlagen. "Und wie kommst du nach Hause?"
Für einen Moment zögerte er, deutete dann auf einen schwarzen Wagen vor uns. "Auto."
Ich lachte auf. "Ernsthaft? Du hast getrunken."
Es folgte ein Schulterzucken.
Meine Augen wurden groß. "Das ist saugefährlich."
"Vieles im Leben ist saugefährlich."
"Wie bitte?", entgegnete ich verständnislos. "Ich meine, das wirklich ernst. Du solltest definitiv nicht mehr fahren. Warum nimmst du nicht auch ein Taxi? Oder wir fahren mit der Bahn?" Zu mir ...
Milan stöhnte. "Dann muss ich den Wagen morgen abholen."
"Ja, und? Für einen Arzt bist du ziemlich gefährlich unterwegs."
Er warf mir einen scharfen Seitenblick zu. "Bin ich das?"
Schweigend betrachtete ich den Wagen.
"Soll ich dir nun ein Taxi rufen?", wiederholte Milan seine Frage.
"Nein, ich komme mit dir." Kurzerhand steuerte ich auf das Auto zu.
"Bestimmt nicht. Du sagtest doch, es ist gefährlich."
"Vieles im Leben ist gefährlich", entgegnete ich mit einem Zwinkern.
"Sehr lustig."
"Du kannst mich gerne zuhause absetzen."
"Ich rufe dir ein Taxi."
"Nein."
"Doch."
"Nein. Wenn du eins rufst, setze ich mich nicht rein."
"Was soll der Kindergarten jetzt? Natürlich setzt du dich rein."
Vehement schüttelte ich den Kopf und rüttelte an der Autotür. "Machst du bitte auf?"
Mit schnellen, lautlosen Schritten stand Milan neben mir. Dichter als eben. Ich spürte prompt, wie meine Atmung beschleunigte. Sein Mantel roch nach teurem, schwerem Aftershave. Doch darunter befand sich ein ganz eigener Duft, sein Duft. Am liebsten würde ich mich näher an ihn schmiegen, um diesen vollständig in mir aufzunehmen.
Er beugte seinen Kopf zu mir runter und verharrte einen Moment. Sein Gesicht war mir so nah, dass ich seinen warmen Atem auf meinen Wangen spüren konnte. Auch wenn ich versuchte, mich zusammenzureißen, konnte ich meinen Blick nicht davonabhalten, zu seinen wunderschön geschwungenen Lippen zu wandern.
"Das ist eine scheiß Idee, Ayla." Die Art, wie sein Mund meinen Namen formte, ließ mich erschauern. Wie sehr wünschte ich mir, dass er ihn im Bett auf genau diese Art in mein Ohr stöhnte.
"Keine Chance", flüsterte ich. "Machst du bitte die Tür auf?" Meine Stimme war leicht und kaum zu hören. Er starrte mich an und für einen Augenblick fürchtete, er würde mich umbringen. Dass diese Finger, die über meinen Hals gestrichen hatten, jemanden töten könnten, bezweifelte ich nicht. Wobei Unsinn, er war Arzt. Er rettete Leben.
In diesem Moment schien er jedoch mit sich zu kämpfen. Wieso sträubte er sich nur so dagegen, die Tür zu öffnen und mich ins Auto zulassen?
"Bitte ..." Es war das magische Wort, dass mit dem richtigen Ton vorgetragen, viele Türen öffnen konnte. Es sollte nicht flehend klingen, aber ich fürchtete, dass meine Augen eine andere Sprache sprachen.
Milan sog scharf die Luft ein und wich zurück. Entnervt stöhnte er auf und lief um den Wagen.
In dem Moment blinkte das Auto und das Schloss klickte. Anscheinend hatte ich den richtigen Ton getroffen.
"Danke", flötete ich und stieg in den Wagen.
"Jaja", erwiderte Milan knapp und setzte sich auf den Fahrersitz.
"Ist das Auto neu?", fragte ich. Es hatte den typischen Geruch eines nagelneuen Mietwagens und war so blitzblank, wie es unsere WG trotz Fees unregelmäßigen, intensiven Putzaktionen niemals aussehen würde.
"Nein, ich mag es nur sauber", entgegnete Milan.
Steril wäre wohl passender gewesen. Vielleicht war doch keine gute Idee, ihn zu uns in die WG zu lotsen.
Milan legte wie ich den Gurt an. "Wo wohnst du?"
"Brahmstraße 17, aber ich kann dir den Weg navigieren", gab ich zurück und blickte aus der Scheibe. Diese war beschlagen.
"Hast du einen Lappen?", hakte ich nach.
Milan hob eine Augenbraue und löste sich von seinem Handy, das bereits die Route zu meiner Adresse zeigte. "Warum?"
"Na, die Scheibe?" Misstrauisch beäugte ich ihn. "Sicher, dass du fahren kannst?"
Den Motor startend brummte er: "Das macht die Lüftung."
Als der weiße Schleier nach einer Minute immer noch undurchsichtig auf dem Glas lag, wandte ich mich wieder an ihn. "Das scheint nicht wirklich zu funktionieren. Hast du ein Tuch im Handschuhfach?" Ich langte nach vorne, als Milan mein Handgelenk packte.
So schnell und plötzlich, dass ich kurz zusammenzuckte.
Sein Blick stach wie ein geschliffenes Messer auf mich ein. "Ich habe hier kein Tuch."
"Wirklich?" Die Frage war aus meinem Mund gestolpert, bevor ich darüber hatte nachdenken können.
"Wirklich." Ein bedrohlicher Klang hatte sich in seine Stimme gelegt. Wahrscheinlich sollte ich ängstlich aus dem Wagen springen und davonrennen, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass er mir weh tun wollte. Allerdings sollte ich ihn vielleicht besser nicht provozieren.
Langsam ließ ich meine Finger sinken, woraufhin er seinen Griff lockerte und mich schlussendlich komplett losließ.
Die Scheibe wurde mittlerweile klar und Milan steuerte den Wagen, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, aus der Parklücke.
"Hast du in dem Handschuhfach eine Waffe?", scherzte ich, um die unangenehme Stimmung aufzulockern.
"Schlimmer."
"Eine Atombombe?"
Auch wenn er es verkneifen wollte, hoben sich seine Mundwinkel. "Genau, ein riesiges nukleares Arsenal wartet da im Fach ..."
"Auf mich?"
Milan warf mir einen amüsierten Seitenblick zu. "Vielleicht."
Ich kniff die Augen zusammen. War das gerade ein Code für seinen Penis? Männer hatten manchmal komische Doppeldeutigkeiten und ich konnte nicht sagen, auf welcher Ebene wir hier gerade kommunizierten.
"Dann sollte ich dich vielleicht besser nicht mehr ärgern."
"Ja, vielleicht solltest du das besser."
Ich schüttelte den Kopf. "O Mann, du hast den Serienmörder-Talk schon gut drauf."
Es kam keine Antwort. Konzentriert blickte er auf die Straße.
"Kannst du eigentlich schießen?", fragte ich, in Gedanken noch immer bei der potenziellen Waffe in seinem Handschuhfach. "Ich durfte einmal mit dem Jagdgewehr meines Opas auf einen Baum zielen." Der Schuss war deutlich danebengegangen und der Lärm hatte mich so erschreckt, dass ich mir schwor, nie wieder eine Waffe anzufassen.
"Nein", kam es als Antwort. Nach einer kurzen Pause sagte er: "Ich kann schneiden."
"Ah." Ich lächelte. "Der verkannte Chirurg."
Milan erwiderte mein Lächeln. Es wirkte jedoch gequält. Ich fragte mich, was in ihm vorging. Es fiel mir so unglaublich schwer, ihn einzuordnen. Was verbarg sich hinter dieser Mauer aus kurzsilbigen Antworten und dem gequälten Lächeln?
Von einem Gefühl des Mitleids hingerissen, ließ ich meine Fingerspitzen über seinen Handrücken streichen, der auf dem Automatikhebel lag.
Prompt spannte sich sein Kiefer an.
Er hatte so schöne Hände. Ich konnte mich nicht gegen die Vorstellungen wehren, wie diese unter den Stoff meiner Kleidung glitten, meine empfindsamsten Stellen berührten, sich in mein Fleisch gruben ...
"Wir sind da."
Ich sah auf. Tatsächlich.
"Wie schnell bist du gefahren?"
Milan entzog sich meiner Hand. "Ganz vorschriftsmäßig."
"Magst du noch mit hochkommen?" Die Frage brannte mir im Hals. Sie war so klischeehaft, aber mir fiel keine kreativere Art ein, ihn zu fragen.
"Ich denke, das ist keine gute Idee."
"Warum nicht?"
Seine indigofarbenen Augen, die in dieser finsteren Nach schon fast ins dunkelgräuliche gingen, bohrten sich in mein Herz. "Weil ich denke, dass das hier generell keine gute Idee ist."
Das hier. Seine Wörter schnitten tiefer als gedacht. Vor allem dafür, dass wir uns gerade einmal das dritte Mal im Leben gesehen hatten.
"Warum?" Meine Kehle war staubtrocken.
Er schnaubte. "Warum? Weil du meine Patientin bist."
Nun war ich es, die höhnisch lachen musste. "Ernsthaft? Das kaufe ich dir nicht ab."
Mit zornigen Funken in den Augen wandte er sich an mich. "Ich denke, das reicht als Grund mehr als aus."
"Warum hast du dich dann überhaupt mit mir getroffen?"
"Das weiß ich auch nicht so recht."
Ich glaubte ihm nicht. Auch wenn ich ihn kaum kannte, war er nicht der Typ, der nicht wusste, was er tat.
"Du solltest eventuell etwas überzeugender lügen", erwiderte ich trotzig. "Also dann war's das jetzt?"
Ein fast schon verzweifeltes Stöhnen erklang. "Ayla. Es ist einfach ..."
Ich hörte ihm kaum mehr zu. Mein Blick war auf das Handschuhfach fokussiert. Bevor er dazwischen grätschen konnte, schnellte meine Hand nach vorne und ich öffnete es.
"Bist du bescheuert?" Seine Stimme hallte durch das Auto und im nächsten Moment knallte das Fach wieder zu.
Doch ich hatte bereits das Medizinfläschchen gesehen. Auch wenn ich die Aufschrift nicht hatte lesen können.
"Nimmst du Drogen?" Ich blickte ihn an, nachdem ich die Frage gestellt hatte, und o Gott, ich wünschte, ich hätte es nicht getan.
Milans gesamte Contenance war wie weggewischt. In seinen Augen loderte es und eine Hand krallte sich um das Lenkrad.
"Raus." Es war ein drohendes Zischen, das mir durch Mark und Bein ging.
Ich wollte einen Laut formen, doch bekam keinen einzigen heraus. Stattdessen erzitterte mein ganzer Körper und schrie, ich solle seinem Befehl folgen. War ich eben noch überzeugt, er würde mir nichts tun, war ich mir nun nicht mehr so sicher.
Mit nervösen Händen löste ich den Gurt und öffnete die Tür. Es brauchte kein weiteres Wort. Sein Blick, seine ganze Erscheinung reichte aus, mich aus dem Auto zu befördern.
Nach Luft japsend stolperte ich hinaus. Verwirrt und voller Fragen blickte ich dem dunklen Wagen nach, der davonbrauste.
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Down our Darkest Paths
HorrorMan sagt, dünn sei die Mauer zwischen Liebe und Hass. Doch wieviel dünner ist sie zwischen Schmerz und Lust ... Als die junge Studentin Ayla in die Praxis von Doktor Degard reinstolpert, ist sie sofort gefesselt von dem attraktiven Arzt. Fast verges...